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Was hält Gesellschaften zusammen?

Was hält heute noch Gesellschaften zusammen? In einer Zeit, in der soziale Gegensätze sich vergrößern, Zuwanderer integriert werden müssen, Parallelgesellschaften schon längst entstanden sind. Wie gehen verschiedene Länder mit Konflikten um, die sich in multikulturellen Gesellschaften nahezu zwangsläufig ergeben? Dies ist der thematische Jahresschwerpunkt der Akademie für politische Bildung in Tutzing. Und "Was hält Gesellschaften zusammen?" war auch die Frage der Tagung, die vergangene Woche dort stattfand.

Von Ingeborg Breuer | 18.10.2007
    Gesellschaften, so führte Professor Richard Münch, Soziologe an der Universität Bamberg in seinem Eröffnungsvortrag aus, brauchen "soziales Kapital". Soziales Kapital, wie es durch Teilnahme möglichst vieler Bürger am öffentlichen Leben gebildet werde - in sozialen Vereinigungen, in Kirchen, in NGOs, in Ehrenämtern.

    "Die sozialen Beziehungen in einer Gesellschaft, die können mehr oder weniger stark oder dicht sein. Oder lose sein, weiträumig sein. Und jetzt kann man sagen, je dichter die sozialen Beziehungen in einer Gesellschaft geflochten sind, ein desto dichtes Netzwerk bildet sich heraus. Das ist die Geschichte moderner, bürgerlicher Gesellschaften gewesen."
    Allerdings sieht Münch die Zukunft nicht allzu optimistisch. Bürgerschaftliches Engagement setzt einen gewissen Wohlstand voraus - die Armen haben genug mit sich selbst zu tun. Die wachsende Ungleichheit aber spalte die Gesellschaft. Gruppenegoismen lassen die Sozialpartnerschaft früherer Zeiten erodieren. Und schlecht integrierte Zuwanderer leben in Parallelwelten an den Rändern der Städte:

    "Deswegen werden wir sicher für längere Zeit mit Ungleichheit, damit verbundenen Konflikten, steigender Kriminalität zu kämpfen haben. Auf absehbare Zeit werden das Hauptprobleme sein, mit denen wir uns zu beschäftigen haben."
    Richard Münch befürchtet eine zunehmende "Versäulung" der Gesellschaft. Voneinander abgeschottete Milieus und ethnische Gruppen lassen die Bürgergesellschaft erstarren, ja auseinander brechen. In etlichen Ländern sei dieses Phänomen bereits zu beobachten. Und so begleitete die Warnung vor einer "versäulten Gesellschaft" die Tagung auch in anderen Vorträgen. Zum Beispiel über die USA. Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten hauptsächlich Europäer in die USA ein. Mittlerweile ist das völlig anders geworden Dr. Rüdiger Wersich, Amerikaexperte an der Universität Frankfurt:

    "Es gibt jetzt eine Vielzahl aus Asien, Lateinamerika, und es ist so, dass die Hispanics, Latinos, inzwischen die Gruppe der Afroamerikaner überrundet haben in ihrer Zahl. Wir haben heute etwa 40 Millionen Hispanics von der Gesamteinwohnerzahl von knapp 300 Millionen."
    In absehbarer Zukunft hat keine ethnische Gruppe mehr eine Mehrheit. In einigen Bundesstaaten wird schon heute mehr Spanisch als Englisch gesprochen. "E Pluribus unum" aus vielem eins - der Wahlspruch der Vereinigten Staaten ist eine schöne Idee. Doch faktisch flüchten Weiße in ethnisch homogene weiße Kleinstädte.

    Manche Latinos wiederum verstehen ihre Migration in die USA als eine Art "Reconquista" ehemaliger eigener Territorien. Konservative wie der Politikwissenschaftler Samuel Huntington befürchten, die protestantische Arbeitsethik der angelsächsischen Amerikaner werde durch das "manana-Prinzip" der Latinos aufgeweicht. Huntington warnt vor einer bikulturellen Gesellschaft und fordert eine Rückkehr zu einer "anglokonformen" Leitkultur. Rüdiger Wersich hält dies für anachronistisch:

    "Die Entwicklung ist da, wir müssen mit der Situation umgehen und das Beste draus machen. Das bedeutet, gewisse Grundregeln einhalten. Und dabei ist wichtig die Bildung und Ausbildung der Einwanderer, damit sie die gleichen Berufschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Dann ist wichtig die Einhaltung gewisser Verfassungsgrundsätze, die alle Gruppierungen einhalten, und dann kann ein faires demokratisches Zusammenleben realistisch sein."
    Optimistische Töne bezüglich des gesellschaftlichen Zusammenhalts vernahm man dagegen aus Kanada, aus dem "anderen Amerika", wie Kanada sich im Hinblick auf seinen großen Nachbarn gern nennt. Trotz seiner komplizierten ethnischen Mischung praktiziere das Land eine weitgehend erfolgreiche Multikulturalismuspolitik, führte Prof. Dr. Rainer Olaf Schulze, Kanadaexperte an der Universität Augsburg aus:

    "Die kanadische Gesellschaft besteht aus einer weißen Mehrheitsgesellschaft, zusammengesetzt aus einer anglophonen und einer frankophonen Bevölkerungsgruppe in unterschiedlichen Regionen des Landes. Und sie besteht aus einer Vielzahl von bis zu 100 verschiedenen Völkern, die 32 Millionen ausmachen, unter denen auch die eigentlichen Ureinwanderer leben, das was man bei uns die Eskimos nennt, die Inuit und die Indianer, denen es aber in der 300 Jahren weißer Dominanz außerordentlich schlecht gegangen ist."
    Der kanadische Multikulturalismus basiere darauf, dass die jeweiligen Eigenheiten der unterschiedlichen Bevölkerungsteile weitgehend anerkannt werden. Sikhs dürfen etwa selbst als Polizisten ihren Turban tragen, Musliminnen bis auf weiteres in der Burka wählen gehen. Und die Ureinwohner können Jahrhunderte zurückliegende Landansprüche wieder geltend machen. Eine vitale Bürgergesellschaft?

    Schulze: "Das hängt damit zusammen, dass man sich nicht versäulen muss, um sich selber die kulturelle Identität zu bewahrt, wie das in anderen Ländern der Fall ist. Dadurch, dass die Mehrheitsgesellschaft von Anfang an sagt, ich akzeptiere dich in deiner Gruppe, in deiner Verschiedenheit, indem sie das tut, schafft sie gleichzeitig die Voraussetzung dafür, dass die aus den verschiedenen Gruppen bereit sind, sich in bestimmten Aspekten des Zusammenlebens bereit sind, sich da zu integrieren und zu engagieren."
    Erziehung und Sprachförderung seien ein weiterer wesentlicher Aspekt für den Zusammenhalt der kanadischen Gesellschaft. Und Bildung und Sprachvermittlung galt natürlich auch in anderen Vorträgen immer wieder als Erfolgsrezept, die Ausgeschlossenen in die Gesellschaft hereinzuholen. - Und was hält die kleine Schweiz zusammen, in der ja immerhin vier Sprachen gesprochen werden? "Lust auf Verschiedenheit" - freilich vornehmlich der Eidgenossen untereinander. Denn dies verkleinere letztlich die Probleme, die man miteinander habe könne, führte Prof. Dieter Freiburghaus aus Lausanne aus - und:

    "Es ist die friedliche, das heißt unkriegerische Lösung von Konflikten und die ungefähre Berechenbarkeit dessen, was künftig geschehen wird. In der Tat, in einer solchen Gesellschaft lässt sich leben, da kann man das Saatgut aufheben, statt es zu essen."
    Frieden, Stabilität und sichere ökonomische Verhältnisse sind gewiss eine Voraussetzung dafür, dass Gesellschaften zusammenhalten. Selbst in Malaysia, wo Chinesen, Inder und Malaien durchaus nicht konfliktfrei zusammen leben, sei die Einsicht in den gemeinsamen bescheidenen Wohlstand ein Grund dafür, dass die Gesellschaft nicht auseinander breche, führte Dr. Rüdiger Korff von der Universität Passau aus.

    Man stellte fest, dass viele Länder ähnliche Probleme haben - und ähnliche Ideen, wie damit umzugehen sei. Bildung, Sprachkompetenz, mehr soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Stabilität - gar das Bestehen auf einer Leitkultur? Ideen, die leichter formuliert als realisiert werden können. Und dennoch: die Politik ist gefordert. Denn dass Gesellschaften zusammenhalten, wurde auf der Tagung klar, ist keineswegs so selbstverständlich, wie man normalerweise glaubt.