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Was wusste Roosevelt von Katyn?

Das Massaker von Katyn, bei dem 1940 mehr als 20.000 polnische Offiziere, Polizisten, Beamte und Intellektuelle vom sowjetischen Geheimdienst ermordet wurden, belastet bis heute die Beziehungen zwischen Polen und Russen. Jetzt geben die USA Dokumente frei, die den Blick auf den damaligen US-Präsidenten Roosevelt verändern könnten.

Von Sabine Adler | 10.09.2012
    Mitnichten litt Marcin Bötner-Zawadzki in den letzten Wochen unter schlaflosen Nächten. Er fieberte auch keineswegs dem heutigen Montag entgegen. Der Vorsitzende der polnischen Föderation der Katyn-Familien schaut vielmehr skeptisch durch seine dicke Brille, weil er vermutet, dass der wichtigste Teil der Dokumente längst bekannt ist:

    "Ein Teil der Papiere, insbesondere die sogenannten Madden-Dokumente, sind vor vielen Jahren veröffentlicht worden. Man darf davon ausgehen, dass das die interessantesten waren, denn sie enthielten Aussagen von Augenzeugen der Verbrechen von damals."

    Für die Historiker aber beginnt die nächste Etappe: Ab heute werden auf einem Internetportal des State Departments Links zu finden sein, die zu Dokumenten führen, die verschiedene US-Ministerien, diplomatische Vertretungen der USA, die Armee und der Geheimdienst zur Verfügung gestellt haben. Dazu private Schriften der Präsidenten Roosevelt, Truman und Eisenhower.

    Marcin Zawadzki, der heute in dem schönen alten Stadtteil Zolibor in Warschau lebt, hat bei dem Massaker 1940 seinen Vater verloren. Lech Bötner-Zawadzki war Unteroffizier der Reserve, vor dem Krieg Direkter der Getreidebörse. Zehntausende von polnischen Offizieren, Priestern, Lehrern, sind damals in einer wochenlangen Hinrichtungsaktion ermordet worden. Über die Verbrechen an weißrussische Opfer, die es ebenfalls gegeben haben soll, sind nur Bruchstücke bekannt. Vermutlich Angehörige des sowjetischen Geheimdienstes KGB haben die Internierten von drei Lagern mit Pistolen einzeln erschossen und dann in Massengräbern verscharrt. Warum – das hat die Sowjetunion nie erklärt.

    Die polnischen Angehörigen der Ermordeten wollen endlich die ganze Wahrheit wissen, vor allem, weshalb sie über Jahre und Jahrzehnte vertuscht wurde. Einen wichtigen, vielleicht entscheidenden Teil, was in Katyn geschah, erfuhr die Welt mitten im Kalten Krieg, 1952, nachdem eine amerikanische Kommission unter Leitung von Ray John Madden ihren Bericht vorstellte, der Zeugenaussagen zu den Massenerschießungen zusammengetragen hatte. Unter dem Titel: "The Katyn Forrest Massacre" stand zum ersten Mal schwarz auf weiß, dass es die Sowjets verübt hatten.

    Dass die heute in Washington überreichten Dokumente die große Wende herbeiführen, das Verbrechen noch einmal neu erzählt werden muss, glauben die Hinterbliebenen nicht.

    Marcin Zawadzki: "Die Dokumente stammen aus unterschiedlichen Institutionen und diplomatischen Vertretungen. Vermutlich geben sie uns Antwort auf solche Fragen, warum zum Beispiel die Zeugenaussagen von damals nicht veröffentlicht wurden. Wahrscheinlich klären sie solche Fragen."

    Beobachter erwarten, dass die Dokumente den Blick auf den seinerzeit agierenden US-Präsidenten Roosevelt verändern könnten. Hatte er längst gewusst, worüber Polen und die Welt noch rätselten, dass es die Sowjets waren, die den Massenmord verübten und nicht die Deutschen, wie es noch Jahre und Jahrzehnte später spekuliert und wie es den Nazis allseits zugetraut wurde?

    Hatte Roosevelt geschwiegen, sich die Vorwürfe gegen die UdSSR und Stalin verkniffen, weil er auf die Rote Armee an der Seite der Alliierten nicht verzichten wollte? Ist der damalige polnische Außenminister in den USA, Jan Ciechanowski, deshalb immer wieder gegen eine Wand gelaufen?

    Für die Angehörigen der Opfer wäre das ein durchaus interessanter Aspekt, von noch größerer Bedeutung ist jedoch, was sich in russischen Archiven befindet.

    Marcin Zawadzki: "Jeder Schritt, der mehr Klarheit bringt, geht in die richtige Richtung, aber wir rechnen nicht damit, dass auch die Russen ihre Dokumente zugänglich machen. Das entscheiden nur sie. Wenn jetzt allerdings die Amerikaner Dokumente zu Katyn veröffentlichen, dann folgen vielleicht bald die Engländer. Und so gibt es einen kleinen Schritt nach dem anderen und selbst die Russen machen sie. Irgendwann werden vielleicht alle Geheimnisse dazu gelüftet sein."

    Nach dem Flugzeugabsturz über Smolensk vor gut zwei Jahren war die Hoffnung auf die Öffnung der russischen Archive freilich sehr viel größer.

    2010 hatte der damalige Premier Putin der Opfer von Katyn gedacht, Andrej Waidas gleichnamiger Film lief zwei Mal im russischen Fernsehen, obwohl er vorher in den Kinos nicht gezeigt wurde. Kurz: Ein Einlenken war in Sicht. Leider wurde die Erwartung einmal mehr enttäuscht. Als Gorbatschow zu Beginn der Perestroika und später auch Jelzin das Verbrechen von Katyn zugab, hegten Marcin Zawadzki und die anderen Mitglieder der Opferinitiative durchaus zum ersten Mal ernsthafte Hoffnungen, die Wahrheit zu erfahren. Für den russischen Interimspräsidenten Medwedjew war aber die Ankündigung, die Dokumente nun endlich zugänglich zu machen, nur eine weiteres seiner vielen nicht eingelösten Versprechen.

    Die polnische Föderation der Katyn-Familien wird heute in einer Erklärung in Washington auf der vollen Wahrheit bestehen. Wer hat sie verschwiegen, lautet die wichtigste Frage der Angehörigen, die sie in Washington beantwortet haben wollen.