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Weckruf für Baden-Baden

Im 19. Jahrhundert galt Baden-Baden als die beliebteste Sommerresidenz des europäischen Adels und Treffpunkt von Literaten. In Tom Peukerts Auftragsarbeit "Comédie russe" streiten sich zwei russische Komödienautoren um den richtigen Blick auf die Welt. Der Autor konfrontiert einen snobistisch-distanzierten Ivan Turgenjew mit dem Spieler, Säufer und Gottsucher Fjodor Dostojewski.

Von Christian Gampert |
    "Das Haus ist wunderschön, ein richtiges Bilderbuchtheater. Aber das ist eben Lust und Last zugleich, dass es so schön ist und so reich an Stukkatur. Natürlich gibt es dann manchmal den Effekt, dass das Publikum, das in das 'schöne' Theater geht, auch eine bestimmte Erwartungshaltung davon hat, was in diesem wunderbaren Theater stattzufinden hat und auch, was da nicht sein sollte."

    Es ist in der Tat ein kleines Hoftheater, das man da - etwas verspätet - 1862 in Baden-Baden gebaut hat, die Formen des Barock und des Rokoko aufgreifend, mit mehreren Emporen, Karyatiden und viel Plüsch, von dem Unternehmer Max Grundig Anfang der 1990er Jahre großzügig renoviert. Aber gefällige Inszenierungen liegen der jetzt in der dritten Spielzeit amtierenden jungen Intendantin Nicola May fern: Sie konfrontiert das traditionell überalterte Baden-Badener Publikum mit modernen Stoffen und hat als neue Sparte ein überaus erfolgreiches Kinder- und Jugendtheater mit eigener Spielstätte etabliert, das auch die aufs Sparen erpichte Kommunalpolitik zu schätzen weiß.

    1867, das Theater war also gerade gebaut, soll es in Baden-Baden zu einer Begegnung zweier Russen gekommen sein, die ausnahmsweise nicht Millionäre und Müßiggänger, sondern Schriftsteller waren: Ivan Turgenjew und Fjodor Dostojewski. Baden-Baden, Hauptstadt einer luxurierenden Décadence des 19.Jahrhunderts, und die Literaturgeschichte: Stoff für ein Theaterstück natürlich - Nicola May hat das gesehen und als Auftragsarbeit an den Berliner Dramatiker Tom Peuckert vergeben.

    Peuckert konfrontiert einen snobistisch-distanzierten Turgenjew erwartungsgemäß (wie auch anders?) mit dem Spieler, Säufer und Gottsucher Dostojewski, und der Regisseur Volker Hesse treibt das Spiel der Gegensätze noch weiter, indem er die zur Tatzeit fast gleich alten Schriftsteller schon vom Alter her unterschiedlich besetzt: Der silbergraue Wolfgang Hinze gibt mit Grandezza den Aristokraten Turgenjew, der ungestüm junge Sebastian Mirow macht aus Dostojewski einen obdachlosen, ziemlich ausgeflippten APO-Literatur-Junkie.

    Baden-Baden ist auch heute noch die Stadt mit der größten Millionärsdichte in Deutschland, offenbar auch im Theater. Das an der Garderobe ausgeliehene Hörgerät kann man aber getrost ausschalten: schon zu Beginn brüllt der Dostojewski des Sebastian Mirow Unflätiges von der Empore, während Hinzes Turgenjew ihn als "betrunkenen Volksversteher" abkanzelt und dem Volk den Geruch von Kohlsuppe und Fußschweiß attestiert. Später schmeißt Alt-Hippie Dostojewski dann beim Roulette gewonnene Geldbündel gleich taschenweise unter den heutigen Baden-Badener Geldadel - das hat Ironie, auch wenn der Schauspieler gleich danach einen epileptischen Anfall markieren muss, sich wie Rainald Goetz die Stirne ritzt oder wie Hans Holbeins Jesus im Grabe liegt, wo er allerdings von einem nackten Frauenbein wieder auferweckt wird.

    Der Spielplan der Intendantin Nicola May wird auch das Baden-Badener Publikum aufgeweckt haben: Neben der Kurzfassung von "Shakespeare's sämtlichen Werken" steht eine Kohlhaas-Version von Michael Miensopust, eine Dramatisierung der melancholischen Männergespräche "Am Hang" des virtuosen Schweizer Autors Markus Werner und "Das Fest" nach dem Dogma-Film von Thomas Vinterberg - ein Stück über den sexuellen Missbrauch in der Familie und das jahrelange Schweigen darüber. Das war eine kritische Phase, sagt die Intendantin.

    "Vor den Sommerferien gab es mal so eine Phase, da hatten wir einen deutlichen Rückgang von Abonnenten, wo ich gedacht habe, vielleicht geht es eben doch nicht, dass man versucht, die Leute dazu zu verführen, sich mit einer anderen Ästhetik und anderen Stoffen auseinanderzusetzen. Vor der Premiere vom 'Fest' hatte ich ein bisschen Sorge und hab gedacht: Ist das richtig, noch einen Schritt weiter zu gehen, oder sollte man nicht eher nach hinten korrigieren. Und dass uns diese Aufführung gelungen ist und vom Publikum so bestätigt wurde, das ist einfach ein wahnsinnig erleichterndes und mutmachendes Gefühl."

    In der "Comédie Russe”, dem Dostojewski-Turgenjew-Stück von Tom Peuckert, sieht man neben vielen schwarzen Gedanken und bösen Dialogen auch manch seltsame Schauspieler-Posen - aber sie sind eben auch schutzlos, allein vor dem Vorhang und dann in der leeren Bühne. Der Schluss ist leider plakativ und misslungen: Dostojewski verspielt seinen Kopf, den seine Geliebte (oder ist es die Turgenjews?) wie Salomé triumphierend hochreißt. Aber zwischendrin war das ein feinnerviges psychologische Kammer-Exerzitium - mehr nicht, aber doch: immerhin!