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Weiß: Staat muss Armut verhindern

Die sinkenden Realeinkommen von Geringverdienern ist nach Ansicht von Gerald Weiß, Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Bundestag, eine besorgniserregende Entwicklung. Die Politik habe mit einer Ausweitung des Entsendegesetzes auf weitere Branchen reagiert. Außerdem wolle man das Mindestarbeitsbedingungsgesetz aus den 50er Jahren verbessern, um im Bedarfsfalle zu einem Mindestlohn zu kommen, sagte der CDU-Politiker

Gerald Weiß im Gespräch mit Christian Schütte | 26.08.2008
    Schütte: Die Schere zwischen arm und reich geht in Deutschland zunehmend auseinander. Dies ist vielleicht keine ganz neue Erkenntnis. Arbeitsmarktexperten warnen seit längerem davor; Betroffene klagen dementsprechend. Eine Studie der Universität Duisburg-Essen untermauert nun diese Entwicklung mit Zahlen. Die Forscher haben die realen Löhne, also inflationsbereinigt, von 1995 bis 2006 untersucht.
    Mitgehört am Telefon hat der CDU-Politiker Gerald Weiß, Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Bundestag. Guten Tag, Herr Weiß!

    Weiß: Guten Tag, Herr Schütte.

    Schütte: Wir haben es gehört. Die Einkommensschere in Deutschland geht auseinander. Eine Lehre aus der Studie müsste also lauten, die Politik betreibt eine ungerechte Arbeitsmarktpolitik.

    Weiß: Nun ist diese Entwicklung, die wir ja tatsächlich mit Sorge beobachten, Ergebnis von Marktprozessen. Die Globalisierung spielt dort mit. Da spielt die relativ rasche Öffnung unserer Arbeitsmarktgrenzen nach Mittel- und Osteuropa mit, ein verschärfter Wettbewerbsdruck gerade im Dienstleistungssektor, Dumpinglohn-Prozesse und vieles andere mehr. Die Politik schläft ja nicht. Wir haben beispielsweise, indem wir jetzt das Entsendegesetz für weitere Branchen geöffnet haben - für die Gebäudereiniger haben wir es schon vor eineinhalb Jahren gemacht, für die Postdienstleister im vergangenen Jahr -, im Grunde einen branchenbezogenen Mindestlohn dort ermöglicht oder werden ihn ermöglichen, wo wir diese Probleme haben. Das ist eine differenzierte Antwort auf ein differenziertes Problem. Dort wo wir nicht ausreichende Tarifstrukturen haben, werden wir das so genannte Mindestarbeitsbedingungsgesetz aus den 50er Jahren aufmöbeln, um zu einem Mindestlohn im Bedarfsfalle zu kommen. Also die Politik schläft nicht, sondern sie antwortet auf das Problem.

    Einen allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn halte ich für problematisch. Was will die Chemie-, was will die Pharmaindustrie, was will der Maschinenbau mit einem gesetzlichen Mindestlohn?

    Schütte: Herr Weiß, das ist genau das, was die Arbeitsmarktexperten jetzt fordern, nicht den ich sage mal Flickenteppich an Mindestlöhnen, den wir im Moment haben oder zu erwarten haben, sondern genau das: ein bundesweit einheitlicher Mindestlohn für alle Branchen.

    Weiß: Gut. Und da hat beispielsweise unser Nachbarland keine gute Erfahrung gemacht. Der Nobelpreisträger Solo hat gerade in einer großen Untersuchung unter anderem neben vielem anderen nachgewiesen, dass der recht hohe allgemeine gesetzliche Mindestlohn in Frankreich Beschäftigung gekostet hat. Das ist ein grober Hammer, der keine differenzierten Steuerungen ermöglicht. Wir sagen, differenziert dort branchenbezogener Mindestlohn nach Entsendegesetz oder Mindestarbeitsbedingungsgesetz, wo wir ihn brauchen, weil der Lohnfindungsmechanismus zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht mehr richtig funktioniert oder gar nicht funktioniert.

    Schütte: Nun ist in keinem anderen europäischen Land der Niedriglohnsektor so stark gewachsen wie in Deutschland. 2006 haben 22 Prozent, also fast ein Viertel der Beschäftigten, niedrige Löhne bekommen. 1995 waren das noch 15 Prozent. Das, sagen die Experten, die die Studie herausgebracht haben, hat genau die Ursache in den fehlenden Mindestlöhnen und in anderen europäischen Ländern - Sie haben zwar gerade Frankreich als negatives Beispiel angesprochen - stellen sie fest: Dort wo man den bundesweit einheitlichen Mindestlohn hat, da ist der Niedriglohnsektor auch nicht so stark.

    Weiß: Wir bereiten ja diese erweiterte Mindestlohngesetzgebung von den Branchen, die wir vorab insoweit geregelt haben, ja jetzt erst vor. Die Gesetze kommen ja jetzt ins Kabinett und ins Parlament. Insoweit können wir jetzt nicht Ergebnisse vorwegnehmen, die wir erst in der Zukunft haben können.

    Schütte: Wünschen Sie sich denn zum Beispiel, dass der umstrittene Punkt Zeitarbeit, dass die Zeitarbeitsbranche auch unter das Entsendegesetz fällt?

    Weiß: Augenblicklich brauchen wir das deshalb nicht, weil die Zeitarbeit einen sehr, sehr hohen Organisationsgrad hat. Über 90 Prozent der Zeitarbeitnehmer sind sozusagen von Tarifverträgen erfasst. Aber im Zusammenhang mit der Öffnung des Arbeitsmarktes, mit der völligen Freizügigkeit im Jahre 2011 beziehungsweise 2013 in der Europäischen Union könnten wir Dumpinglohn-Druck bekommen und spätestens dann muss man über die Einbeziehung, denke ich, der Zeitarbeit in eine Mindestlohnregelung reden.

    Schütte: Herr Weiß, Mindestlohn ist das eine; eine andere Möglichkeit wäre, Besserverdienende stärker zu besteuern und dafür Geringverdiener zu entlasten und Steuern und Abgaben zu senken.

    Weiß: Da muss man sich vor einem einseitigen Urteil hüten. Wir nehmen die Besserverdienenden ganz schön an die Kandare und melken sie unter den Bedingungen der kalten Progression, wie man das nennt, wirklich ganz erheblich. Ich sage Ihnen jetzt einmal, dass 27 Prozent der Beschäftigten, also ein gutes Viertel, der Bestverdienenden, der gut und Bestverdienenden, das oberste Viertel der Verdienenden, 80 Prozent der Einkommenssteuer speisen. Von 100 Euro mehr hat bereits der Durchschnittsverdiener noch nicht mal 50 Euro nach Steuern und Abgaben. Das ist die Wirkung des Hineinwachsens in die Progressionsbesteuerung. Also wir nehmen die Besserverdienenden ganz schön her und das muss auch Grenzen haben, wenn man die Leistungsgerechtigkeit mit im Blick behalten will.

    Schütte: Und wie wollen Sie Geringverdiener im Gegenzug entlasten?

    Weiß: Das allerwichtigste ist, dass keiner in Armut fällt. Das ist die Aufgabe des Staates zu verhindern, dass Menschen sozusagen in die Armut rausfallen. Da hat die Regierung einiges getan, was sich scheinbar noch nicht herumgesprochen hat. Wir haben das Wohngeld erhöht. Wir haben den Kinderzuschlag wesentlich verbessert, der verhindert, dass man wegen der Kindererziehung, weil man Kinder hat, in Sozialgesetzbuch-II-Leistungen abstürzt. Wir werden das Kindergeld sicher erhöhen, den Kinderfreibetrag. Also da ist sehr vieles geschehen oder wird in absehbarer Zukunft geschehen. Und man hat ja für diejenigen, deren Einkommen nicht ausreicht, ein anständiges Leben zu fristen, die Möglichkeit der Aufstockung des eigenen Lohneinkommens auf ein existenzsicherndes Einkommen mit Hilfe von Leistungen des Arbeitslosengeldes II geschaffen, die so genannten Aufstocker, die übrigens, wenn sie Vollzeitverdiener sind, eher eine geringe Zahl sind. Es geht im Wesentlichen um Teilzeitjobber und Minijobber.

    Schütte: Gerald Weiß (CDU), Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Weiß: Ich danke Ihnen.