Köhler: Herr Pollmer, die Frage an den Lebensmittelchemiker: auf dem Höhepunkt der BSE-Krise saßen wir einmal in einer öffentlichen Diskussion beisammen und ich entsinne mich gut an die besorgte, naiv klingende aber letztendlich doch verständliche Frage 'darf ich jetzt noch eine Markklößchensuppe essen'. Wie ist es jetzt mit dem Frühstücksei?
Pollmer: Im Grunde genau das gleiche: Sie können gewisse Risiken nicht ausschließen, das ist die Nummer eins. Nummer zwei ist: wenn es speziell um einen Stoff geht - wir haben es mit Tausenden von Stoffen zu tun und einen Stoff gibt es, der Nitrofen heißt - dann ist das Frühstücksei nach vorliegenden Daten (da ist uns aber nur eine Auswahl angeboten worden, die tatsächlichen Daten kriegen wir ja gar nicht) sofern man unterstellt, dass sie stimmen, dann würde das bedeuten, dass von diesen Dingen für niemanden ein nennenswertes Risiko ausgeht. Wenn Sie allerdings die ganz am Anfang genannten Zahlen nehmen, die für das Getreide veröffentlicht worden sind, dann wäre durchaus ein Risiko beim Verzehr von belastetem Getreide verbunden, wenn man es zum Beispiel zu Müsli verarbeitet hätte oder ähnliches, für schwangere Frauen, weil dieser Stoff in geringer Dosis sich im Tierversuch als missbildungserzeugend erwiesen hat. Die anderen Wirkungen sind eher zu vernachlässigen und da machen auch höhere Belastungen nichts aus. Aber wenn man sechs Milligramm pro sechs Kilogramm Getreide findet, dann ist die Sicherheitsspanne weg und damit ist natürlich ein Risiko nicht zu leugnen. Das heißt deshalb noch lange nicht, dass jetzt alle missgebildete Kinder bekommen oder so.
Köhler: Bei tierischen Lebensmitteln Gefahr nein, bei Getreideprodukten ja - kann man es auf so eine Formel bringen?
Pollmer: Man muss allerdings dazusagen: wir haben keine Ahnung, was mit diesem Getreide gelaufen ist und es tauchen immer wieder neue Lieferungen aus dieser Halle in Malchin auf. Da muss also irgendwo eine Anlage sein, die dafür sorgt, dass diese Belastungen reinkommen. Ich kann mir das alles offen gestanden nicht erklären; ich verstehe vor allem nicht, warum man, wenn man feststellt, dass Getreide belastet ist, nicht als altererstes darüber nachdenkt, auch Proben bei Getreide zu ziehen, das auch in anderen Bereichen zu untersuchen, dass man sich also nicht nur um Futtermittel kümmert sondern auch um Lebensmittel. Ein Futtergetreide ist normalerweise zum Backen nicht geeignet, also bei Brot hätte ich da im ersten Moment kein Risiko gesehen, aber man kann so was prinzipiell auch zu Müsli verarbeiten und dieser Sache hätte man von vornherein gleich nachgehen sollen. Und ich habe bis heute auch hierzu keine Daten und mir hat plötzlich eine Vertreterin eines Länderministeriums gesagt, das hätten sie leider vergessen zu prüfen. Und da frage ich mich manchmal auch: wo ist da der Sachverstand? Da sind so viele hochbezahlte schlaue Leute und auf die naheliegendsten Ideen, die ihnen zur Not jeder Bauer sagen kann, kommen diese Experten nicht.
Köhler: Einer Ihrer Kollegen, der Wissenschaftspublizist Michael Miersch, schreibt in der Welt unter einem Debattenbeitrag, alles sei giftig, es sei am Ende nur eine Frage der Konzentration. Lassen Sie uns auf diesen publizistischen Aufregungsteil, Sie sprachen am Anfang auch vom Wandel von den Zusicherungen hin zur Verunsicherung, noch einen Moment zu sprechen kommen. Die Gefahr hieß mal BSE, jetzt heißt sie Nitrofen. Gibt es so was wie, ich nenne es jetzt mal einen wissenschaftsinduzierten Alarm? Denn über Fett und Magersucht, Alkohol und Nikotin sagt keiner mehr, das sei eine dramatische Situation, wenn davon zu viel konsumiert wird.
Pollmer: Das ist so eine Sache. Auf neue Risiken reagieren Menschen naturgemäß empfindlicher. Und das ist eine natürliche Reaktion, die ich ihnen auch gerne zugestehen möchte. Die Hysterie, die bei BSE entstanden ist, entstand nicht unbedingt wegen der Gefahr, dass da ein paar wahnsinnige Kühe rumrennen sondern das war das dumpfe Empfinden, dass da ein paar Wahnsinnige in jenem politischen Bereich tätig sind, die eigentlich für unsere Sicherheit verantwortlich sind.
Köhler: Das 'Kartell des Schweigens'.
Pollmer: Jetzt überlegen Sie mal - gerade bei BSE fand vor unseren Augen, vor unserer Haustür in Großbritannien im Zeitlupentempo der Ausbruch einer Massenepidemie, einer Seuche statt. Aber im Zeitlupentempo. Zehn, fünfzehn Jahre haben wir zugesehen und sinnigerweise erklärt, dass die Erreger davonlaufen, sobald sie deutsches Territorium erreichen, weil sie Angst vor unseren Gesetzen haben. Jetzt überlegen Sie mal, was glauben Sie, was passiert, wenn wir hier eine Seuche einschleppen, durch den Ferntourismus, durch Ware, durch Austausch von tierischen Produkten und so weiter, wenn wir eine Seuche einschleppen, die nicht eben zehn oder fünfzehn Jahre braucht, um ein Land zu durchseuchen, sondern wo das Ganze in acht Wochen oder in drei Monaten passiert. Was glauben Sie, wer wird da in Berlin in der Lage sein, oder auch in Brüssel, hier den Verbraucher zu schützen? Und das ist das, was auch einen Fachmann dazu verleiten kann, mal den ein oder anderen hysterischen Gedanken zu haben und dann verstehe ich, dass Menschen so reagieren. Wenn man das natürlich runterbricht auf das rein BSE-bezogene Risiko ist dieses BSE-Risiko für den Verbraucher gering. Aber das Seuchenrisiko als solches ist damit für alle sichtbar geworden und das verunsichert. Bei Nitrofen ist es genau das gleiche: es werden tolle Sicherheitsversprechen gemacht, alles geprüft, jeder Sack Getreide muss dokumentiert werden, wenn er aus biologischem Anbau stammt, es ist alles nachvollziehbar, es kommt aus deutschen Landen und der deutsche Bauer und der deutsche Raiffeisenmitarbeiter und so weiter ist natürlich logischerweise, weil er deutsch ist, ehrlich und nun stellt sich heraus, das geht ganz normal zu wie in einem ganz normalen Geschäft - vor allem wenn nachher keiner aufpasst. Und wenn ich jetzt hergehe und beginne, das gegen das Rauchen zu kalkulieren, dann muss ich sagen, der Verbraucher weiß beim Rauchen ganz genau, was Sache ist. Aber er weiß es bei Lebensmitteln nicht, merkt nur, dass man ihn hinters Licht führt.
Köhler: Ein letztes: von Verschwörungstheorien halten sie nichts?
Pollmer: Ehrlich gesagt nicht, ich möchte aber nicht sagen, dass es nicht vorkommt, dass sich drei Leute absprechen und sagen 'wir wollen auf eine bestimmte Weise Geld verdienen, die nicht ganz legal ist'.
Köhler: Der Lebensmittelchemiker und Publizist Udo Pollmer zum Nitrofenskandal und über belastete Lebens- und Futtermittel.