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Welche Konsequenzen zieht die Politik nach Erfurt?

06.05.2002
    Lange: In Erfurt soll für die Schülerinnen und Schüler des Gutenberg-Gymnasiums heute der Unterricht wieder aufgenommen werden; in einem anderen Gebäude, so dass sie den Schrecken nicht ständig vor Augen haben. Aber dieser Neubeginn wird ihnen trotzdem schwer genug fallen. Dafür sitzt der Schock noch viel zu tief. Dabei bemühen sich die Parteien, politische Konsequenzen des Massakers von Erfurt zu ziehen. So soll das Waffenrecht nochmals verschärft werden; daran sind sich alle einig. Heute beraten die Staatssekretäre der Innenministerien über die Details, und am Abend kommen die Ministerpräsidenten der Länder mit dem Bundeskanzler zusammen, um die Initiativen zu erörtern. Eine dieser Initiativen kommt aus Niedersachsen und ist vom dortigen Justizminister Christian Pfeiffer vorbereitet worden. Er ist nun am Telefon. Herr Pfeiffer, das Mindestalter für den Verkauf bestimmter Waffen und Munition soll erhöht werden. Ist das mehr als der übliche Aktionismus der Politik nach derartigen Schockereignissen?

    Pfeiffer: Nein, das liegt schon deswegen nahe, weil wir damit im Hinblick auf die gefährlichste Gruppe reagieren, die wir in unserer Bevölkerung überhaupt haben, und das sind nun mal die 18- bis 21-jährigen Männer. Wenn Sie die Kriminalstatistik anschauen, keine Gruppe liegt so hoch wie diese bei der Gewaltkriminalität. Aber auch in ganz anderen Belangen sieht man ihre mangelnde Stabilität, z.B. beim Autofahren. Keine Gruppe verursacht im trunkenen Zustand so viele tödliche Verkehrsunfälle. Also ist es richtig, dieser Gruppe zu sagen: Habt Verständnis dafür, dass wir euch noch nicht wie Erwachsene behandeln, weil es bei euch doch eine relevante Minderheit gibt, die in Gefahr ist, das, was man ihr einräumt, zu missbrauchen; habt deswegen Verständnis dafür, dass wir das Alter auf 21 heraufsetzen, zu dem ihr selber Waffen kaufen könnt.

    Lange: Heißt das, dass für Sie dieser Täter in Erfurt nicht nur ein krasser Sonderfall war, sondern vielmehr in seiner psychologischen Struktur für eine bestimmte Gruppe junger Leute steht?

    Pfeiffer: Wir müssen einfach registrieren, dass wir in dieser Altersgruppe eine gewisse - ich sage es übertrieben - Krise der Männlichkeit haben, denn viele von ihnen wachsen auf mit Tagträumen, mit Idolen, die den Macho-Filmen entlehnt sind. So ein Kerl, der sich mit Gewalt, mit der Waffe in der Hand durchsetzt, das ist der bewunderte Typ, dem möchte man gleichen. Nur, wenn sie die Augen aufmachen, dann ist die Alltagsrealität völlig anders: Da soll man teamfähig sein, da soll man kommunikativ sein, akzeptieren, dass eine Frau Vorgesetzte ist. Viele kommen mit dieser Diskrepanz zwischen Träumen, den alten Archetypen von Männlichkeit und dem, was heute vom normalen Mann im Alltag verlangt wird, gar nicht so gut klar. Sie sind frustriert, verunsichert, und sie sind dann schon in Gefahr, sich zusammenzuschließen, sich die Köpfe abzuscheren und irgendwelche gefährlichen Glatzköpfe im Sinne der rechten Ideologie zu werden oder andere Dummheiten zu begehen. Es ist nun mal die Risikogruppe Nr. 1; freilich - Gott sei Dank -, so verrückt, wie es in Erfurt gelaufen ist, planen das ganz wenige, aber Waffen in den Händen dieser Altersgruppe sind immer ein Problem.

    Lange: Nun besitzen junge Leute bereits legal Waffen. Sollen sie die künftig abliefern müssen?

    Pfeiffer: Richtig. Bei denen, die 18 bis 21 jetzt sind, muss man darüber nachdenken, dass man ihnen sagt: Tut uns Leid, wir müssen euch auffordern, diese Waffen, wenn ihr sie im Schützenverein gebraucht und es sich um großkalibrige Waffen handelt - ich rede ja nicht von Luftgewehren -, müsst ihr sie im Stahlschrank eures Sportvereins unterbringen. Denn da lagern ja die ganzen Waffen, die ohnehin ähnlich sind und den Vereinen gehören. Aber Sie sprechen schon etwas Wichtiges an, was wir uns von der Landesregierung aus überlegt haben: Es gibt ja das Hauptproblem der illegalen Waffen bundesweit, und das soll heute Abend auch diskutiert werden.

    Lange: Das war meine nächste Frage. Es gibt ja auch illegalen Waffenbesitz. Wie wollen Sie dem beikommen?

    Pfeiffer: Ich denke, auf der einen Seite müsste man noch härter rangehen und die Strafen für den illegalen Waffenbesitz weiter verschärfen, denn das ist das eigentliche Problem. Gleichzeitig, denke ich, braucht die Bevölkerung ein Signal, denn viele besitzen diese Waffen, ohne dass sie damit kriminelles Zeug machen wollen. Sie sind ihnen irgendwie zugewachsen, da ist jemand in der Familie gestorben, und die unmittelbaren Erben haben es ihnen gegeben, weil sie damit nichts tun wollen, usw. Diesen Menschen sollten wir sagen: Über einen Zeitraum - ich erfinde mal drei Monate - könnt ihr gefahrlos, straffrei eure Waffen abgeben. Entwaffnet euch! Das wäre das Signal an die Bevölkerung, denn es sollen angeblich 15 bis 20 Millionen illegale Waffen in Deutschland sein. Wenn es gelingt, all diejenigen, die gutwillig sind und sich unbehaglich fühlen, deutlich zu machen: Wenn ich die Waffe weiter behalte, und durch Zufall kommt es raus, komme ich ins Gefängnis. Da will ich sie doch lieber loswerden, aber wie denn? Im Garten vergraben? Nein, zu irgendeiner staatlichen Behörde bringen. Wir müssen da einen großen Appell an die Bevölkerung richten, so ähnlich, wie das bei anderen Aktionen gelaufen ist. Erinnern Sie sich im Kosovo, wo man den Männern gesagt hat: Entwaffnet euch, der Bürgerkrieg ist vorbei. Das haben tatsächlich Tausende gemacht. So etwas könnte auch in der Bundesrepublik großen Erfolg haben.

    Lange: Das war ein Aspekt. Jetzt wird wieder verlangt, dass Jugendliche besser betreut werden, von Psychologen, sozialen Diensten, usw. Andrerseits sind gerade solche Einrichtungen von den Sparkünsten der Länder und Kommunen besonders schwer mitgenommen. Ist da die Politik nicht reichlich unglaubwürdig?

    Pfeiffer: Unglaubwürdig ist ein hartes Wort, aber sie muss die Prioritäten richtig setzen. Zukunftsinvestition Jugend muss die oberste Priorität in unserem Staat einnehmen, denn das ist unser kostbarstes Gut. Wir sind kein Land mit Bodenschätzen und anderen Reichtümern. Unsere Reichtümer sind die Köpfe, und dann müssen wir, wenn wir das erkennen, entsprechend reagieren, die Schulen stärken, damit sie all das leisten können, was wir ihnen jetzt zumuten, nicht nur Wissensvermittlung, sondern soziales Lernen in der Schule, Früherkennung von Problemkindern, richtige Reaktionen organisieren. Dazu brauchen Sie angedockt Hilfe von außen, damit Sie das wahrnehmen können, und das setzt ein Umsatteln voraus, das setzt eine neue Priorität in der Jugend- und Schulpolitik voraus.

    Lange: Wie optimistisch sind Sie, dass das jetzt nicht nur ein Strohfeuer ist, was ein paar Monate nach Erfurt anhalten wird und auch den Wahlkampf noch überdauert?

    Pfeiffer: Ich wäre sehr optimistisch, wenn die Medien ihrer Verantwortung in spezifischer Weise gerecht werden. Mein Vorschlag wäre, dass in einem halben Jahr und in einem ganzen Jahr die Medien gezielt alle Politiker, die große Ankündigungen gemacht haben, ihre Äußerungen im O-Ton vorhalten und sagen: Was ist daraus geworden? Wir bleiben diesmal hartnäckig. Wir sind den Opfern von Erfurt schuldig, dass diesmal nicht nur geredet, sondern auch wirklich gehandelt wird. Wenn die Politiker das wissen, wir werden alle gefragt, es wird uns vorgehalten, bewirkt das vielleicht mehr als jetzt, wo sie Interviews geben, in Berichtserstattungen vorkommen und dann doch alle gemeinsam zur Tagesordnung übergehen.

    Lange: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio