Sonntag, 19. Mai 2024

Möglicher Einmarsch in Gaza
Welche Risiken eine israelische Bodenoffensive birgt

An Israels Grenze zum Gazastreifen stehen Panzer und Soldaten für eine mögliche Bodenoffensive in dem Palästinensergebiet bereit. Nach einer Mobilmachung sind 300.000 Reservisten in Bereitschaft. Alles deutet auf eine Bodenoffensive hin. Doch welche Risiken würde sie mit sich bringen? Ein Überblick.

12.10.2023
    Nach einem israelischen Luftangriff, sieht man am 11. Oktober 2023 in Gaza-Stadt Menschen zwischen zerstörte Gebäude und Trümmer im Stadtteil Jabalia.
    Israel antwortet auf die Terrorangriffe der Hamas zunächst mit Luftschlägen. (picture alliance / AA / Mustafa Hassona)

    Wie wahrscheinlich ist eine Bodenoffensive?

    Ein Armeesprecher sagte am Donnerstag, eine Entscheidung über einen solchen Einsatz sei noch nicht getroffen worden. Die Streitkräfte warteten eine politische Entscheidung ab und bereiteten sich auf den Einsatz am Boden vor. Neben weiteren Luftangriffen seien auch kombinierte Angriffe aus der Luft und vom Meer aus denkbar, hieß es weiter. Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert eine Quelle aus israelischen Sicherheitskreisen, die eine Bodenoffensive "unvermeidlich" nannte. Diese sei "wegen des hohen Preises, den wir gezahlt haben, nicht zu verhindern", sagte die Person, die namentlich nicht genannt werden wollte.
    Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch der Leiter der Politikabteilung der Universität Bar Ilan bei Tel Aviv, Jonathan Rynhold: "Dies ist ein ganz entscheidender Moment für Israels Abschreckung", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. "Und im breiteren Sinne für die Abschreckung des Westens gegen Terrorismus." Es sei wichtig, auch dem Erzfeind Iran und der libanesischen Schiitenorganisation Hisbollah zu zeigen, "dass Israel bereit ist, das Leben seiner Soldaten zu riskieren, um die inakzeptable Bedrohung seiner Zivilisten zu beenden". Israel müsse "sehr, sehr hart gegen die Hamas vorgehen - sonst wird es mehr solcher Attacken auf das Land geben, und nicht nur aus Gaza, sondern auch von anderswo".
    Giora Eiland, ehemaliger Leiter des israelischen Nationalen Sicherheitsrates, sagte der Nachrichtenagentur Reuters: "Die Regierung zögert noch immer, eine solche Initiative zu ergreifen, weil sie viele, viele weitere israelische Opfer mit sich bringen könnte." Beim rund dreiwöchigen Einmarsch 2008 verlor Israel neun Soldaten. Im Jahr 2014 stieg die Zahl der getöteten Soldaten auf 66.

    Welche Risiken birgt ein Einmarsch?

    Die letzte große Bodenoffensive Israels im Gazastreifen hatte Mitte Juli 2014 begonnen - zehn Tage nach Beginn massiver Luftangriffe. Der bewaffnete Konflikt dauerte insgesamt fast zwei Monate. Damals war das Ziel nicht die komplette Zerstörung der Hamas, sondern vor allem deren unterirdischen Tunnelsystems, das auch Angriffen auf Israel diente. Von Ägypten aus verlaufen unzählige Tunnel unter der Grenze zum Gazastreifen. Das israelische Militär spricht von "Gaza-Metro". Das Tunnelsystem ermöglicht der Hamas ein schnelles Auf- und Untertauchen. Zudem wird davon ausgegangen, dass die Tunnel auch zum Schmuggeln von Waffen benutzt werden.
    Die Hamas verfügte nach israelischen Schätzungen vor dem Angriff auf Israel über rund 30.000 Kämpfer. Rund 1.500 Mitglieder der sogenannten Nakba-Einheit sind nach israelischen Angaben bei der Attacke in Israel getötet worden, Hunderte weitere in Gefangenschaft. Gegenüber 2014 soll die Hamas nun besser ausgerüstet sein, unter anderem durch die Unterstützung aus dem Iran.
    Israel hat zwar eine viel größere Armee, doch in den engen Gassen des Gazastreifens, der zu den am dichtesten besiedelten Regionen der Welt gehört, könnte die Hamas in einem Straßenkampf ihre Ortskenntnisse gegen das israelische Militär ausspielen. "Der Häuserkampf gehört mit zu den schwierigsten und kompliziertesten Operationsarten", sagte Militärexperte Carlo Masala den Funke-Zeitungen. Für beide Seiten und auch die Zivilbevölkerung dürfte es sehr blutig werden. Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München.
    Zur Zeit bombardiert das israelische Militär den Gazastreifen aus der Luft, teilweise entstehen auf den Straßen große Explosionskrater. Durch das Zerstören nicht nur von Gebäuden, sondern auch von Straßen soll wohl der Minengefahr begegnet werden. Bewohner berichten, dass die israelischen Streitkräfte bei ihrem Einmarsch häufig neue Routen für ihre Fahrzeuge planierten, um Landminen auf den bestehenden Straßen zu vermeiden.

    Wie reagiert Hisbollah?

    Ein weiteres Risiko ist die Reaktion der Schiitenorganisation Hisbollah. Sie hat im Libanon großen Einfluss und gilt als enger Verbündeter des Irans, ist militärisch gut ausgerüstet und mit dem jüdischen Staat verfeindet. Dass die USA einen Flugzeugträger, Kriegsschiffe und mehrere Kampfflugzeuge ins östliche Mittelmeer nahe Israel verlegen, wird von Experten als deutliches Warnsignal an die Hisbollah-Iran-Achse gewertet, sich aus dem Konflikt herauszuhalten.
    Bereits in den vergangenen Tagen gab es mehrere kleine Gefechte mit Raketen an der Demarkationslinie. An der sogenannten blauen Linie patrouillieren seit Jahren auch bewaffnete Soldaten der UNO-Beobachtermission Unifil.
    "Wir sehen den Versuch der Hisbollah, einen Zwei-Fronten-Krieg zu eröffnen", warnte Militärexperte Masala. Die Frage sei, ob die Entsendung des Flugzeugträgers "USS Ford" sowie weiterer amerikanischer Kriegsschiffe abschreckend genug auf den Iran und die Hisbollah wirke, um diese zweite Front im Falle einer israelischen Bodenoffensive nicht aufzumachen.

    Was passiert mit den Geiseln?

    Zum Dilemma der israelischen Armee gehört, dass eine Bodenoffensive auch das Leben der rund 150 Geiseln gefährden würde, die von der Hamas nach ihren Angriffen in den Gazastreifen verschleppt wurden. Die meisten von ihnen sind Zivilisten, darunter auch fünf deutsche Staatsbürger. Aber auch Soldaten befinden sich in der Gewalt der Hamas. Die Hamas könnte während einer Bodenoffensive weitere Soldaten entführen, um diese bei künftigen Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch als Druckmittel zu verwenden.

    Weiterführende Informationen

    In unserem Newsblog zum Angriff auf Israel finden Sie einen Überblick über die jüngsten Entwicklungen.
    Diese Nachricht wurde am 12.10.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.