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Welche Strategie verfolgt Ministerpräsident Sharon?

    Meurer: Kein Tag vergeht in Israel und in den Palästinensergebieten ohne Blutvergießen. Am Samstag schossen Terroristen auf israelische Gäste eines Hotels, später ging eine Bombe in einem Café hoch. Die Bilder gingen um die Welt wie auch Aufnahmen um die Welt gehen von israelischen Panzern und Kampfhubschraubern, die in palästinensische Flüchtlingslager eindringen. Vor der Sendung habe ich mit Avi Primor gesprochen, dem ehemaligen israelischen Botschafter in Deutschland, und ihn zunächst gefragt, ob er selbst Angst für sich und seine Familie hat.

    Primor: Nein, nicht wirklich. Wissen Sie, man lebt normal. Der Alltag sieht normal aus und es ist ein wenig so wie in Deutschland, wenn man von Autounfällen hört. Dann weiß man, wie schrecklich es ist. Man ist empört, aber man lebt weiter ganz normal wie vorher.

    Meurer: Liegt das daran, dass Sie in Tel Aviv leben und nicht in Jerusalem?

    Primor: Der größere Teil meiner Familie lebt in Jerusalem. Ich bin sehr oft in Jerusalem. Es ist genauso. Ich meine, wenn es nicht um Grenzgebiete geht.

    Meurer: Sie selbst, Herr Primor, haben vor Monaten gesagt, offenbar muss alles noch viel schlimmer werden, damit endlich wieder verhandelt wird. Ist es jetzt schlimm genug?

    Primor: Weiß ich nicht. Das werden wir in den kommenden Tagen erfahren. Das muss nicht unbedingt so sein. Es kann immer noch schlimmer werden. Ich würde jedoch sagen, dass nicht nur die Israelis und die Palästinenser schon genug davon haben, sondern ich glaube auch, dass die Amerikaner sich zu bewegen beginnen und das kann natürlich entscheidend sein.

    Meurer: Wie viel Einfluss haben die Amerikaner denn in der jetzigen Situation noch?

    Primor: So viel wie sie wollen. Bisher haben sie wenig Einfluss gehabt, weil sie sich nicht einsetzen wollten, weil sie sich nicht einmischen wollten. Sollten sie sich einmischen, dann können sie alles bewegen. Sie haben alle Macht, wenn sie diese nur benutzen wollen.

    Meurer: Dass Sharon jetzt ein wenig einlenkt und zum Beispiel sagt, es muss nicht unbedingt sieben Tage Feuerpause geben, ist das auf das Verhalten Washingtons zurückzuführen?

    Primor: Zum Teil ganz bestimmt. Er spürt, dass die Amerikaner ihre Geduld verlieren, um so mehr jetzt, wo sie ein bisschen Ruhe im nahen Osten brauchen, vielleicht vor einer Offensive im Irak. Auf jeden Fall steht bevor ein Besuch des Vizepräsidenten Cheney in den arabischen Ländern und dazu braucht Washington ein bisschen Ruhe im nahen Osten. Was weiter geht wissen wir noch nicht. Inwieweit sie sich einmischen wollen und etwas erzwingen wollen, ist vorerst noch ganz unklar. Es gibt aber auch Druck von der israelischen Bevölkerung. Sharon hat sehr viel an Popularität verloren. Das deuten die Meinungsumfragen an. Die Spaltung innerhalb der israelischen Bevölkerung ist tiefer geworden.

    Meurer: Von wem kommt der Druck in der israelischen Bevölkerung, von denen die sagen, es bringt alles nichts, wir müssen mehr verhandeln, oder kommt der Druck nicht genauso von der rechten Seite?

    Primor: Sie haben Recht, genauso von der rechten Seite, also von beiden Seiten. Deshalb habe ich von einer tieferen Spaltung in der israelischen Bevölkerung gesprochen. Im linken Lager, also in dem gemäßigten Lager, bewegt sich endlich etwas. Die gemäßigten, die noch vor ein paar Wochen sagten, wir haben keine Alternative, wir haben keine andere Möglichkeit als die, uns zu verteidigen, und insofern unterstützen wir Sharon, sind unsicherer geworden. Die zweifeln jetzt an Sharon. Das rechte Lager sagt, man soll härterer schlagen, man soll die palästinensische Autorität zerschmettern. Also von beiden Seiten!

    Meurer: Wie sehen Sie denn im Moment die Strategie von Ministerpräsident Ariel Sharon? Ist es eine Doppelstrategie, Härte zeigen, gleichzeitig jetzt aber doch etwas Verhandlungsbereitschaft?

    Primor: Ja, genau so, weil ich glaube, dass er unbedingt Ergebnisse braucht. Sollte er entweder durch härter Maßnahmen oder durch Verhandlungen etwas Ruhe einleiten können, dann wird seine Popularität wieder steigen. Er hat ja Sicherheit versprochen und das konnte er nicht halten. Darum geht es heute. Sonst verliert er die Macht, zunächst seine eigene Partei und dann die Wahlen.

    Meurer: In Deutschland, Herr Primor, dort wo Sie Botschafter gewesen sind, wächst seit einigen Monaten die Kritik an Israel. Der ehemalige Außenminister Klaus Kinkel spricht zum Beispiel von einer fast israelfeindlichen Stimmung, die er in der Bevölkerung und den Wahlkreisen wahrnimmt. Wie sehr bedrückt Sie als ehemaliger Botschafter Ihres Landes solch ein Meinungswandel?

    Primor: Der ehemalige Außenminister Klaus Kinkel weiß genau wovon er spricht, den wir wirklich als einen ganz ehrlichen Freund Israels betrachten. Er versteht, was dort wirklich schief läuft. Ich würde sagen, dass die Kritik an Israel nicht nur in Deutschland wächst, sondern überall, auf jeden Fall in ganz Europa, etwas weniger in den Vereinigten Staaten, aber in der freien Welt insgesamt. Die Frage ist nur, ob die Deutschen sich auch eher äußern sollen oder nicht, genau wie die anderen. Ich glaube, dass echte Freunde ihre Meinung äußern sollten. Natürlich muss das ausgewogen sein. Natürlich muss man beide Seiten verstehen. Man muss auch die Bevölkerung verstehen, die unter Terror leidet wie keine andere Bevölkerung in der Welt. Man muss verstehen, dass Menschen verzweifelt sind. Aber wenn die israelischen Streitkräfte in ihren Vergeltungsmaßnahmen übertreiben, soll man das auch sagen. Die Hauptsache ist, dass man eine Politik kritisiert und nicht ein Volk, nicht ein Land, nicht eine Bevölkerung.

    Meurer: Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. - Danke Ihnen Herr Primor und auf Wiederhören!

    Link: Interview als RealAudio