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Welthauptstadt des Bernsteins

Danzig steht für die polnische Freiheitsbewegung Solidarnosc und die Baukunst der Hansestädte. Aber auch für das sogenannte Gold der Ostsee. Danzig ist die Welthauptstadt des Bernsteins: Rund 2000 Firmen in der Region leben vom steinernen Baumharz.

Von Adalbert Siniawski |
    Ein frischer Wind. Das Meer spült unablässig Gischt an den Ostseestrand. Auf der kleinen Insel Wyspa Sobieszewska in der Nähe von Gdañsk spazieren einige wenige Menschen am Wasser entlang. Eine Dame – Mitte 50, die Restbräune des Sommers im Gesicht – trägt um den Hals zwei Ketten aus unzähligen gelben Bernsteinen. Für die Danzigerin ist das steinerne Baumharz nicht nur Schmuck.

    "Ich kaufe regelmäßig Bernsteinbröckchen und mache daraus ein Heilwasser. Man nimmt 200 Gramm Bernstein, 60-prozentigen Spiritus und lässt die Mischung zwei oder drei Wochen lang stehen. Die Lösung bekommt dann eine wunderschöne goldene Farbe. Wenn Sie Migräne haben oder Schmerzen, massieren Sie ihre Schläfen mit ein paar Tropfen ein. Oder sie nehmen das Bernsteinwasser zum Tee. Es funktioniert! Ich empfehle das sehr! Bernsteine sind wunderschön, man muss sie tragen. Sie verbreiten eine gute Energie."

    Eine junge Frau spaziert vorbei, mit ihrer Tochter an der Hand. Beide richten den Blick auf den Boden, auf die vielen weißen Muscheln und bunten Steine im Wasser. Liegt dazwischen irgendwo ein kleiner Brocken Ostseegold?

    "Wir sind keine Experten, wir sind nicht von der Küste. Manchmal findet man ein kleines Stückchen. Mein Mann hat mir neulich ein Steinchen mitgebracht, das glänzt wunderbar – aber ob das wirklich Bernstein ist? Schwer zu sagen."

    Eine Antwort gibt in der Werkstatt von Zbigniew Strzelczyk. Er ist Bernsteinmeister – einer von nur sechs in ganz Polen. Die Werkstatt liegt etwa 15 Kilometer von der Insel entfernt, am Ufer der Mottlau in der Altstadt von Danzig, ganz nah am berühmten Kranentor. Im Vorderraum der Werkstatt befindet sich eine kleine Galerie, in der Strzelczyk und seine Frau kunstvolle Ketten, Broschen und Ohrringe verkaufen. Im Hinterzimmer werkelt der Bernsteinmeister. Seine grau melierten Haare und die dicke Hornbrille verleihen ihm zusätzlich eine Aura des Experten.

    "Oft fragen mich die Kunden in der Galerie: Wie kann ich feststellen, ob es echter Bernstein ist? Nun, es gibt zwei schnelle Tests. Wir schleifen den Stein ganz schnell mit Schleifpapier. Oder wir nehmen einen Bunsenbrenner, erhitzen damit eine Nadel und halten die Spitze an das fragliche Objekt. Wenn man einen schweren, intensiven Geruch von Bernsteinsäure und ätherischen Ölen wahrnimmt, dann ist es echter Bernstein."

    Strzelczyk nimmt einen daumengroßen dunkelbraunen Rohling.

    "So, jetzt mache ich den Brenner an, die Nadel erwärmt sich. Ich mache die Flamme aus und mit der heißen Nadel ... bitte, riechen sie: der Geruch von Harz!"

    Die Wände der Werkstatt zieren eine Hand voll gerahmter Zeugnisse, die Strzelczyk in den letzten drei Jahrzehnten entgegengenommen hat. In der Mitte stehen drei kleine Werkbänke aus Holz, darauf: allerhand Werkzeug. In unzähligen Kisten und Pappschachteln liegen Bernsteine in allen Formen und Farben – von der Größe einer geballten Faust bis zu fingernagelgroßen Exemplaren. Von rötlich schimmernden, über honiggelbe bis hin zu milchweißen Bernsteinen. Und welcher davon ist der wertvollste? Strzelczyk muss lachen, die Frage hört er oft. "Reine Geschmackssache", sagt er.

    "Kunden aus Deutschland wollen vor allem cognacfarbene Bernsteine, weil sie glauben, dass diese Farbe zum echten Bernstein gehört. Na ja, das ist nicht ganz so. Je nach Markt gibt es unterschiedliche Wünsche, was die Form und die Farbe betrifft. Skandinavien bevorzugt man große, einfache, glattpolierte Formen. Die Menschen im Süden mögen eher üppige, ausgefeilte Bernsteine."

    Doch bevor Strzelczyk das Millionen Jahre alte Baumharz als Schmuck in seiner Galerie verkaufen kann, muss es erst einmal gefunden werden. Die richtige Zeit für Bernsteinfischer, die auch mal handgroße Exemplare aus dem Wasser ziehen, beginnt in wenigen Tagen jetzt, erzählt er.

    "Bernstein findet man während der Herbststürme, bei hohen Wellen, November bis März. Mit einem Netz sucht man all die Algen und Stöcken im Wasser ab, dort ist auch der Bernstein. Das ist keine einfache Sache: Man steht bis zum Bauch im Wasser und braucht einen Schutzanzug. Denn nach zwei, drei Minuten im eiskalten Meer ist man bis auf die Knochen durchgefroren."

    Das überlässt Strzelczyk den Jüngeren. Der 61-Jänrige konzentriert sich lieber auf das kunstvolle Bearbeiten des kostbaren Rohstoffes. Nach der Echtheitsprüfung stellt sich immer wieder die große Frage: Birgt der von außen matte Bernstein in seinem Inneren eine Überraschung? Etwas Baumrinde, kleine Insekten, ja sogar Luftkammern mit Wasser von vor mehr als 50 Millionen Jahren hat er in seinem Berufsleben schon entdeckt. Inklusionen, heißen sie in Fachsprache.

    "Das Beobachten der Inklusionen unter dem Mikroskop – wie sie sich in den letzten Augenblicken ihres Lebens verhalten haben, als sie versucht haben, sich aus der Bernsteinfalle, dem fließenden Harz, zu retten – ist fantastisch! Das sind geradezu kriminalistische Untersuchungen an Millionen Jahre alten Lebewesen!"

    Bevor der Meister das Geheimnis dieses Steines lüftet, zieht er eine festliche Baumwolljacke an: vier daumengroße Bernsteinknöpfe, an der Brust eine Brosche mit dem Stadtwappen von Danzig – richtig: ebenfalls aus Bernstein. Strzelczyk schaltet die Schleifmaschine ein und drückt den dunklen Stein vorsichtig an eine rotierende Scheibe.

    "Wir spüren den herrlichen Geruch des Harzes. Nach dem Schleifen sieht man wegen der Risse noch weniger, was innen ist. Ich wechsle jetzt zu einer Polierscheibe und nehme eine spezielle Polierpaste! Man kann nun hineinschauen... da ist ein kleines Stückchen Laub, aber es ist verfault – also keine tierischen Inklusionen, der Bernstein ist praktisch rein. Daraus machen wir eine Brosche. Da kommt noch ein schöner Anstecker aus Silber dran und dann haben wir eine wirklich schöne Brosche."

    Bernsteinschmuck, den es in den unzähligen Galerien und an den Verkaufsständen in der Altstadt von Danzig überall zu kaufen gibt. Rund 2000 Firmen in der Region leben vom Ostseegold. Hier gibt es ein spezielles Museum, die größte Handelsmesse, ja sogar Weltmeisterschaften im Bernsteinfischen. Danzig ist die Welthauptstadt des Bernsteins. Der Ruf gründet auf einer 7000 Jahre alten Tradition, wie archäologische Funde belegen. Auch die alten Griechen und Römer haben in der Gegend nach dem faszinierenden Gut gesucht, als die Stadt Danzig noch gar nicht existierte.

    Heute suchen vor allem Touristen nach einem schönen Schnäppchen. Besonders beliebt sind die Juwelierläden bei den Deutschen, die ihre alte Heimat Westpreußen besuchen. Eine ältere Dame begutachtet durch die Fensterscheibe einer Galerie den ausgestellten Bernsteinschmuck. Dabei umklammert sie mit der rechten Hand durch den Pullover ihre eigene Halskette. Daran hängt ein großer, weiß schimmernder Bernsteinanhänger.

    "Diesen Stein habe ich geerbt von meiner Mutter, das ist schon ein Taufgeschenk gewesen. Und meine Mutter hat in der schweren Zeit nach der Flucht diesen Stein, immer wenn’s ihr schlecht ging, angefasst. Und er hat ihr dann wieder auf den Weg der Besserung geholfen. Also ich mache jetzt hier die Reise, ich freue mich, dass ich hier so viele Kostbarkeiten sehen kann und ich kann diesen Stein gar nicht loslassen, ich laufe immer nur so ... weil: Man denkt halt an sie und das ist einfach schön. Das verbinde ich hiermit."
    NUR FÜR SONNTAGSSPAZIERGANG Bernstein Siniawski
    Siniawski Bernsteinmeister Zbingniew Strzelczyk bei der Arbeit. (Adalbert Siniawski)