Dienstag, 16. April 2024

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Weltkriegsgedenken in Weliki Nowgorod
Erinnerung und Festspektakel

Militärparade, Blumenniederlegung, Ansprachen: Die russische Großstadt Weliki Nowgorod erinnert an die Befreiung von der NS-Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Doch neben dem stillen Gedenken wird auch getanzt, gefeiert und gelacht – nicht allen gefällt das große Spektakel.

Von Thielko Grieß | 21.01.2019
    Tausende Nowgoroder sind bei der Militärparade anwesend
    Tausende Nowgoroder sind zur großen Militärparade gekommen (Deutschlandradio / Thieklo Grieß)
    Die Wegweiser sind aus Holz gefertigt, auf ihnen steht "Leningrad 190 Kilometer", "Minsk 750 Kilometer", "Berlin 1.640 Kilometer". Lateinische Buchstaben, schwarze Schrift: Sie sehen Originalschildern, die Wehrmachtssoldaten aufgestellt haben, sehr ähnlich. Überhaupt geht es hier den ganzen Tag darum, was historisch genau ist, welche Ausschnitte der Geschichte im Licht stehen - und welche nicht.
    "Einfach interessant, diese Installation", sagt Vater Wladimir, der mit seinem Handy seinen zehnjährigen Sohn, auch Wladimir, und seine Frau Valentina fotografiert. Ein Foto zur Erinnerung an einen besonderen Tag, sagt Valentina, als sie sich vom Wegweiser löst. Sofort stellen sich andere an ihren Platz, wieder werden Handys ausgerichtet.
    Eine Familie lässt sich vor den nachgestellen Wegweisern der deutschen Wehrmacht fotografieren
    Eine Familie lässt sich vor Nachbildungen von Wegweisern der deutschen Wehrmacht fotografieren (Deutschlandradio / Thieklo Grieß)

    "Dass sich praktisch die ganze Stadt versammelt, kommt fast nie vor. Ältere Leute, junge Nowgoroder, Kinder, sie kommen alle zusammen, reden nicht über Politik, denken an jene blutigen Tage, wie schwer es für alle im Krieg war."
    Größte Militärparade in der Geschichte der Stadt
    Dass sich heute praktisch alle 220.000 Einwohner im Zentrum und auf dem weitläufigen Gelände des städtischen Kremls versammeln, stimmt sicher nicht. Aber es sind Tausende, aus allen Generationen. Obwohl ein kalter Wind weht und es immer wieder schneit. Die Nowgoroder säumen den Siegesplatz, auf dem die, wie die Organisatoren versichern, größte Militärparade in der Geschichte der Stadt abgenommen wird.
    Mehr als 700 Soldaten verschiedener Einheiten marschieren vorbei. Gefolgt von schwerer, moderner Kriegstechnik – Stolz des heutigen russischen Militärs. Darunter Waffensysteme, die man aus dem staatlichen Propaganda-Fernsehen kennen kann, weil sie dort oft gezeigt werden: Iskander-Raketen, die im Gebiet Kaliningrad stationiert sind und von dort in weniger als fünf Minuten Berlin erreichen könnten. Oder die Flugabwehr S-300, mit denen Russland vor kurzem Syrien aufgerüstet hat.
    Nach der Parade werden Nelken niedergelegt, auf einer Bühne sprechen Funktionäre über die schwere Zeit, als die Nazi-Besatzer Weliki Nowgorod eingenommen hatten. Mehr als 800 Tage lang herrschten hier SS und Wehrmacht; vom alten Nowgorod, einer historischen Hansestadt, die für Russlands Geschichte erstrangig wichtig ist, blieb fast nichts übrig. Die Menschenmenge schweigt, hört zu, klatscht Beifall, zollt den Rotarmisten Tribut – die Sonne, die eben noch ein wenig schien, ist auch verschwunden.
    Feierspektakel statt stilles Gedenken
    Dann aber tanzt plötzlich eine Musikgruppe auf der Bühne, und die Stimmung löst sich. Darüber kann man die Nase rümpfen, weil gleich neben den Tänzern Dutzende sowjetische Soldaten begraben sind. Aber wo sonst darf überhaupt getanzt werden in einer Stadt, deren Zentrum fast gänzlich auf unzähligen Menschenknochen steht?
    Anna Tscherepanowa, einzige Abgeordnete der Oppositionspartei Jabloko im Stadtparlament, findet den ganzen Stil des Gedenktages daneben: "Das ist ein Datum, das eher Nachdenklichkeit verlangt, nicht etwas Festliche, Fröhliches. Das Problem ist, dass wir einen sehr hohen Preis für diese Befreiung bezahlt haben. Natürlich ist es ein Feiertag, aber einer mit Tränen in den Augen."
    Noch vor wenigen Jahren habe die Stadt den Tag ganz anders begangen, erzählt sie. Leiser, nachdenklicher, mit mehr Platz für Trauer. Wer, wie Tscherepanowa, sich auf Facebook weniger Spektakel wünscht, bekommt viele Schmäh-Kommentare. Sie verteidige die Nazis, heißt es. Auch in russischen sozialen Medien gibt es sehr viel Schwarz und Weiß.
    Kinder nutzen den Neuschnee und rodeln auf Schlitten oder dem eigenen Po in den tiefen Graben rund um den Kreml hinab. Eltern stehen oben und rufen ihnen ab und zu "domoj" zu, weil sie nach Hause wollen, haben aber gegen ihren Nachwuchs, der sich noch längst nicht ausgetobt hat, keine Chance. Es herrscht eine unentwirrbare Mischung von Stimmungen mit den Zutaten bitter und süß, Erinnerung, Trauer, Heldengedenken und dem Wunsch, trotzdem Spaß zu haben. Zwischendurch zieht auch ein Dutzend Männer in schneeweißen Wehrmachtsuniformen über das Gelände. Es sind deutsche Kriegsgefangene in den Händen der siegreichen Roten Armee.
    Theaterstück über den Prozess gegen deutsche Kommandeure
    Wenige Meter entfernt wird in der Philharmonie das Theaterstück "Ihr werdet verurteilt" aufgeführt. Deutsche Kommandeure werden ihrer Kriegsverbrechen angeklagt. Der Prozess hat 1947 tatsächlich stattgefunden. Schauplatz war schon damals dieselbe Philharmonie. Staatsanwalt und Zeugen berichten von erschossenen Zivilisten, Frauen und Kinder, von abgebrannten Dörfern: Die ganze rassistische Menschenverachtung der selbst ernannten Übermenschen wird hier verhandelt.

    Die Angeklagten erhalten je 25 Jahre Strafkolonie. Inwieweit der Prozess auch politischen Vorgaben aus Moskau folgte, bleibt unerklärt. Ebenfalls unerwähnt bleibt, dass etliche der Kriegsverbrecher Anfang der 50er-Jahre freigelassen wurden.
    Schwarz-weiß-Fotos aus sowjetischen / russischen Archiven zeigen die 1947 als Kriegsverbrecher verurteilten deutschen Kommandeure
    Fotos aus sowjetischen / russischen Archiven zeigen die 1947 als Kriegsverbrecher verurteilten deutschen Kommandeure (Deutschlandradio / Thielko Grieß)
    Laien spielen Rückeroberung nach
    Am Abend stellen draußen vor dem Kreml aus vielen Landesteilen angereiste Laiendarsteller die Rückeroberung Weliki Nowgorods durch die Rote Armee dar. Es ist ein Fest für Freaks von Kriegstaktik. Der Schnee, durch den die Soldaten robben, bleibt weiß; Blut fließt keines.
    Die Darsteller ziehen bald weiter zum nächsten Einsatz: Sankt Petersburg. Die Stadt feiert am nächsten Wochenende das Ende der Blockade vor 75 Jahren.