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Weltuntergang
Allein mit der Katastrophe

Die Apokalypse dauert schon 200 Jahre: Eva Horn setzt in ihrer lesenswerten Untersuchung zur "Zukunft als Katastrophe" Lord Byrons Gedicht "Darkness" von 1816 als Beginn des modernen Verständnisses von Katastrophen an. Ab hier ist nicht mehr eine höhere Macht für das Unheil verantwortlich, sondern es ist selbst gemacht.

Eine Rezension von Matthias Eckoldt | 25.09.2014
    Hände versuchen, die letzten Sonnenstrahlen des Tages einzufangen.
    Weltuntergangsszenarien liefern immer wieder neuen Stoff für Bücher und Filme. (picture alliance / dpa / Maximilian Schönherr)
    Messbojen im Nordatlantik vermelden drastisch sinkende Wassertemperaturen, ein Zeichen für das Abreißen des Golfstroms. Über der Nordhalbkugel bilden sich drei riesige Wirbelstürme. In Neu Delhi fällt Schnee, in Tokio kommen faustgroße Hagelkörner vom Himmel. Los Angeles wird von Windhosen verwüstet, New York von einer Flutwelle überschwemmt. Tiefer Frost überzieht Nordamerika und Europa.
    Diese Klima-Entwicklung vollzieht sich in dem Thriller "The day after tomorrow" von Roland Emmerich. Für die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn steht dieses Szenario exemplarisch für unser gegenwärtiges Zukunftsverständnis: Es beinhaltet genau das, was in ihrem Fachgebiet mit Dystopie bezeichnet wird. Eine negative Utopie. Sprich: Zukunft als Katastrophe. Das allein ist nicht neu.
    Der Niedergang der Welt
    Auch in vormodernen Zeiten wurde die Zukunft bereits oft und ausführlich als Katastrophe ausgemalt. Im christlichen Verständnis ist mit der Apokalypse der Niedergang der Welt durch das Strafgericht und die Enthüllung einer endgültigen göttlichen Wahrheit verbunden. Das Reich Christi wird kommen und der Kampf des Guten gegen das Böse ein Ende nehmen. Eva Horn verortet den entscheidenden Perspektivwechsel im menschlichen Katastrophenverständnis in der Romantik:
    "Bei Lord Byron in dem berühmten Gedicht 'Darkness' von 1816 verlischt die Sonne und die Menschen sind zum ersten Mal ganz allein mit ihrer Katastrophe. Das ist ein früher Text und einer der allerersten, die Gott eben nicht mehr mit in Betracht ziehen und sagen: Das ist kein Strafgericht, sondern das ist eine rein säkulare Katastrophe. Was sich hier nun zeigt, ist ein Wesenskern des Menschen, der sehr pessimistisch gefasst wird. Bei Byron fallen die Menschen übereinander her, fressen einander auf, und das vielleicht Unheimliche daran ist, dass dieses Szenario einer verdunkelten Welt 2006 noch einmal von Cormac McCarthy aufgegriffen wurde. Und auch hier noch mal ein Mensch vorgeführt wird, der restlos nur noch seinen egoistischen Überlebenstrieben folgt."
    Begehren nach der Katastrophe
    Mit Lord Byrons "Darkness" und Cormac McCarthys "The Road" sind Anfangs- und Endpunkt der Analyse von Eva Horn markiert. 1816 bis 2006. Knapp zweihundert Jahre dauert das moderne Verständnis einer selbst gemachten - und nicht durch höhere Mächte verursachten - Katastrophe demnach bereits an. Die Germanistik-Professorin von der Universität Wien seziert mit beeindruckendem Hintergrundwissen und furioser Sprachhandhabung Schicht um Schicht der Zukunftsvisionen. Dabei sticht ins Auge, dass bei aller Unterschiedlichkeit in inhaltlichen Komponenten, sich immer wieder ein Topos durch die Moderne zieht: Das unausgesprochene Begehren nach der Katastrophe.
    "Fiktionale und imaginierte Desaster scheinen etwas zu bebildern, das wir für möglich, vielleicht sogar für unmittelbar bevorstehend halten, aber zugleich auch nicht vorstellen, nicht greifen können. Das Vergnügen an tragischen Gegenständen hat so eine unheimliche Unterseite, die entziffert werden muss. Ihr ist weder mit dem lässigen Vorwurf des Alarmismus noch mit einem mahnenden "es ist tatsächlich fünf vor zwölf" beizukommen. Die Frage ist vielmehr: Warum schauen Leute fünf vor zwölf so gerne Katastrophenfilme?"
    Wir träumen von der Katastrophe
    Warum also träumen wir von der Katastrophe? Warum träumen wir von unserem eigenen Ende? Zur Beantwortung dieser Frage könnte man die Freud'sche Theorie vom Todestrieb herbeiziehen, doch ein solches Vorgehen liegt Eva Horn fern. Sie misstraut Theorien, die das Wesen des Menschen bestimmen wollen, da sie davon ausgeht, dass die jeweilige Epoche genau jenes Wesen erst hervorbringt. Insofern betreibt sie eine historische Analyse vorliegender Fakten und Fiktionen, aufgrund derer sie die Gegenwart in den Blick nimmt. Im Vorwort ihres gut lesbaren – passagenweise durch ihre investigative Vorgehensweise sogar detektivisch spannenden - Buches findet sie dafür ein beredtes Oxymoron, wenn sie ihr Vorgehen als „historische Gegenwartsdiagnose" bezeichnet:
    "Mich interessiert Geschichte als Vorgeschichte gegenwärtiger Probleme. Und darum geht es. Es geht jetzt nicht um irgendeine Studie zu irgendeinem Problem in der Vergangenheit, sondern jede Epoche erforscht die Geschichte immer mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse, das aus dieser Gegenwart stammt. Die Gegenwart, die ich im Moment um mich herum wahrnehme, ist eine einer hochgradig prekär gewordenen Zukunft, eine Zukunft, für die wir selber verantwortlich sind, aber von der wir zunehmend das Gefühl haben, wir haben sie überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Wir sind aufgerufen, zu planen, Vorsorge zu leisten, Gefahren vorzubeugen, aber wir wissen gar nicht mehr, was diese Gefahren sind und was wir eigentlich tun sollen. Der Blick in die Geschichte hat mir ermöglicht, das Spezifische unserer Jetztzeit genauer festzustellen."
    Wie produktiv diese Vorgehensweise für das Verständnis unserer Gegenwart ist, zeigt Eva Horn in ihrer Analyse des Kalten Krieges. Jene Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch des Kommunismus ist von der Schreckensvision des Atomkriegs überschattet. Demgemäß arbeiten sich die Zukunftsvorstellungen in ausführlich von Eva Horn analysierten Filmen wie "Dr. Strangelove" von Stanley Kubrick an der nuklearen Katastrophe ab:
    "So ist der Letzte Mensch des Atomzeitalters einer, der sein eigenes Ende nicht nur beobachtet, sondern auch sehenden Auges selbst verschuldet. Er taucht im Bild vom Atomblitz nicht auf, weil er auf den Auslöser drückt: Auf den der Kamera wie den der Bombe."
    Eva Horn nimmt dieses nukleare Vernichtungs-Szenario als Vergleichsfolie für unser gegenwärtiges Katastrophendenken:
    "Was wir heute haben ist gerade vor diesem historischen Hintergrund eine Situation komplett diffuser Szenarien. Wir wissen eigentlich gar nicht, was auf uns zukommt. Ist es der Klimawandel? Sind es Ressourcenkrisen? Sind es neue Formen des Krieges? Oder des Terrors? Sind es weltweite globale Epidemien? Wir wissen nicht, was es genau sein wird und wie es sich abspielen wird."
    "Zukunft als Katastrophe" hat philosophische Höhen
    Indem Eva Horn nachvollziehbar macht, wie die monothematischen Katastrophenvorstellungen des Kalten Krieges von einer Art Multioptionalität der apokalyptischen Visionen unserer Gegenwart abgelöst werden, schwingt sich das Buch "Zukunft als Katastrophe" in philosophische Höhen auf. Denn für Momente wird es dem Leser ermöglicht, von sich selbst abzusehen und den Blick auf das zu wenden, was ihn zum Menschen macht: Ein fein gewobenes Netz sozio-kultureller Normen und Diskurse.
    Dahinter aber - und das zeigt der bei Cormac McCarthys "Die Straße" endende Untersuchungsgang von Eva Horn eindringlich - steht der Mensch nackt als jenes Wesen, von dem bereits der Philosoph Thomas Hobbes sagte: Homo homini lupus. Der Mensch als Wolf des Menschen. Anders als im Atomzeitalter jedoch, wo die finale Katastrophe durch ein Gleichgewicht des Schreckens verhindert werden konnte, sieht Eva Horn unsere gegenwärtigen Zukunftsvorstellungen von einem neuen Topos beherrscht.
    Dem des Kipppunktes. Das Perfide an jenen Kipppunkten, die nach neuestem Forschungsstand sowohl in der Klima- wie in Gesellschafts- oder der Finanztheorie zum Tragen kommen, ist, dass sie unvorhersehbar sind. Sie können plötzlich auftreten und das jeweilige System so drastisch verwandeln, dass nichts mehr an seinen Zustand davor erinnert und damit Zukunft als genau das erscheint, was Eva Horn in einer Definition der Versicherung Swiss Re gefunden hat:
    "Zukunft ist das, was sich gravierend vom Gegenwärtigen unterscheidet."
    Obwohl Eva Horn mit ihrem lesenswerten Buch angetreten ist, die Fiktionen und Imaginationen einer Zukunft als Katastrophe zu reflektieren und nicht selbst welche zu entwerfen, entfaltet ihre Analyse durch die virtuose Durcharbeitung der apokalyptischen Motivgeschichte der Moderne selbst alarmistisches Potenzial. Das ist mit das Überraschendste an diesem Buch, das unser Zukunftsverständnis als Spiegel unserer Gegenwart zu sehen lehrt.
    Eva Horn: "Zukunft als Katastrophe"
    S. Fischer Verlag, 480 Seiten, 24,99 Euro