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"Wende in der europäischen Politik"

Der Unions-Europapolitiker Hartmut Nassauer hat sich zufrieden über die Verständigung der EU-Mitgliedsländer auf einen Reformvertrag gezeigt. Das Vertragswerk sei ein "Befreiungsschlag für die Europäische Union". Die EU werde dadurch "handlungsfähiger, demokratischer und transparenter", sagte Nassauer.

Moderation: Gerd Breker |
    Gerd Breker: Mal etwas anderes. Europa ist sich einig. Tief in der Nacht einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf den neuen <li_682786>EU-Reformvertrag<li_682786>. Er enthält die wesentlichen Elemente der allweiland von Franzosen und Niederländern abgelehnten Verfassung. Mit dem Vertrag will sich die auf 27 Länder angewachsene Europäische Union eine neue Rechtsgrundlage geben. Am Telefon begrüße ich nun den Vorsitzenden der Gruppe der Unionsabgeordneten im Europäischen Parlament Hartmut Nassauer. Guten Tag Herr Nassauer!

    Hartmut Nassauer: Guten Tag Herr Breker!

    Breker: Wie groß ist denn der Jubel über die Nachricht aus Lissabon bei Ihnen?

    Nassauer: Ich würde sagen beträchtlich, sehr laut, mit einigen kleinen Krächzern.

    Breker: Und die Krächzer liegen wo?

    Nassauer: Ich will zunächst mal sagen es ist ein Befreiungsschlag für die Europäische Union und wir werden handlungsfähiger, demokratischer und transparenter. Wir haben einige Kröten schlucken müssen, um dieses Ergebnis zu erzielen: Zum Beispiel, dass der Parlamentspräsident, der Präsident des Europäischen Parlaments, kein Stimmrecht mehr haben soll. Das empfinde ich als einen demokratischen Skandal. Ich kenne auch kein Parlament auf dieser Welt, das seinen Präsidenten in dieser Weise kastriert. Ich finde auch, dass das den Wählern des Präsidenten nicht zuzumuten ist, dass sie einen Abgeordneten haben, der nicht mit abstimmen darf. Das finde ich schon als ganz schön störend. Störend ist auch die Ioannina-Klausel. Die ist zwar nur in einer Erklärung enthalten, kann aber nur einstimmig verändert werden, was bedeutet, dass Polen ein immer währendes Vetorecht hat zur Aufrechterhaltung der Sperrminorität, wenn sie knapp ist. Auch das ist betrüblich. Hoffentlich gibt es in absehbarer Zeit eine polnische Regierung, die bereit ist, diesen Widerspruch wieder aufzulösen. Aber abgesehen davon sind die Erfolge wirklich großartig!

    Breker: Und sie sind mehr als gar nichts?

    Nassauer: Aber ganz entschieden! Es ist eine Wende in der europäischen Politik und man kann ganz nüchtern sagen, grundgelegt durch die Arbeit der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr und der Arbeit von Bundeskanzlerin Merkel. So hat sich die Europäische Union noch nie geändert, wie durch diesen Vertrag, der nun auch gute Aussichten hat, in Kraft zu treten und ratifiziert zu werden, denn es scheint so zu sein, dass nur in Irland eine Volksabstimmung stattfindet, nicht in Frankreich, nicht in den Niederlanden und wohl auch nicht im Vereinigten Königreich.

    Breker: Herr Nassauer, man wollte ja mit einer größeren Beteiligung des verkleinerten Europäischen Parlaments dafür sorgen, dass die Europäische Union nicht mehr nur eine Sache der Eliten ist, sondern endlich zu einer Sache der Menschen wird. Leistet das der Lissabonner Vertrag?

    Nassauer: Insofern als die Rechte des Europäischen Parlaments auf seinem wichtigsten Arbeitsfeld, der Gesetzgebung, nun komplettiert werden, entscheidend verstärkt werden. Gesetze gibt es zukünftig in der Regel nur mit dem Europäischen Parlament, zwar auch mit dem Rat, der insoweit die Stellung einer zweiten Kammer hat, wie in Deutschland der Bundesrat. Das Verfahren ist ähnlich wie ein Zustimmungsgesetz zwischen Bundestag und Bundesrat. Aber wie gesagt dieser entscheidende Schritt ist nun auch in Europa getan. Gesetze gibt es grundsätzlich nur mit dem Parlament und nicht gegen das Parlament.

    Breker: Und das wird die Menschen hierzulande für Europa begeistern?

    Nassauer: Ich weiß nicht ob sie das begeistern wird. Da hätte ich eher auch Zweifel. Aber immerhin haben die Bürgerinnen und Bürger jetzt die Möglichkeit, unmittelbar durch die Wahl des Parlaments auf die Gesetzgebung Zugriff zu nehmen.

    Breker: Kann man denn, Herr Nassauer, sagen, dass mit diesem Lissabonner Vertrag der Schock oder der große Brocken, den es zu verdauen galt durch die massive Erweiterung der Europäischen Union, überwunden ist?

    Nassauer: Das kann man sagen. Wir waren in einer konstitutionellen Krise, weil wir es zunächst vor der Aufnahme von zwölf neuen Mitgliedern nicht geschafft hatten, unser Satzungswerk den neuen Verhältnissen anzupassen. Das haben wir nun mit einiger Verspätung, aber in einer guten Form erreicht. Damit ist Europa auf einem neuen Weg.

    Breker: Man wollte ja eigentlich auch einen europäischen Außenminister haben, Herr Nassauer. Das alte Kissinger-Wort "wen soll ich denn anrufen, wenn es um Europa geht", ist das denn nun wirklich beantwortet?

    Nassauer: Ja, die Frage ist beantwortet und wir können Herrn Kissinger die Nummer geben. Ich hatte zufällig das Vergnügen, 14 Tage vorher mit ihm zu reden. Die Nummer gibt es. Es gibt auch einen europäischen Außenminister. Nur darf er offiziell noch nicht so heißen. Aber er wird es in der Sache sein, der Hohe Beauftragte. Das können die Briten nicht verhindern, genauso wenig wie sie verhindern können, dass die europäische Hymne gespielt wird, die europäische Flagge gezeigt wird, auch wenn sie nicht im Vertrag drinstehen.

    Breker: Dieser Vertrag von Lissabon, Herr Nassauer, der ist erst einmal ratifiziert. In welchem Prozedere würden Sie empfehlen, dass man in Deutschland diesem Vertrag zustimmt? Die Regierung reicht, das Parlament reicht?

    Nassauer: So wie es in unserem Grundgesetz steht. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag von der Kategorie her und dazu muss das Parlament Ja sagen mit qualifizierter Mehrheit und ebenso der Bundesrat. Das ist absolut das angemessene Verfahren.

    Breker: Also kein Volksentscheid darüber?

    Nassauer: Der ist bei uns nicht vorgesehen. Wenn es mal eine europäische Verfassung gibt und ein europäisches Volk, das ich gegenwärtig noch nicht zu erkennen vermag, sich eine Verfassung gibt, dann wird man über ein Referendum reden müssen. Aber bislang ist es eben ein Vertrag und keine Verfassung.

    Breker: Herr Nassauer, es gibt ja die alte Diskussion um ein Kerneuropa, was möglicherweise von einer ganzen Reihe von Menschen als die bessere Lösung angesehen wird. Ist jetzt mit diesem Lissabonner Vertrag die Diskussion um ein Kerneuropa vom Tisch?

    Nassauer: Ganz zweifellos wird man zunächst zu erproben haben, wie die Arbeit sich auf der Grundlage des neuen Vertrages gestaltet. Im Übrigen sieht der Vertrag die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit von Staaten vor, die sich dazu entschließen. Im Augenblick brauchen wir aber diese Überlegungen nicht anzustellen.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das Hartmut Nassauer. Er ist der Vorsitzende der Gruppe der Unionsabgeordneten im Europäischen Parlament. Herr Nassauer, danke für dieses Interview.</li_682786></li_682786>