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Wenn die Zeitzeugen gehen

Zeitzeugen der NS-Zeit spielen in der pädagogischen Arbeit immer noch eine große Rolle. Anhand persönlicher Schicksale soll das Grauen der NS-Zeit vermittelt werden. Doch sie werden immer weniger - und einige Historiker plädieren generell dazu, die Art ihres Einsatzes zu überdenken.

Von Johanna Herzing und Melanie Longerich | 26.01.2013
    "Arbeit macht frei" steht über dem Eingang von Auschwitz I. Die Touristen fotografieren eifrig den Schriftzug, der jedoch nur eine Kopie ist. Das Original wird seit dem Diebstahl im Jahr 2009 sicher verwahrt. Pawel Sawicki, Pressesprecher des staatlichen Museums Auschwitz, geht an der Besuchergruppe vorbei, Richtung Büro.

    "Im Grunde genommen vermitteln wir in Auschwitz schon seit ein paar Jahren ohne Zeitzeugen. Nur ein ganz kleiner Teil der Gruppen, die hierher kommen, hat überhaupt die Möglichkeit, mit einem Zeitzeugen zusammenzutreffen."

    Morgen, am 68. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, werden zwar wie jedes Jahr Überlebende des Vernichtungslagers an der Gedenkfeier teilnehmen. Aber sie werden weniger. Das macht sich nicht nur an Gedenktagen bemerkbar. Lange Zeit waren die Überlebenden des Holocaust wichtiger Bestandteil der museums- und geschichtspädagogischen Arbeit. Anhand ihres persönlichen Schicksals sollte das Grauen der NS-Zeit vermittelt werden.

    "Das ist natürlich schmerzhaft und schwer, aber die Leute, die Jugendliche heute durch Auschwitz begleiten können, das waren damals noch Kinder. Da stellt sich natürlich auch die Frage, was genau die ihnen vermitteln können. Das ist durchaus problematisch und wir kommen immer mehr zu dem Punkt, wo so etwas überhaupt nicht mehr möglich sein wird."

    Es sind die heute über 80- und 90-Jährigen, die die nationalsozialistischen Verbrechen als Kinder oder junge Erwachsene miterlebt haben.

    "Ich soll hier eine Rede halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern als ein Zeitzeuge, genauer als Überlebender des Warschauer Ghettos."

    Dass der Publizist Marcel Reich-Ranicki im vergangenen Jahr in seiner Ansprache vor dem Bundestag so selbstverständlich den Begriff des "Zeitzeugen" verwendete, zeigt, wie sehr sich unsere Gesellschaft inzwischen daran gewöhnt hat, dass Geschichte auf diese Weise vermittelt wird. Das war nicht immer so. Der Zeitzeuge, so die Meinung vieler Historiker, traf erst im Jahr 1961 auf breites öffentliches Interesse – damals fand in Israel der Prozess gegen Adolf Eichmann statt, der während der NS-Zeit für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständig war.

    "- "Ich möchte Herrn Dinur in den Zeugenstand bitten. Aus welchem Grund haben Sie Ihre Identität hinter dem Pseudonym KZetnik verborgen, Herr Dinur?"
    - "Das ist kein schriftstellerisches Pseudonym. Was ich geschrieben habe, war eine Chronik des Planeten Auschwitz. Dort war ich etwa zwei Jahre lang. Zeit dort ist anders als hier auf der Erde.""

    Martin Sabrow, der Leiter des Zentrums für Zeitgeschichte in Potsdam, spricht von der - Zitat - "Geburt des Zeitzeugen".

    "Er entsteht eigentlich mit dem Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem, als der Staatsanwalt Gideon Hausner dezidiert Leute in den Zeugenstand rief, die die Atmosphäre dieser schrecklichen Verfolgungszeit in den Gerichtssaal transportieren sollten."

    Dabei ging es dem Staatsanwalt nicht darum, den Angeklagten mithilfe der Zeugen zu überführen, erklärt Martin Sabrow. Das Todesurteil gegen den NS-Verbrecher gründete fast ausschließlich auf dokumentarischem Beweismaterial und nicht auf den Aussagen der Überlebenden. Doch obwohl der Eichmann-Prozess ein medial in alle Welt übertragenes Schlaglicht auf die Berichte der Überlebenden warf - die "Geburt des Zeitzeugen", sie lief schleppend an. Erst in den 1970er-Jahren tauchte der Begriff Zeitzeuge in wissenschaftlichen Texten auf.

    "Wir müssen uns ja auch daran erinnern, dass diese Form von Holocaust-Erinnerung, wie wir sie heute für gegeben halten, ein historisch relativ junges Produkt ist. Das setzt ja erst in den 1980er-/90er-Jahren richtig ein. Bemerkenswerterweise auch in Folge einer Fernsehserie Holocaust und nicht auf der Grundlage historischen Wissens."

    So der Sozialpsychologe Harald Welzer. Der US-amerikanische Film, im Januar 1979 in mehreren Teilen im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, gilt noch heute als erinnerungspolitische Zäsur. Etwa die Hälfte aller Einwohner der Bundesrepublik verfolgte im dritten Programm die fiktive Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Weiß, die zentrale Momente der Shoah widerspiegelt.

    - Hör zu, das sind gute Juden! Vater Arzt, Großvater Weltkriegsteilnehmer ...
    - Wär' besser gewesen, noch ein paar Monate zu warten mit der Hochzeit.
    - Wieso?
    - Man munkelt, dass die Partei Mischehen bald verbieten wird; du wirst Ärger kriegen.


    Zwar traten in dem Fernsehfilm keine realen Personen auf, aber "Holocaust" entfachte eine breite Debatte über diesen Teil deutscher Geschichte und den Umgang mit ihr. Die NS-Zeit und die Frage nach Tätern und Opfern rückten in das öffentliche Bewusstsein. Und auch der Zeitzeuge und sein persönliches Schicksal waren plötzlich gefragt. Die Vergangenheit – so die Kampfansage der Studentenbewegung - soll "aufgearbeitet", sie darf nicht weiter "verschwiegen" oder "vergessen" werden. Doch was in den 1970er- und 80er-Jahren noch ein Akt des Widerstands gegen eine bei den Deutschen weit verbreitete "Schlussstrich-Mentalität" war, ist heutzutage staatlich verankertes Geschichtsbild.

    So wandelte sich der Zeitzeuge vom Kritiker der offiziellen Geschichts- und Erinnerungskultur zu deren Träger und Verfechter. Seine Erzählungen sind geprägt durch die Werte unserer heutigen Gesellschaft. Auch aus diesem Grund begegnen Historiker den Zeitzeugen mitunter skeptisch. Etwa Martin Sabrow:

    "Der Zeitzeuge erzählt nicht das, was war, er erzählt nicht mal das, was er damals in der Erinnerung gespeichert hat. Er erzählt das, was er erinnert vom letzten Mal, als er es erzählt hatte. Und so verändern sich Erinnerungen wie die "stille Post": Sie schleifen sich ab, sie gewinnen narrative Qualität, sie werden zu Erzählungen."

    Zu Erzählungen, die manches auslassen, anderes beschönigen oder im Sinne heutiger gesellschaftlicher Werte umdeuten. Von nahezu unschätzbarem Wert jedoch sind diese Erzählungen für das Fernsehen. Das Medium hat maßgeblich zur steilen Karriere des Zeitzeugen beigetragen. In den 1980er- und 90er-Jahren entwickelt die Redaktion Zeitgeschichte des ZDF unter Leitung von Guido Knopp Geschichtsformate - auch bekannt als Doku-Fiction - in denen historische Themen erstmals massentauglich für die Hauptsendezeiten aufbereitet werden. Für den Historiker Wulf Kansteiner von der amerikanischen Binghampton University funktioniert der Zeitzeuge in diesen Formaten als unentbehrliches, emotionales Bindeglied zwischen Produzent und Zuschauer. Doch der Raum, den Fernsehmacher wie Knopp dem Zeitzeugen früher noch großzügig zugestanden haben, wird immer kleiner.

    "Gerade für das Knoppsche Paradigma gilt, dass die Aussage des Kommentators die entscheidende ist und der Zeitzeuge wird eingepasst. In den meisten Knoppschen Sendungen ist die Hierarchie doch ganz klar aufgestellt, indem der Kommentator das Thema und auch die Bewertung vorgibt und der Zeitzeuge das illustriert und deshalb ganz klar nachgeordnet und untergeordnet eingreift."

    Offensichtlich ein Erfolgsmodell. Doch was geschieht, wenn die unmittelbare Zeitzeugen-Generation, die die NS-Zeit erlebt und den Holocaust überlebt hat, abtritt? Bei dieser Frage gehen die Meinungen der Historiker auseinander. Martin Sabrow:

    "Die jüngst ausgestrahlte Dokumentation zu Paul von Hindenburg hatte sehr viele Zeitzeugen aufgeboten, die dann auch den Fackelzug von 1933 beschrieben und das war dann eben der Enkel von Paul von Hindenburg, in dessen Zügen man auch die Züge des Großvaters meinte ahnen zu können. Und wenn es nicht mehr der Enkel ist, dann ist es der Enkel des Gärtners von Hindenburg oder es ist der Neffe des Enkels des Gärtners von Hindenburg usw. Die Zeitzeugenkultur ist stärker als der biologische Mechanismus des Lebens und des Sterbens."

    Wulf Kansteiner hingegen wendet ein:

    "Die Möglichkeit der Zeitzeugen als dieses emotionale Bindeglied zu funktionieren, geht deshalb verloren, weil die Zeitzeugen diese Funktion medial nur erfüllen können, wenn sie von dem Zuschauer als zeitgenössisch wahrgenommen werden, das heißt, der Zuschauer muss das Gefühl haben: Diese Zeitzeugen, die da auf dem Bildschirm erscheinen, sind Zeitzeugen, die ich auch auf der Straße treffen könnte, die ich anfassen könnte."

    Verteufeln will der Historiker Wulf Kansteiner die populären Fernseh-Geschichtsformate bei aller Kritik aber nicht:

    "Natürlich fehlt diesen Sendungen die Selbstkritik. Und gleichzeitig muss man betonen, dass Zuschauergruppen an das Thema Drittes Reich und Nationalsozialismus über diese Sendungen herangeführt worden sind. Zuschauergruppen, die vielleicht normalerweise kein Interesse an Geschichtsaufklärung hatten."

    Auch die Geschichtslehrerin Petra Zündorf beobachtet das Interesse ihrer Schüler für NS-Dokufictions zum Beispiel über Hitlers Frauen oder die Waffen-SS mit gemischten Gefühlen. Einerseits interessieren sich ihre Schüler, gleichzeitig muss sie im Unterricht vieles wieder gerade rücken:

    "Es geht ja da gar nicht darum, wie Hitler an die Macht kam, dass da irgendwelche Verfassungssachen beleuchtet werden. Sondern es sind ja so Themen wie die SS, also so mystisch verklärte Dinge."

    Auf Wunsch ihrer Schüler hat die 35-jährige Zeitzeugen in den Unterricht am Kölner Gymnasium Rodenkirchen eingeladen – zum ersten Mal. Neugierig betrachten die Abiturienten die drei Frauen, die Mitte 80 sind und im Klassenzimmer Platz nehmen.

    "Ja, ist heute ist ein sehr spannender Unterricht, ich freue mich, dass sie gekommen sind, die Schüler haben sich das sehr gewünscht."

    Ingeborg Tober ist eine der drei. Ihr schlohweißer Pagenkopf wippt, während sie sich mit wachen blauen Augen die Schüler mustert. Sie war gerade sechs Jahre alt, als Hitlers Partei, die NSDAP, mehr und mehr an Einfluss gewann. Sie erzählt von ihren jüdischen Mitschülerinnen, die nicht mit ihr auf die weiterführende Schule wechseln durften und ihrer Zeit als Hilfsschwester an der Front:

    "Ich habe Hitler als Kind einmal gesehen. Und zwar war er in Köln. Wir mussten – wie alle Schüler – auch mit Fähnchen da stehen. Heute, darf ich das einflechten, würde ich sagen, ich kann verstehen, dass die dem alle so nachgelaufen sind. Das war ein sehr charismatischer Typ."

    Dass Zeitzeugen heutzutage in die Schulen gehen, die in der NS-Zeit selbst noch Kinder waren, findet die Historikerin Ulrike Jureit vom Hamburger Institut für Sozialforschung bedenklich. Denn diese Zeitzeugen können nur über ihre Kindheitseindrücke berichten.

    "Natürlich kann man einen Dialog unter Generationen immer für positiv erachten. Aber unter der Frage, was wird da eigentlich für ein historisches Wissen vermittelt, halte ich das für problematisch."

    Der 19-jährige Sebastian Seidensticker hat viele Fragen in sein Heft notiert. Besonders beschäftigt ihn, wie es sein konnte, dass die Bevölkerung damals angeblich nichts von Konzentrations- und Vernichtungslagern gewusst haben will:

    - Sebastian: "Es muss ja quasi die Frage gestellt werden, wenn Leute abgeholt werden, wo gehen die hin?"
    - Zeitzeugin: "Das war alles streng, streng geheim. Rede nicht darüber. Der nächste könnte ja ein Spitzel sein. Es war eine ganz, ganz ungemütliche Zeit."

    Sebastian runzelt die Stirn, blickt schweigend in sein Heft. Hat er etwa konkretere Antworten erwartet?

    "Es gibt Unklarheiten. Allerdings, ich denke, mit denen muss man leben. Auch Zeitzeugen sind nur Menschen, die sich womöglich für etwas schämen von damals."

    Sebastians Klasse ist von Lehrerin Petra Zündorf gründlich auf die Begegnung vorbereitet worden. Auch darauf, dass vom Treffen mit den Frauen keine zusätzlichen fachlichen Erkenntnisse zu erwarten seien, die den Geschichtsunterricht ergänzen könnten.

    Zeitzeugen sind bis heute ein wichtiger Faktor im Schulunterricht und in Gedenkstätten. Doch das muss nicht mehr sein, findet Sozialpsychologe Harald Welzer. Er beschäftigt sich immer wieder mit dem Thema Erinnerung, zuletzt in seinem Buch "Das Menschen Mögliche". Darin fordert Welzer, die deutsche Erinnerungskultur – und damit auch die Bildungsarbeit - endlich zu renovieren:
    "Man sagt dauernd, man darf nicht vergessen und das darf nicht wieder geschehen und man muss erinnern und so weiter. Nun trifft diese Rhetorik auf eine Generation, die überhaupt nicht die Absicht gehabt hat, irgendetwas zu vergessen."

    Denn die Jugendlichen heute sind sich ihrer Verantwortung für die Vergangenheit auch ohne moralischen Appell bewusst, sagt Welzer. Der Soziologe am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen macht sich dafür stark, die noch lebenden Zeitzeugen nicht länger in den Unterricht und der Gedenkstättenarbeit einzubeziehen. Weil ihre Erinnerungen von ihrem späteren Wissen über die Shoah gefärbt seien und sie den Nationalsozialismus vom Ende her erzählen würden, also von der Ermorderung der Juden aus. Das aber verstelle den Blick aufs Wesentliche, nämlich auf den Anfang der NS-Zeit, als sich die Ausgrenzung der Juden immer mehr in die Gesellschaft eingeschlichen – und die Bevölkerung sich nicht dagegen gewehrt hat.

    Das sagt auch Barbara Kirschbaum, Pädagogische Leiterin des Kölner EL-DE Haus. In diesem Haus hatte die Gestapo ihren Sitz. Heute ist es Gedenkstätte und NS-Dokumentationszentrum in einem. Auch hier werden Zeitzeugenberichte verwendet, allerdings ausschließlich auf Video:

    "Wenn die Person vor ihnen sitzt, dann können sie nicht sagen: "Das stimmt aber nicht, was sie erzählen." Sondern diese Distanz, die das Medium Video uns ermöglicht zu dem Menschen, die ermöglicht eben auch diese quellenkritische Behandlung. Man kann verschiedene Perspektiven gegeneinander setzen."
    Seit Jahren wird nach neuen Konzepten gesucht, um die "emotionale Ebene" in der Geschichtsvermittlung – die nur die persönliche Begegnung mit Zeitzeugen ermöglicht - zu kompensieren. Mittlerweile gehören aufgezeichnete Interviews in der Gedenkstättenarbeit längst zum pädagogischen Standard.

    "Wenn sie so Zeitzeugenaussagen nehmen, um bestimmte Phänomene zu illustrieren, dann ist das auch eine sehr gute Möglichkeit, mit Jugendlichen darüber ins Gespräch zu kommen."

    Dabei sei vor allem die Analyse gesellschaftlicher Mechanismen wie Ausgrenzung und Gruppendruck wichtig, erläutert die Kölner Pädagogin. Der moralische Zeigefinger habe in diesen Gesprächen nichts zu suchen. Eine repräsentative Befragung von Jugendlichen ab 14 Jahren, die TNS-Infratest im Auftrag des Wochenmagazins "Die Zeit" 2010 durchgeführt hat, besagt, dass sich mehr als zwei Drittel für den Nationalsozialismus und den Holocaust interessieren. Die Jugendlichen sehen ihre Generation zudem in der Pflicht, die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung niemals zu vergessen.

    Die Befragung ergab aber auch: 40 Prozent der Jugendlichen fühlen sich genötigt, Betroffenheit zu zeigen, sobald über den Holocaust angesprochen wird. Die Pädagogin Barbara Kirschbaum führt diesen Zwang zur Betroffenheit auf die Generation der 68er zurück. Die Jugend wollte damals ihre Eltern und Großeltern zwingen, für die NS-Verbrechen Verantwortung zu übernehmen:

    "Es war wichtig, aber es behindert gewissermaßen manchmal heute die Arbeit mit den Jugendlichen, weil eben dieses Element "Wir müssen die Schuld annehmen" an die Jugendlichen weitergetragen wird und wir merken, dass viele Jugendlichen sich dagegen wehren und sagen, ich habe damit nichts zu tun. Ich habe keine Lust mehr, mich als Deutscher immer schuldig zu fühlen."

    Die junge Lehrerin Petra Zündorf weiß genau, wovon Kirschbaum spricht. Als sie selbst noch Schülerin war, war sie vom moralischen Zeigefinger auch genervt.

    "Und deshalb habe ich mir für meinen Geschichtsunterricht vorgenommen, dass ich das nicht mache, dass ich versuche, so neutral wie möglich die Fakten vorzustellen und die Fakten für sich sprechen zu lassen. Und das funktioniert auch."

    Für die Historikerin Ulrike Jureit ist das die beste Art, den nachfolgenden Generationen Geschichte zu vermitteln. Denn die deutsche Gesellschaft steckt mitten im Wandel:
    "Stichwort: Migration und Einwanderungsgesellschaft. Die Mehrheit in unserer Gesellschaft ist nicht nur zu jung, um diese eigenen biografischen Bezüge zum NS zu haben, sondern hat ganz andere familiäre Hintergründe, ganz andere Geschichten."

    Ulrike Jureit, auch Harald Welzer wollen bei der Thematisierung der NS-Zeit künftig viel stärker die Gesellschaft heute in den Blick nehmen. Der Historikerin und dem Sozialpsychologen geht es darum, die Mechanismen der NS-Zeit anhand aktueller Probleme wie Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung herauszuarbeiten:

    "Und dann kommen wir vielleicht zu dem Punkt zu sehen, dass die Demokratiegefährdung heute nicht von Männern in schwarzen Uniformen ausgeht, aber möglicherweise von Erosionsprozessen innerhalb demokratischer Verfahren, von Auflösungs- oder Angriffe auf parlamentarische Verfahren oder von Internetkonzernen, die systematisch Überwachungsstrukturen etablieren."

    Harald Welzer sieht in der Nach-Zeitzeugen-Zeit also große Chancen. Er will, dass künftige Generationen aus Geschichte nicht nur lernen, sondern in der Lage sind, Parallelen zwischen früheren und heutigen Gefahren zu erkennen, um sich dagegen zu wehren.

    "Insofern glaube ich, dass der historische Raum ohne die sogenannten Zeitzeugen offener ist als mit den Zeitzeugen. Und damit für historische und politische Bildung eigentlich gut."