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Maggie Shipstead: „Kreiseziehen“
Wenn Frauen fliegen

Marian Graves entdeckt in den 1920er Jahren ihre Leidenschaft fürs Fliegen. Einhundert Jahre später soll eine Hollywood-Schauspielerin die Pilotin in einem Film verkörpern und stößt auf ein Geheimnis in ihrer Biografie. Ein packender Roman über zwei Frauen, die sich mit ihren vorgesehenen Rollen nicht begnügen.

Von Bettina Baltschev | 13.07.2022
Maggie Shipstead: "Kreiseziehen"

Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Emanzipation als Langstrecke: Maggie Shipstead schreibt in "Kreiseziehen" über zwei Frauen, zwischen denen ein ganzes Jahrhundert liegt, die sich aber ähneln in ihrem entschlossenen Griff nach den Sternen. (Buchcover: dtv / Foto: Michelle Legro)
Als Addison Graves mit den Babys Marian und Jamie die sinkende „Josephina Eterna“ verlässt, weiß er genau, was er tut. Doch dem Kapitän des Kreuzfahrtschiffes bedeutet das Leben seiner Zwillinge mehr als das Gesetz, er müsse als letzter von Bord gehen. Während die Mutter der Kinder ertrinkt, landet er im Gefängnis. Marian und Jamie wachsen derweil bei ihrem Onkel auf, irgendwo in Montana am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Der Beginn von Maggie Shipsteads Roman „Kreiseziehen“ klingt nach ganz großem Kino und weckt ebenso große Erwartungen. Die löst die Schriftstellerin jedoch mühelos ein und zwar bis zur letzten Seite dieses fast 900 Seiten umfassenden Romans.

Zweite Handlungsebene in der Gegenwart

Schon bald nach dem dramatischen Beginn eröffnet Maggie Shipstead eine zweite Handlungsebene, die in der Gegenwart spielt. Nun begegnen wir Hadley Baxter, einer sehr erfolgreichen Hollywood-Schauspielerin, die sich mit missglückten Beziehungen und sexistischen Produzenten plagt. Nachdem sie der Star einer Fantasy-Serie war, sucht sie nach einer ernsthafteren Rolle und findet sie auch. Hadley Baxter soll Marian Graves in einem Spielfilm verkörpern. Denn die ist nach einem wenig aussichtsreichen Start ins Leben Pilotin geworden.
Als in der Einöde Montanas ein paar Kunstflieger aufgetaucht waren, um die örtliche Bevölkerung mit ein paar Stunts zu unterhalten, stand ihr Entschluss fest: sie muss Pilotin werden. Und auch wenn es einige Jahre dauerte und sie erst einem Mäzen begegnen musste, der ihr die Flugstunden bezahlt: Eines Tages saß sie das erste Mal am Steuer eines Doppeldecker-Flugzeugs.
„Ihre Angst war verschwunden. Dafür war kein Raum. Sie drückte den rechten Fuß aufs Pedal und drehte das Steuerrad langsam nach rechts. Das Flugzeug legte sich in die Kurve. Natürlich tat es das - es war dazu geschaffen geflogen zu werden -, aber dass ein Flugzeug ihrem Willen gehorchte, kam ihr dennoch vor wie eine Offenbarung. Im Seitenfenster tauchten die dunklen Windungen des Bitterroot, die Wipfel der Bäume auf. Vom Boden aus war das übergeordnete Muster zu erkennen: die Schlangenlinie, die der Fluss auf seinem Weg durchs Tal zeichnete, das Wiederzusammenfließen des Wassers, nachdem es durch eine Sandbank getrennt worden war.“

Flug in die Freiheit

Marian Graves‘ Mäzen allerdings ist ein gewisser Barclay Macqueen, ein reicher arroganter Alkoholschmuggler. Nicht weil sie ihn liebt, sondern weil sie auf etwas Wohlstand hofft, heiratet sie ihn. Doch als er darauf besteht, dass sie Kinder bekommen müsse und seinen Willen auch gewaltsam durchzusetzen versucht, flieht Marian vor ihm, natürlich mit einem Flugzeug. In Alaska erfindet sie sich neu, wird Frachtpilotin, unabhängig und frei.
„Im Doppeldecker ist sie der Fixpunkt des Universums und wirbelt es mit Steuerknüppel und Pedalen um sich herum.“
Später, als der Zweite Weltkrieg auch Amerika erreicht, wird Marian Graves nach England gehen. Dort transportiert sie mit dem Flugzeug Nachrichten und Waren und erlebt mit einer Kollegin sexuelle Erfüllung. Es sind glückliche Jahre, trotz und gerade wegen des Krieges, wie sie an ihren Bruder Jamie schreibt.
„Ich schäme mich, zu sagen, dass ich glücklicher bin als je zuvor. Ich habe mich immer nach einer Aufgabe gesehnt und jetzt habe ich eine unbestreitbare Aufgabe. Führen Menschen deshalb Krieg? Damit sie etwas zu tun haben? Um sich als Teil von etwas zu fühlen?“
Die Schauspielerin Hadley Baxter entdeckt in ihrer Geschichte Parallelen zwischen sich und Marian Graves. So ist auch sie bei ihrem Onkel aufgewachsen, hat als Kind viel gelesen und sich später mit den falschen Männern eingelassen. Um sich ganz in ihre Rolle einzufühlen, liest Hadley alle Aufzeichnungen, die Marian hinterlassen hat und nimmt sogar eine Flugstunde, allerdings ohne Erfolg.

Horizonterweiternde Lektüre

„Nachdem ich beim Fliegen völlig versagt hatte, war ich noch entschlossener, Marian zu spielen. Ich brauchte das befreiende Gefühl, jemand zu sein, der keine Angst hatte. Es half, dass sie mir nicht völlig fremd war, dass wir beide Produkte von Verschwinden und Verwaistheit und Vernachlässigung und Flugzeugen und Onkeln waren. Sie war wie ich, aber auch wieder nicht. Sie war unheimlich und unergründlich bis auf wenige Konstellationen, die ich von meinem eigenen Himmel kannte.”
Abwechselnd erzählt Maggie Shipstead die nur auf den ersten Blick recht ungleichen Emanzipationsgeschichten der Pilotin Marian Graves und der Schauspielerin Hadley Baxter. Dabei gesteht sie der Pilotin weit mehr Raum zu, was richtig ist, denn deren Geschichte ist eindeutig die spannendere. In ihrer Abenteuerlust und ihrem Freiheitsdrang erinnert die fiktive Marian Graves an tatsächliche Pionierinnen der Luftfahrt wie Amalia Earhart oder Amy Johnson.
Deren Geschichte flicht Maggie Shipstead in dokumentarischen Passagen ihres Romans ein und bricht damit immer wieder kunstvoll den Erzählfluss auf. Doch auch die parallele Erzählung über die Schauspielerin funktioniert gut. Denn Hadley lässt sich von Marian inspirieren und begegnet Menschen, die Marian noch gekannt haben.
Ganz zum Schluss des Romans macht sie zudem eine überraschende Entdeckung. Die würde man an dieser Stelle sogar preisgeben, würde es sich nicht lohnen, die im wahrsten Sinne des Wortes horizonterweiternde Lektüre erst auf der letzten Seite zu beenden. Aber der Roman ist so ergreifend und elegant formuliert, dass man sehr gern durchhält.
Maggie Shipstead hat ganz offensichtlich ein Talent für lange Strecken und ähnelt damit ihrer Protagonistin Marian Graves, die nach dem Krieg versucht, mit dem Flugzeug die Erde zu umrunden. So ist „Kreiseziehen“ ein toller und facettenreicher Roman, nicht nur, aber vor allem über zwei Frauen, die sich mit den für sie vorgesehenen Rollen nicht begnügen.
Maggie Shipstead: „Kreiseziehen“
Aus dem amerikanischen Englisch von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz
dtv Verlag, München
864 Seiten, 28 Euro.