Gerd Breker: Die tödliche Attacke zweier Jugendlicher in München auf einen S-Bahn-Fahrgast hat eine neue, aber heftige Debatte über schärfere Gesetze und mehr Polizeipräsenz ausgelöst. Das Opfer hatte Zivilcourage gezeigt und sich schützend vor Kinder gestellt, die von den Jugendlichen bedroht wurden. Das Entsetzen über die Tat ist groß, die Ratlosigkeit irgendwo auch. - Am Telefon bin ich nun verbunden mit Professor Christian Pfeiffer, Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover. Guten Tag, Herr Pfeiffer.
Christian Pfeiffer: Hallo, Herr Breker.
Breker: Herr Pfeiffer, da zeigt einer mal Zivilcourage und bezahlt das mit dem eigenen Leben. Was lief da falsch?
Pfeiffer: Wir wissen es ja noch nicht genau, was sich da in der S-Bahn und auf dem Bahnhof ereignet hat, aber es hat den Anschein, dass der mutige Mensch selber vielleicht einen ganz schrecklichen Fehler begangen hat. Wenn man sich in einer solchen Situation engagiert, dann ist die wichtigste Grundregel, erst einmal Mitreisende anzusprechen: "Sie da mit der roten Mütze, wollen Sie mich unterstützen? Das kann man doch nicht zulassen, dass die Kinder hier von den beiden jungen Männern" und so. Konkret in die Augen schauen, ansprechen und sich Partner holen, stark werden, indem man zwei, drei gegenüberstellt den zweien, die da angetrunken, gefährlich wirkend, brutal vorgehen. Dann hat man eine faire Chance, dass das ganze richtig gut ausgeht. Wenn man es alleine macht, ist das Risiko ganz groß, dass die beiden, stinksauer, dass der ihnen da in die Quere kommt, dass er ihnen nicht das zulässt, jeweils 15 Euro zu kriegen wie der Vorgänger, dass die dann zurückschlagen und sich brutal rächen.
Breker: Heißt das, Professor Pfeiffer, dass Zivilcourage nur in Gruppen geht, es keine individuelle Eigenschaft ist, keine Tugend?
Pfeiffer: Doch. Das ist ja gerade Zivilcourage, dass man andere anspricht, dass man aus der Isolation ausbricht, die einen in der U-Bahn sonst umgibt. Jeder guckt in seiner Zeitung, keiner redet mit dem Nachbarn, außer man kennt sich richtig gut. Das ist der erste Schritt, andere als Bündnispartner zu gewinnen und dann couragiert das richtige zu tun. Das ist die Grundregel und die hat er nicht gewusst. Das will ich gar nicht vorwerfen. Spontan muss man ja agieren. Man ist ja nicht geschult darin und hat Trainingskurse absolviert, was mache ich richtig in der U-Bahn, wenn so was passiert. Man kommt aus dem Bauch heraus und dann geschieht es eben, dass man gar nicht auf die Idee kommt, man sei bedroht, und gar nicht sieht, dass man Hilfe brauchen könnte. Das ist hier möglicherweise so abgelaufen und ist der erste Punkt, der wichtig wäre.
Der zweite hilfreiche wäre dann, dass man sagt, die Polizei habe ich schon angerufen. Das wissen wir nicht, ob er das den beiden Tätern gesagt hat. Das bremst sie manchmal in ihrem Tatendrang.
Breker: Sozusagen zu sagen, die Polizei ist unterwegs. Und wenn man alleine ist, wenn niemand sonst da ist, dann besser gar nicht eingreifen?
Pfeiffer: Immer die Polizei anrufen, natürlich, und beim Eingreifen genau abwägen, wo man dann landet, ob man eine echte Chance hat, oder ob man die Dinge sogar zur Eskalation führt, weil man sich einmischt. Das ist nicht generell zu beantworten. Nur hier: Die Bahn war gut besetzt. Es war der helligte Tag. Da hätte vielleicht doch diese Chance bestanden, andere zu motivieren, sich an die Seite dieses tollen Menschen zu stellen.
Breker: Öffentlichkeit herzustellen, zu dokumentieren, wir schauen zu, uns ist es nicht egal?
Pfeiffer: Ja, genau das.
Breker: Ein weiterer Punkt, Herr Professor Pfeiffer, irritiert. Früher war es doch so, wenn man jemand zeigen wollte, dass man der Stärkere ist, und der liegt wehrlos am Boden, dann hört man auf. Wieso wird da nicht mehr aufgehört? Wieso geht es da weiter mit der Gewalt?
Pfeiffer: Herr Breker, diesen Satz höre ich seit 20 Jahren: Früher war es anders. Das kann nicht stimmen. Wir hatten früher mehr Tötungsdelikte durch Jugendliche, die auch dadurch entstehen, dass auf Hilflose, am Boden liegende eingeprügelt wird. Nein, das ist eine gefällige Formulierung, die aber von den Fakten nicht gehalten wird. Nehmen Sie die Schulen. Wir haben 41 Prozent Rückgang in den letzten zehn Jahren an Vorfällen, die im Krankenhaus landen, Gewalttaten in der Schule, wo dann ganz genau erfasst wird, reicht es aus ambulant, oder kommt ein Arzt, oder reicht es aus, ihn im Krankenhaus röntgen zu lassen und dann kommt er wieder zurück. All dieses ist ja differenziert zu jedem solcher Vorfälle registriert bei den Versicherungen und wir wissen, um 41 Prozent Rückgang der schwersten Fälle. Es kann nicht stimmen, dass die Jugend generell immer brutaler wird, aber wir wissen genau: Wenn es solche Rahmenbedingungen sind, unter denen die beiden Täter aufgewachsen sind, dann ist es nicht überraschend, mit welcher exzessiven Brutalität sie hier vorgegangen sind.
Breker: Also die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, ist gar nicht gesunken?
Pfeiffer: Nein. Im Gegenteil: Wir haben einen Rücklauf der Jugendgewalt. Herr Schäuble hat es mit großer Freude im April verkündet. Die Daten der Polizei bestätigen es genauso wie unsere Dunkelfeldforschung mit 45.000 Jugendlichen aus dem letzten Jahr. Wir haben eine schärfere Missbilligung von Gewalt unter Jugendlichen im Vergleich von vor zehn Jahren. Ein Faktor, der das alles bewirkt: die innerfamiliäre Gewalt ist rückläufig. Das heißt, die Neuproduktion von Gewalt, nachwachsender Gewalt, die läuft nicht mehr so wie früher. Aber die beiden Täter, da sah es anders aus. Von dem einen wissen wir, dass er unter grauenhaften Gewaltbedingungen zu Hause aufgewachsen ist und dass deswegen das Jugendamt ihn ja aus der Familie entfernt hat.
Breker: Dennoch noch einmal, Herr Pfeiffer. Wenn einer wehrlos am Boden liegt, eigentlich schon besiegt ist, man demonstriert hat, dass man der stärkere ist, warum macht man dann weiter?
Pfeiffer: Bei dem einen, 1,0 Promille, ist eine Enthemmung wohl gewesen und dann wird die weitere Recherche bringen, ob ihre Abstumpfung gegenüber dem Leiden eines Opfers mit anderen Faktoren zusammenhängt, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben. Beispiel: Da wissen wir noch gar nichts drüber, aber generell ist bekannt, dass das dauernde brutalste Computerspiele spielen auch ein Stück Desensibilisierung bei den Betreffenden bewirkt. Das wird ja systematisch in den USA zum Training von Kampfsoldaten eingesetzt. Also es kann andere Momente gegeben haben, vielleicht auch hier das Aufeinanderprallen eines "äußerlich als erfolgreichen Manager" erkennbaren - der ist ja nicht in Jeans und Pulli gekommen, sondern wahrscheinlich in seiner Dienstkluft, Anzug und so weiter - und dann die beiden Verlierertypen, dass da auch noch ein besonderer Hass auf jemand auftritt, der so selbstsicher, souverän versucht, ihnen klar zu machen, was richtig und falsch ist. Das alles wird der Prozess zeigen und die Zeugenaussagen werden das bringen, ob solche Erklärungsmomente eine Rolle spielen und das Unfassbare dann doch begreifbar machen.
Eines muss ich noch ergänzen. Das ist eminent wichtig. Wenn überhaupt junge Täter, die bewusst sich die U-Bahn, die S-Bahn-Situation aussuchen, wo man Verängstigte gegenüber hat, die nicht flüchten können, wo man seine Macho-Allüren voll ausspielen kann, wenn da dann bekannt wäre, hier läuft eine Kamera, würden sie vielleicht zurückhaltender sein. In Gelsenkirchen läuft so ein Modellversuch mit Bussen, wo Kameras laufen, und das scheint sich sehr positiv auszuwirken.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der Kriminologe Christian Pfeiffer. Herr Pfeiffer, danke für dieses Gespräch.
Pfeiffer: Danke Ihnen.
Christian Pfeiffer: Hallo, Herr Breker.
Breker: Herr Pfeiffer, da zeigt einer mal Zivilcourage und bezahlt das mit dem eigenen Leben. Was lief da falsch?
Pfeiffer: Wir wissen es ja noch nicht genau, was sich da in der S-Bahn und auf dem Bahnhof ereignet hat, aber es hat den Anschein, dass der mutige Mensch selber vielleicht einen ganz schrecklichen Fehler begangen hat. Wenn man sich in einer solchen Situation engagiert, dann ist die wichtigste Grundregel, erst einmal Mitreisende anzusprechen: "Sie da mit der roten Mütze, wollen Sie mich unterstützen? Das kann man doch nicht zulassen, dass die Kinder hier von den beiden jungen Männern" und so. Konkret in die Augen schauen, ansprechen und sich Partner holen, stark werden, indem man zwei, drei gegenüberstellt den zweien, die da angetrunken, gefährlich wirkend, brutal vorgehen. Dann hat man eine faire Chance, dass das ganze richtig gut ausgeht. Wenn man es alleine macht, ist das Risiko ganz groß, dass die beiden, stinksauer, dass der ihnen da in die Quere kommt, dass er ihnen nicht das zulässt, jeweils 15 Euro zu kriegen wie der Vorgänger, dass die dann zurückschlagen und sich brutal rächen.
Breker: Heißt das, Professor Pfeiffer, dass Zivilcourage nur in Gruppen geht, es keine individuelle Eigenschaft ist, keine Tugend?
Pfeiffer: Doch. Das ist ja gerade Zivilcourage, dass man andere anspricht, dass man aus der Isolation ausbricht, die einen in der U-Bahn sonst umgibt. Jeder guckt in seiner Zeitung, keiner redet mit dem Nachbarn, außer man kennt sich richtig gut. Das ist der erste Schritt, andere als Bündnispartner zu gewinnen und dann couragiert das richtige zu tun. Das ist die Grundregel und die hat er nicht gewusst. Das will ich gar nicht vorwerfen. Spontan muss man ja agieren. Man ist ja nicht geschult darin und hat Trainingskurse absolviert, was mache ich richtig in der U-Bahn, wenn so was passiert. Man kommt aus dem Bauch heraus und dann geschieht es eben, dass man gar nicht auf die Idee kommt, man sei bedroht, und gar nicht sieht, dass man Hilfe brauchen könnte. Das ist hier möglicherweise so abgelaufen und ist der erste Punkt, der wichtig wäre.
Der zweite hilfreiche wäre dann, dass man sagt, die Polizei habe ich schon angerufen. Das wissen wir nicht, ob er das den beiden Tätern gesagt hat. Das bremst sie manchmal in ihrem Tatendrang.
Breker: Sozusagen zu sagen, die Polizei ist unterwegs. Und wenn man alleine ist, wenn niemand sonst da ist, dann besser gar nicht eingreifen?
Pfeiffer: Immer die Polizei anrufen, natürlich, und beim Eingreifen genau abwägen, wo man dann landet, ob man eine echte Chance hat, oder ob man die Dinge sogar zur Eskalation führt, weil man sich einmischt. Das ist nicht generell zu beantworten. Nur hier: Die Bahn war gut besetzt. Es war der helligte Tag. Da hätte vielleicht doch diese Chance bestanden, andere zu motivieren, sich an die Seite dieses tollen Menschen zu stellen.
Breker: Öffentlichkeit herzustellen, zu dokumentieren, wir schauen zu, uns ist es nicht egal?
Pfeiffer: Ja, genau das.
Breker: Ein weiterer Punkt, Herr Professor Pfeiffer, irritiert. Früher war es doch so, wenn man jemand zeigen wollte, dass man der Stärkere ist, und der liegt wehrlos am Boden, dann hört man auf. Wieso wird da nicht mehr aufgehört? Wieso geht es da weiter mit der Gewalt?
Pfeiffer: Herr Breker, diesen Satz höre ich seit 20 Jahren: Früher war es anders. Das kann nicht stimmen. Wir hatten früher mehr Tötungsdelikte durch Jugendliche, die auch dadurch entstehen, dass auf Hilflose, am Boden liegende eingeprügelt wird. Nein, das ist eine gefällige Formulierung, die aber von den Fakten nicht gehalten wird. Nehmen Sie die Schulen. Wir haben 41 Prozent Rückgang in den letzten zehn Jahren an Vorfällen, die im Krankenhaus landen, Gewalttaten in der Schule, wo dann ganz genau erfasst wird, reicht es aus ambulant, oder kommt ein Arzt, oder reicht es aus, ihn im Krankenhaus röntgen zu lassen und dann kommt er wieder zurück. All dieses ist ja differenziert zu jedem solcher Vorfälle registriert bei den Versicherungen und wir wissen, um 41 Prozent Rückgang der schwersten Fälle. Es kann nicht stimmen, dass die Jugend generell immer brutaler wird, aber wir wissen genau: Wenn es solche Rahmenbedingungen sind, unter denen die beiden Täter aufgewachsen sind, dann ist es nicht überraschend, mit welcher exzessiven Brutalität sie hier vorgegangen sind.
Breker: Also die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, ist gar nicht gesunken?
Pfeiffer: Nein. Im Gegenteil: Wir haben einen Rücklauf der Jugendgewalt. Herr Schäuble hat es mit großer Freude im April verkündet. Die Daten der Polizei bestätigen es genauso wie unsere Dunkelfeldforschung mit 45.000 Jugendlichen aus dem letzten Jahr. Wir haben eine schärfere Missbilligung von Gewalt unter Jugendlichen im Vergleich von vor zehn Jahren. Ein Faktor, der das alles bewirkt: die innerfamiliäre Gewalt ist rückläufig. Das heißt, die Neuproduktion von Gewalt, nachwachsender Gewalt, die läuft nicht mehr so wie früher. Aber die beiden Täter, da sah es anders aus. Von dem einen wissen wir, dass er unter grauenhaften Gewaltbedingungen zu Hause aufgewachsen ist und dass deswegen das Jugendamt ihn ja aus der Familie entfernt hat.
Breker: Dennoch noch einmal, Herr Pfeiffer. Wenn einer wehrlos am Boden liegt, eigentlich schon besiegt ist, man demonstriert hat, dass man der stärkere ist, warum macht man dann weiter?
Pfeiffer: Bei dem einen, 1,0 Promille, ist eine Enthemmung wohl gewesen und dann wird die weitere Recherche bringen, ob ihre Abstumpfung gegenüber dem Leiden eines Opfers mit anderen Faktoren zusammenhängt, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben. Beispiel: Da wissen wir noch gar nichts drüber, aber generell ist bekannt, dass das dauernde brutalste Computerspiele spielen auch ein Stück Desensibilisierung bei den Betreffenden bewirkt. Das wird ja systematisch in den USA zum Training von Kampfsoldaten eingesetzt. Also es kann andere Momente gegeben haben, vielleicht auch hier das Aufeinanderprallen eines "äußerlich als erfolgreichen Manager" erkennbaren - der ist ja nicht in Jeans und Pulli gekommen, sondern wahrscheinlich in seiner Dienstkluft, Anzug und so weiter - und dann die beiden Verlierertypen, dass da auch noch ein besonderer Hass auf jemand auftritt, der so selbstsicher, souverän versucht, ihnen klar zu machen, was richtig und falsch ist. Das alles wird der Prozess zeigen und die Zeugenaussagen werden das bringen, ob solche Erklärungsmomente eine Rolle spielen und das Unfassbare dann doch begreifbar machen.
Eines muss ich noch ergänzen. Das ist eminent wichtig. Wenn überhaupt junge Täter, die bewusst sich die U-Bahn, die S-Bahn-Situation aussuchen, wo man Verängstigte gegenüber hat, die nicht flüchten können, wo man seine Macho-Allüren voll ausspielen kann, wenn da dann bekannt wäre, hier läuft eine Kamera, würden sie vielleicht zurückhaltender sein. In Gelsenkirchen läuft so ein Modellversuch mit Bussen, wo Kameras laufen, und das scheint sich sehr positiv auszuwirken.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der Kriminologe Christian Pfeiffer. Herr Pfeiffer, danke für dieses Gespräch.
Pfeiffer: Danke Ihnen.