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Wenn Norbert wächst

Stephan Enter wurde in den Niederlanden mit seinem dritten Prosaband "Spiel" bekannt, von dem die Kritiker nicht so recht zu sagen wussten, ob es sich dabei um zusammenhängende Erzählungen oder einen konsistenten Roman handelt. Der 41-Jährige Autor gilt als einer der feinsinnigsten Erzähler seiner Generation.

Von Volkmar Mühleis |
    Österreichische Schriftsteller, oder Schweizer, schreiben zum Teil anders als ihre deutschen Kollegen, auch wenn sie es in der gleichen Sprache tun. Es würde zu weit führen, diese Erfahrung nun detailliert zu veranschaulichen. Doch man frage sich nur, warum schon im 18. Jahrhundert deutsche und schweizerische Literaturtheoretiker ganz unterschiedlich über die deutschsprachige Dichtkunst dachten, und man wird von Namen wie Gottsched oder Bodmer und Breitinger diese feine Nuance bis heute wiederfinden. In der niederländischsprachigen Literatur gibt es dasselbe Phänomen: Die Flamen sind dort die sinnlicheren Südländer, und die Holländer pflegen ihre Genauigkeit.

    Was aber hat das alles mit dem holländischen Autor Stephan Enter zu tun? Er ist durchaus auf Genauigkeit bedacht, aber auf die sinnlichste Form davon, die man in niederländischen Erzählstilen derzeit findet. In seinem dritten Roman "Spiel" beschreibt er in losen Episoden das Aufwachsen von Norbert Vijgh in einem Dorf unweit von Amsterdam. In fast jeder Geschichte taucht eine andere Form von Spiel auf: Vom Indianerspiel des kleinen Jungen über die Schachstunden im Clubhaus, die spielerische Gewalt von Jugendlichen bis hin zum Scrabble-Spiel mit der Großmutter, auf der gemeinsamen Fahrt in die Ferien:

    "Wann und wo haben wir mit diesem Spiel angefangen? Auf einer unserer ersten Reisen in die Schweiz, vermutlich. Mir ist aufgefallen, dass mein Gedächtnis allerlei kostbare Erinnerungen, die sich nicht gleich einem Datum oder Ort zuordnen lassen, zwischen den moosfarbenen oder mattroten Metallwänden eines SBB-Zuges unterzubringen versucht, diesem prachtvollen Zug, der uns in zehn aufeinanderfolgenden Sommern zu ihrem Haus im Wallis und zurück transportierte. (Der Ehrlichkeit halber muss ich erwähnen, dass wir manchmal auch mit einem dieser kugelschnellen quecksilbrigen D-Züge fuhren.) Je monochromer der Glanz des Ereignisses, desto stärker neige ich dazu, es in diesen Abteilen anzusiedeln, und so ähneln meine Erinnerungen an diese Reisen immer mehr einer Art mnemonischem Grab des Tutanchamun – viel zu voll und viel zu schön. Wie dem auch sei: Die Linse meines inneren Auges liefert das schärfste und farbechteste Bild, wenn ich mir meine Großmutter und mich – und das Spiel zwischen uns – im Speisewagen vorstelle, immer auf der Seite mit Aussicht – der Seite, die dem sanft unter uns glitzernden Rhein zugewandt ist."

    Der 'monochrome Glanz des Ereignisses', darin verdichten sich die Bilder und bleiben danach in der Schwebe, wenn das Volle und Schöne als zu viel beschrieben wird, der Erzähler selbst innehält, um schließlich doch vom 'glitzernden Rhein' zu sprechen. Die Übersetzung von Christiane Kuby trifft genau den Ton des Originals. Was leicht nach Ästhetizismus klingt, lässt sich konkreter so fassen: Die poetische Prosa von Enter ist nie Selbstzweck, sondern gewinnt ihre Kraft mit dem Handlungsstrang, der stets durchgearbeitet und oft überraschend ist, so wie ein guter plot es verspricht.

    Das beste Beispiel hierfür ist die Geschichte "Heroisch." Von den Träumereien im Elternhaus führt sie über zwei, drei Passagen mitten in die anonyme Bauruine einer Poldersiedlung und die Konfrontation mit anderen Jugendlichen. Der Wunsch nach dem eigenen Abenteuer wird wie im Märchen wahr, doch die Härte und der Sadismus der Jungen tritt unverhohlen hervor und findet sich in der Erzählweise des Autors schließlich prägnant wieder. Die poetische Verdichtung verkehrt sich dabei zur bitteren Pointe – mit einem einzigen, entscheidenden Satz steht plötzlich die ganze weitere Handlung auf dem Spiel. Die einzelnen Episoden hat Enter mit Blick auf die Balance von Poesie und Brisanz hin arrangiert. So meint er zu der Erzählung "Widerstand", über den Schachlehrer Wiesveld:

    Die Geschichte über den schwulen Schachlehrer musste tatsächlich aus der Perspektive eines 13-jährigen Jungen geschildert werden. Wenn Jungs noch jünger sind, haben sie zumeist keine Vorstellung von Homosexualität, und wenn sie etwas älter sind, dann können sie das Ganze schon wieder relativieren. Auf die Art habe ich die verschiedenen Kapitel komponiert: In welchem Alter ist welche Situation für den aufwachsenden Norbert am brenzligsten?

    Die Geschichte "Widerstand" ist nicht nur ein gutes Beispiel für die Komposition des Buches. Aus aktuellem Anlass verweist der Autor auch selbst gern darauf, wenn er an seinen Erzählstil denkt:

    "Stilistisch zum Beispiel finde ich Vladimir Nabokov hervorragend, vor allem in seinen frühen Jahren. Seine Geschichten aus dieser Zeit lese ich immer wieder, und jedes Mal entdecke ich etwas, das ich davor überhaupt nicht bemerkt habe. Als Schriftsteller muss man das Risiko eingehen, dass nur drei von 100 Lesern ein Detail sehen, bei dem man selbst als Schreiber geschmunzelt hat. Viele Autoren lassen sich dazu verführen, eine solche Stelle weiter auszuarbeiten, zu verdeutlichen – und machen sie dadurch kaputt. Widerstand, meine Erzählung über den Schachlehrer, erscheint jetzt zum Beispiel in den USA. Und der amerikanische Herausgeber wollte zahlreiche Metaphern im Anhang erläutern, was mich furchtbar wütend machte, weil er sie damit alle zerstört hätte! Der Leser soll die Metapher fühlen, aber nicht ausdeuten."

    Die ästhetische Wirkung mag dichterisch frei erscheinen, wenn es in der eingangs zitierten Textpassage etwa hieß, dass die Metallwände des schweizerischen Zuges 'moosfarben oder mattrot' waren. Zugleich lebt die Beschreibung von den Details, und kennen die ihre realen Bezüge. Ein nicht geringer Teil der Arbeit ist für viele Autoren die Recherche. Stephan Enter gibt ein Beispiel für die Textstelle im Zug der SBB:

    "In dem Kapitel Scrabble kommt ein unglaublich lauter Heißlufttrockner vor. Der Lärm des Trockners ist entscheidend für den Verlauf der Handlung: weil Norbert mit seiner Großmutter im Abteil ihres Schlafwagens ist, und zufällig durch die Wand zwei Frauen nebenan über seine Großmutter reden hört. Ich hatte den gesamten Text schon fertig, da dachte ich: Gab es in SBB-Schlafwaggons überhaupt so laute Heißlufttrockner, Ende der 70er-Jahre? Ich suchte also im Internet – und dort findet man zwar alles, aber diese Information finden Sie dort garantiert nicht! Dann habe ich bei einer Fabrik nach der anderen angerufen. Und endlich hatte ich einen ehemaligen Direktor am Apparat, der meinte: 'Seit den 50ern wurden die Trockner in Europa importiert, und erstmals in die Schweiz.' Ich war unglaublich erleichtert, als der Mann das sagte! Ansonsten hätte ich die Szene völlig umschreiben müssen."

    "Spiel" ist nicht zuletzt ein spielerischer Umgang mit dem Bildungsroman. Die lose Folge der Geschichten legt keine Kontinuität nahe, und vermittelt doch den Eindruck einer Entwicklung. Wir sehen, wie Norbert langsam wächst, entlang der Brüche, die zwischen den Kapiteln stehen. Und während er sein Kindsein gerade daran merkte, dass Erwachsene ihn immer leicht gewinnen ließen, gab ihm seine Großmutter diesen Kredit nie: Sie nahm ihn von Anfang an ernst, und er gewinnt schließlich erst, als er selbst schon erwachsen ist. Es ist diese Schere, die das Buch beschließt, und den Faden durchtrennt – mit dem Tod der Großmutter, und seinem eigenen Erwachsensein.

    Stephan Enter: "Spiel". Aus dem Niederländischen übersetzt von Christiane Kuby. Berlin Verlag, Berlin 2009, 304 Seiten, 19,90 Euro