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"Wer den Teller nicht leer aß, wurde erbarmungslos bestraft"

In zahlreichen Kinderheimen Deutschlands wurde gequält, geprügelt und missbraucht. Auch in der ehemaligen DDR wuchsen rund 300.000 Mädchen und Jungen in Heimen unter häufig schmerzhaften Bedingungen auf. In "Erziehung hinter Gittern" berichtet Nicole Glocke von bewegenden Schicksalen in jenen Jugendwerkhöfen.

Von Henry Bernhard | 11.07.2011
    Der Anspruch des Sozialismus, eine neue, bessere Welt zu schaffen, erschöpfte sich nicht in totalitären gesellschaftlichen Entwürfen, sondern plante den "neuen Menschen" gleich mit dazu: Sauber, sportlich, "den Ideen des Sozialismus treu ergeben" sollte er sein. So fordert es das Jugendgesetz der DDR von 1974. Und wie so oft, wenn Menschen zu wissen vermeinen, was für andere richtig ist, und dazu die Macht haben, ihre Überzeugungen durchzusetzen, endete auch die Erziehung zum "neuen Menschen" in Unterdrückung und Gewalt. Die Berliner Autorin Nicole Glocke hat mit drei Ehemaligen gesprochen, die von den 60er-bis in die 80er-Jahre DDR-Spezialheime, -Jugendwerkhöfe und -Jugendgefängnisse durchlaufen haben. Es geht ihr dabei weniger um die strukturellen Bedingungen als darum, die konkreten Lebenswelten dieser Jugendlichen einfühlsam zu schildern.

    "Wer den Teller nicht leer aß, wurde erbarmungslos bestraft. Für den Jungen bedeutete dies eine besondere Qual, da er diverse Suppen nicht mochte. Eines Tages ekelte er sich derart vor dem stinkenden Grießbrei, dass er sich übergeben musste. Der wütende Erzieher zwang ihn, sein Erbrochenes zu sich zu nehmen. Eine alltägliche Szene, die für die achtjährigen Kinder nichts Ungewöhnliches darstellte."

    Die Art und Weise, wie Jugendliche in die Fänge der DDR-Erziehungshilfe gerieten, mutet mitunter kafkaesk an: Eine Unbotmäßigkeit, Widerspruch, Hyperaktivität oder instabile Familienverhältnisse konnten ausreichen, ein Kind für Jahre in die Mühlen der DDR-Sonderheim-Pädagogik geraten zu lassen – mit geringen Chancen für die Eltern, ihre Kinder wieder zu "befreien". Kinder und Jugendliche, die psychologischer Hilfe bedurft hätten, wurden mit militärischen Methoden gedrillt, ihr Wille gebrochen. Nicole Glocke beschreibt überforderte, schlecht ausgebildete Erzieher und eine entsolidarisierte Häftlingsgesellschaft, in der jeder sich selbst der nächste und Stärke die einzige Chance war, psychisch zu überleben.
    "Obwohl sich die Jugendlichen nach den sportlichen Exzessen am Limit befanden – immerhin hatten sie dann 550 Liegestütze, 550 Kniebeugen und 550 Strecksprünge in den Knochen -, traute sich keiner, seine Müdigkeit zu zeigen, da dies als Vorwand für neuerliche Repressalien genutzt worden wäre. Außerdem hätte der Jugendliche, der schlappgemacht hatte, in der nächsten Nacht mit der Prügel seiner Kameraden rechnen müssen."

    Das berüchtigtste unter den DDR-Sonderheimen, die direkt der Volksbildungsministerin Margot Honecker unterstanden, war der geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Hierher kamen die, mit denen man in anderen Heimen und Jugendwerkhöfen nicht klarkam. In Torgau wurden junge Menschen systematisch gebrochen, durch Dauersport als Gewaltmittel, Arrest für die geringsten Vergehen wie Sprechen beim Essen, mitunter auch durch Schläge und permanente Demütigungen. Das Netz der Jugendhilfe zeigte sich gerade im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau nicht als Auffangnetz für verhaltensauffällige oder kriminelle Jugendliche, sondern als Falle. Die Insassen waren nicht nur von der Straße weg, sondern auch aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Aber auch in anderen Heimen wurden Kinder und Jugendliche ausgebeutet, dem selbstständigen Handeln entfremdet, manchmal zwangsmedikamentiert und um ihre berufliche Zukunft gebracht, ganz zu schweigen von den seelischen Schäden.

    Besonders bewegend liest sich in Glockes Buch die Geschichte eines Jungen, der, einmal als verhaltensauffällig diagnostiziert, von den ersten 19 Jahren seines Lebens zwölf in Heimen, Jugendwerkhöfen und Gefängnissen verbrachte – obwohl er Eltern hatte. Noch Jahrzehnte später fällt es ihm schwer, zu vertrauen, zu lieben, Beziehungen aufzubauen. Umso beeindruckender ist, wie der Erwachsene nach 1989 mitunter ohne Rechtsbeistand vor bundesdeutsche Gerichte zog, um Rehabilitierung, Rentenanwartschaften, Entschädigung zu erkämpfen. Erschreckend ist dabei, wie ignorant bundesdeutsche Gerichte mit dem Leid der ehemaligen Heimkinder umgehen. Mitunter zitieren sie in ihren ablehnenden Urteilen wortwörtlich die Begründungen der DDR-Jugendhilfe für eine Heimeinweisung, ohne diese zu hinterfragen. Doch am Ende gab dem heute 55-Jährigen das Bundesverfassungsgericht Recht:

    "Nach diesem Urteil können alle Kinder und Jugendliche aus der DDR, die durch Maßnahmen der Jugendhilfe in geschlossene Einrichtungen verbracht worden sind, auf Antrag rehabilitiert werden, wobei es nicht mehr ausschlaggebend ist, ob es sich um eine politische Verfolgung handelt oder nicht. Es geht vielmehr darum, dass diesen Kindern grundsätzlich Unrecht widerfahren ist und die Maßnahmen als Willkürakte gegen Kinder zu werten sind."

    Mitunter fehlt der Autorin das Augenmaß, um wirtschaftliche oder gesellschaftliche Zusammenhänge der Vergangenheit richtig zu deuten, so war mancher Mangel der Zeit, nicht der Politik geschuldet. Manchmal überschreitet sie die Grenze zum Kitsch. Dies wäre nicht passiert, hätte sie alle drei und nicht nur einen ihrer Protagonisten selbst sprechen lassen, in der Ich-Form. Sie hat sich aber leider für den Mittelweg entschieden, der hier gar nicht golden glänzt. Nicole Glocke übernimmt die Erinnerung der heute 40-/50-Jährigen unreflektiert als historische Wahrheit, auch deren Selbstgerechtigkeit überhöht mitunter das Böse. Manche Passagen gleichen Verschwörungstheorien, andere geraten zum Klischee. Immer wieder schreibt sie Kindern Gedanken zu, die man ihnen nicht zutraut. Gut gemeint, aber leider dadurch oftmals unglaubwürdig. Dennoch ist ein wichtiges Buch entstanden, denn die Aufklärung über die DDR-Sonderheime und Jugendwerkhöfe steht immer noch am Anfang.

    Nicole Glocke: "Erziehung hinter Gittern. Schicksale in Heimen und Jugendwerkhöfen der DDR". Mitteldeutscher Verlag, 336 Seiten, 16,90 Euro. ISBN: 978-3-89812-782-0