Mittwoch, 08. Mai 2024

Archiv

Inger Christensen: „Sich selber sehen möchte die Welt"
Wer diese Stimme gehört hat, vergisst sie nicht mehr

Die Dänin Inger Christensen gehört zu den bedeutendsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Nun erscheint ein eindrücklicher Band mit Texten aus ihrem Nachlass. "Sich selber sehen möchte die Welt" ist ein editorisches Ereignis.

Von Carola Wiemers | 06.02.2022
Die dänische Schriftstellerin Inger Christensen in der Akademie der Künste Berlin 2008
Die dänische Schriftstellerin Inger Christensen in der Akademie der Künste Berlin 2008 (imago / gezett)
Der Münsteraner Verleger Josef Kleinheinrich ist für seine Buchkunst und Künstlerbücher bekannt. Er gründete 1986 einen Verlag, um die skandinavische Literatur, vor allem die Lyrik, für den deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen. Inzwischen ist daraus eine einzigartige Bibliothek dänischer, schwedischer, norwegischer, isländischer Editionen geworden. Die Landschaft und Architektur des Nordens prägten die verlegerische Handschrift, mit der Kunstwerke in Buchform geschaffen werden.
Seit Jahrzehnten fühlt sich Kleinheinrich dem Werk Inger Christensens in besonderer Weise verbunden. Bereits 1989 erschien die Erzählung „Das gemalte Zimmer“ mit Radierungen des dänischen Künstlers Per Kirkeby, 1991 der Roman „Azorno“, zwei Jahre später die Essays. Dann ihr lyrisches Werk: „licht“, „gras“, „das“, „Brief im April“, „alphabet“ und „Das Schmetterlingstal“.
Ein editorisches Ereignis ist auch das Buch „Inger Christensen: Sich selber sehen möchte die Welt“. Es basiert auf der 2018 bei Gyldendal veröffentlichten dänischen Publikation „verden ønsker at se sig selv“, herausgegeben von Peter Borum und Marie Silkeberg. Diese enthält Lyrik, Prosa, Essays und eine Vielzahl von Entwürfen sowie Faksimiles, die nie als Buch erschienen sind, abgelehnt wurden oder unvollendet blieben. Bis zur Veröffentlichung 2018 waren sie nur im Archiv der Königlichen Bibliothek Kopenhagen zugänglich. 
Bei der von Klaus-Jürgen Liedtke und Peter Borum getroffenen Auswahl handelt es sich um eine lesefreundliche Fassung. Anhand literarischer Fundstücke aus fünf Jahrzehnten spannt sich ein Bogen von Christensens schriftstellerischen Anfängen bis zu ihrem Tod. Der geheimnisvoll klingende Titel „Sich selber sehen möchte die Welt“ entstammt ihrem gleichnamigen Essay von 1978, der anlässlich einer Ausstellung des surrealistischen Künstlers Jørgen Boberg entstand und im Buch enthalten ist. 
„Man hat die Welt nie richtig gesehen, wenn man sie nicht geträumt hat. Geträumt, dass der kalte Baum den Arm voll Rosen hätte, oder geträumt, dass das Eis aus einer anderen Art von Sommer käme […] Sich selber sehen möchte die Welt. – Und muß daher, nicht sich selbst, aber ihre Seinsweise in den Träumen der Menschen sichtbar machen.“ 

Geheimnisvolle Gefolgschaft zwischen Sprache und Welt

Das Werk Inger Christensens Werk gehört zu wichtigsten des 20. Jahrhunderts, ihre formbewusste Lyrik zu den innovationsfreudigsten im europäischen Raum. Wer ihre Stimme einmal gehört hat, vergisst sie nicht.
1935 in Jütland geboren, absolvierte sie das christliche Lehrerseminar in Århus und wurde Volksschullehrerin, um genug Zeit zum Schreiben zu haben. Nebenbei besuchte sie auch Vorlesungen in Medizin, Chemie, Mathematik, Physiologie. Ihre Neugier an den Naturwissenschaften war ebenso groß wie an den Geisteswissenschaften, der Linguistik, an den darstellenden Künsten und der Musik. 
In Interviews verwies sie darauf, dass der französische Strukturalismus, vor allem Claude Lévi-Strauss, sowie die generative Transformationsgrammatik Chomskys die Schreibanfänge begleiteten. Aber auch die Präpositionstheorie Brøndals weckte ihr Interesse, weil es da um Relationen in der Sprache geht. Denn die Poesie war für sie nur eine von „vielen Erkenntnisformen des Menschen“, wie sie 1992 im Essay „Der Geheimniszustand“ schreibt.
„Vielleicht kann die Poesie gar keine Wahrheiten sagen; aber sie kann wahr sein, weil die Wirklichkeit, die mit den Worten folgt, wahr ist. Diese geheimnisvolle Gefolgschaft zwischen Sprache und Wirklichkeit ist die Erkenntnisweise der Poesie. Ein Mysterium, das sehr wohl der Geheimniszustand sein könnte, von dem Novalis spricht, wenn er sagt: 'Das Äußre ist ein in Geheimniszustand erhobnes Innre'.“
Zu den ersten Lektüreerfahrungen gehörten während der Schulzeit Goethe und Heine, später auch Rilke. Die deutsche Sprache, ihr Klang, wirkten enorm anziehend auf die sprachbegabte Lyrikerin. Sie prägte ihren „Einfallswinkel auf die Weltliteratur“, wie sie noch Jahre danach betont.
Christensen übersetzte Johannes Bobrowski, Wolfgang Hildesheimer und Peter Handke sowie Kleists „Penthesilea“ und Euripides‘ „Medea“. Als 1981 ihr Gedichtzyklus „alphabet“ erscheint, da ist sie bereits eine bekannte Schriftstellerin, kommt sie noch einmal auf diese frühe Erfahrung zurück
„Ich weiß nicht, ob ich mich getraut hätte, es auf diese Weise zu machen, hätte ich nicht diese Wurzeln gehabt. Auch wenn ich Rilke heute nicht lese, sehe ich ihn ... als etwas, das in mich eingesunken, zu einer Art Grundwasser geworden ist.“ 
Neben dem deutschsprachigen Kanon stand natürlich die skandinavische Literatur. Die Lektüre empfand sie als eine wunderbare Begegnung mit einem „Zeichensystem, das bereits existierte und in das man ganz einfach hineinspazieren“ konnte. Auf diesen Spaziergängen, die in den darauffolgenden Jahren immer intensiver wurden, entdeckt Christensen das, was sie die labyrinthische Architektur der Sprache nennt. 

Dichtung ist „ein Gewächs aus Wasser und Stein und Wörter“

Mit „Sich selber sehen möchte die Welt“ wird an eine experimentierfreudige, der Sprache verpflichtete Intellektuelle erinnert, deren erster Gedichtband „Licht“ 1962 mit den Versen begann: „Stehe ich / alleine im schnee / wird klar / daß ich eine uhr bin / wie sollte die ewigkeit sich / sonst zurechtfinden“. 
Nun sind weitere Gedichte aus diesem zeitlichen Umfeld zu lesen, in denen die Worte wie helle und dunkle Punkte im Universum erscheinen. In klaren, kontrastierenden Sprach-Bildern zeichnet sich bereits jener poetische Kosmos ab, der in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt und verfeinert wurde. 

 

            Leichter Schnee zwischen Zweigen

            grau und weiß –

            später

            Schnee und Zweige in einem

            in einem Schmerz 

 

            in einer Eigensinnwelt

            mit leisem Finger

            und grauen Adern

 

            Ich weiß noch: eine weiße Lilie

            Ich weiß noch: ein grauer Fluß

 

            Herz! 

 

Christensens Poetologie entstand und verstand sich als Teil einer vorhandenen Welt von Systemen: mathematischen, sprachlichen, biologischen, philosophischen. In der kritischen Auseinandersetzung sowie im lustvollen Dialog mit ihnen entwickelt sie eigene Schreib-Systeme, um nicht dem „Spiel der Zufälle“ ausgeliefert zu sein.
„Die Systeme helfen dabei, etwas herauszubekommen, das anderswo herstammt, nicht bloß aus der eigenen ‚Seelentiefe’ […] Da ich als Mensch die ganze Zeit mit Formen von Systemen konfrontiert werde, will ich, dass auch die Gedichte, die ich schreibe, in der Begegnung mit etwas Ähnlichem geschaffen werden. Auf diese Weise kommt etwas heraus, Gedichte, die eine Kombination aus der Welt und mir selbst sind, und das werden Gedichte, die anders sind, als wenn ich bloß von meiner eigenen privaten Welt aus schreibe.“ 
So baut das Großgedicht „das“ auf dem Spiel mit der Zahl 8 und grammatischen Termini auf, während das Kompositionsprinzip in der Gedichtsammlung „Brief im April“ von der Musik Olivier Messiaens inspiriert ist. Im Gedichtzyklus „alphabet“ werden die Proportionen der Verse und deren innere Relationen vom dänischen Alphabet und der sogenannten Fibonacci-Folge bestimmt. Einer mathematischen Wachstums-Formel, die auch in der Natur zu beobachten ist. „alphabet“ beginnt mit den bekannten Zeilen        

            

die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es

 

            die farne gibt es; und brombeeren, brombeeren

            und brom gibt es; und den wasserstoff, den wasserstoff

 

            die zikaden gibt es; wegwarte, chrom

            und zitronenbäume gibt es; die zikaden gibt es;

            die zikaden, zeder, zypresse, cerebellum
Die Sprache reagiert nach dem Fibonacci-Prinzip, und bleibt doch ein „wunderbares und fruchtbares Geheimniß“, so die Lyrikerin, indem sie Novalis zitiert. Der Reiz des Zufälligen, Unverhofften, Geheimnisvollen ist ein Motor für Christensen. 

Eine „gewöhnliche Sterbliche“, die nur selten die Orientierung verliert

„Sich selber sehen möchte die Welt“ eröffnen zwei auf Deutsch geschriebene Akrostichons aus den Jahren 2002 und 2007. Aus den Anfangsbuchstaben der Verszeilen lassen sich die Namen der Lyriker Thomas Kling und Oskar Pastior zusammensetzen. 
Im deutschen Original liegen auch die darauffolgenden neun Haikus vor, geschrieben zu August Mackes Bild „Garten mit lesender Frau am Thuner See“, wie den Anmerkungen zu entnehmen ist. 
Eine interessante Lektüre vermitteln vor allem jene Gedichte, die vor 1969, also vor dem Durchbruch der Lyrikerin stammen, und die verstreut in Zeitschriften oder Anthologien veröffentlicht wurden. Oft sind es zarte, suchende Wortgebilde, in denen die „Welt“ in archaischen, mitunter existentialistischen Bildern erscheint, wenn es heißt: „der reine Hunger / der reine Schnee / frühe Schreie / vor Wonne und Schmerz / in einem blendenden / klaren Laut / den niemand hörte“.
Aufgenommen wurde auch das Gedicht „Regenzeit“. Es war 1955 Christensens erste Veröffentlichung in der dänischen Zeitschrift „Hvedekorn“. Das in Reimen geschriebene Gedicht wurde von Hanns Grössel, der die meisten Bücher der Dänin ins Deutsche übersetzt hat, reimlos nachgedichtet. Seit 2010 gibt es jedoch eine gereimte Neuübersetzung von Klaus-Jürgen Liedtke. Grössel und Liedtke sind ausgewiesene Kenner der skandinavischen Literatur und wurden für ihre philologische Leistung vielfach ausgezeichnet. Beide Versionen erscheinen nun erstmals nebeneinander. 
Auch das Widmungsgedicht „Stilleben“ für den dänischen Lyriker Thorkild Bjørnvig wurde in zweifacher Übersetzung aufgenommen. Der Abdruck des jeweiligen dänischen Originals wäre in diesem Kontext eine interessante Ergänzung gewesen.
Ein schöner Dialog ergibt sich derweil zwischen dem Gedicht „Regenzeit“ und dem Essay „Ich bekam eine Eins in Klammern“, in dem sich Christensen an den Moment der Entstehung erinnert.
„Es war eines Abends draußen an der Mole im Svanmøllehavnen. Es war dunkel und blies kräftig. Ich lag auf einer Bank und lauschte den Wellen, und plötzlich bemerkte ich, wie mir ein Satz im Kopf pochte […] ich lief den ganzen Weg nach Hause und schrieb die Zeile auf, und sie wuchs sich quasi von selbst zu vier mal vier gereimten Zeilen aus.“ 
„Regenzeit“ in der Nachdichtung von Grössel endet mit
Einen Meeressturm erwarte ich, stark und wüst,

            der ein Fest um mein Haus fegt –

            doch das Pferd steht gezügelt da, still und weiß,

            ohne wildes Gemüt und das Brausen der Winde.
Christensens Arbeit für das Radio, für Zeitschriften, Magazine, Ausstellungskataloge war äußerst umfangreich. Sie nutzte die Medien. Wieviel verlorenging, ist nur zu ahnen. 
So ist den Nachweisen zu entnehmen, dass dort, wo das dänische Original fehlte, aus französischen Veröffentlichungen übersetzt wurde. Für ein deutsches Lesepublikum hätte man sich diesen informativen Anhang noch umfangreicher gewünscht. So werfen die recht knapp gehaltenen Anmerkungen mitunter Fragen zum Textmaterial und den zeitlichen Kontexten auf.
Unter der in den 1970er und 80er Jahren entstandenen Prosa befindet sich eine Erzählung mit dem Titel „Abendschatten“. Sie wurde bereits 1985 in einer dänischen Anthologie veröffentlicht und ist nun erstmals in der deutschen Übersetzung von Klaus-Jürgen Liedtke zugänglich. In dieser Erzählung spricht die Votivstatuette, die sich im Etruskischen Museum im toskanischen Volterra befindet, über ihre Herkunft und die zeitlich weit vor ihrer Musealisierung liegende etruskische Geschichte.
Die Erzählstruktur erscheint wie ein Palimpsest, in dem ihr Name „Ombra della sera“, der vom italienischen Dichter Gabriele D’Annnunzio stammen soll, ebenso eingelagert ist wie die Geschichte der berühmten „Volterraner“ Bronzegießer. Mit dem „Abendschatten“ führt Christensen ihre literarische Kunstbetrachtung fort, wie sie in einer Vielzahl von Gedichten, aber vor allem in „Das gemalte Zimmer. Eine Erzählung aus Mantua“ angewandt wird. Italien, das literarische Sehnsuchtsland schlechthin, war für sie eine besondere Inspirationsquelle. Mit dem „Abendschatten“ spannt sie nun ihren Meridian zwischen Volterra und Mantua. Und so wird der „Ombra della sera“ bei einer künftigen touristischen Wiederbegegnung viel zu erzählen haben.

Sturm und Drang auf Perserteppich

Eine künstlerische wie wissenschaftliche Kreativität war für Christensen ohne das Wissen um die Geschichte, auch die eigene, undenkbar. Ihre Existenz als Schreibende verstand sie als ein Eingebundensein in bereits vorhandene Prozesse. 
So durchstreift die 40Jährige in „Die Beine denken von selbst“, geschrieben zum 650. Jubiläum ihrer Geburtsstadt Vejle, nochmals die dänische Kindheit
„Wenn ich jetzt, nach so vielen Jahren, durch Vejle spaziere, habe ich eine direkte körperliche Empfindung davon, daß die Beine nach Hause zurückkehren. An allen möglichen anderen und späteren Plätzen auf der Welt wird man nie ganz frei davon zu überlegen, wie man gehen muß. Hier aber, wo man seine ersten Schritte machte, ist es, als ob die Beine von selbst denken, so daß man auf eine besondere Weise geht, eine selbstverständliche, beinahe vollautomatische Weise, denn man geht in der Stadt, mit der man aufwuchs und die einem zu einem Teil des eigenen Ortssinns und einem lebenslangen Maßstab für das Stadtbild als solches wurde.“ 
Eine ähnlich erhellende wie vergnügliche Lektüre ist Christensens „Wanderung in der alphabetischen Natur“. Bereits 1981 in einer dänischen Anthologie erschienen, hat sie Hanns Grössel nach ihrem Tod wiederentdeckt. Während der Übersetzung sei er „noch einmal durch Ingers ganze alphabetische Natur gewandert“. 
Eine weitere Entdeckung ist der in deutscher Sprache geschriebene und 1999 im NDR gesendete Radiobeitrag „Meine Schallplatten – Am Mikrofon: Inger Christensen“. Er beschließt das Buch und liest sich wie eine Bestandaufnahme in eigener Sache. Zu erfahren ist, wie sehr ihr Schreiben thematisch, kompositorisch und rhythmisch immer wieder von der Musik inspiriert wurde: von Bach, Schubert, Beethoven, Stravinsky. 
Die Musik hatte für Christensen eine mnemotechnische Funktion, um vergangene Ereignisse sowie „physische und geistige Räume“ wieder ins Gedächtnis zu holen. So wird es durch Beethovens Violinkonzert in D-Dur möglich, den einstigen chaotischen Zustand jugendlicher Sehnsucht zu vergegenwärtigen.
„Das Einmalige an der Musik ist vielleicht gerade, daß das Verhältnis zwischen Bewußtsein und Welt mühelos und selbstverständlich scheint und wir uns, jedenfalls solange die Musik anhält, als Teile von etwas Umfassenderem bewegen können, das ohne weiteres dasjenige versteht und ausdrückt, was wir selber nie verstehen. Und nur in der Musik ausdrücken.“ 
An bizarre Gewächse und architektonische Gebilde, an Traumgewebtes erinnern die 96 Aquarelle von Olav Christopher Jenssen, die das Buch wie ein Fries durchziehen. Zartfarbig und figural abstrakt bilden sie mit der synästhetischen Buchstabenwelt Christensens einen einzigartigen Klangboden. Solch Reichtum in Buchform ist selten zu begegnen.
Inger Christensen: „Sich selber sehen möchte die Welt"
Gedichte, Erzählungen und Essays aus dem Nachlass
Mit 96 Aquarellen von Olav Christopher Jenssen
Herausgegeben und aus dem Dänischen von Klaus-Jürgen Liedtke mit einigen Übersetzungen von Hanns Grössel
Kleinheinrich Verlag, Münster. 376 Seiten, 40 Euro.