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Wer ist das Volk?
Wandel und Missbrauch eines Gruppenbegriffs

Die DDR-Bürgerrechtsbewegung stellte mit diesem Satz die Machtfrage: "Wir sind das Volk." Pegida und AfD geht es heute um eine Abgrenzung, wenn sie diesen Satz wiederholen. Und das hat historische Tradition, wie Michael Wildt in "Volk, Volksgemeinschaft, AfD" ausführt. Er kommt zu dem Schluss, dass der Begriff "Volk" unbrauchbar ist.

Von Henry Bernhard | 27.03.2017
    Die Teilnehmer einer Gegendemonstration stehen am 24.01.2015 in Erfurt (Thüringen). Anlass ist eine geplante Kundgebung des Pegida-Ablegers Pegada (Patriotische Europäer gegen die Amerikanisierung des Abendlandes) auf dem Erfurter Domplatz.
    In Erfurt demonstrieren Teilnehmer einer Kundgebung gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. (dpa / Michael Reichel)
    Björn Höcke: "Ich liebe mein Volk."
    Björn Höcke + Menschenmasse: "Wir sind das Volk!"
    Wer ist das Volk? Sind es die, die es auf dem Erfurter Domplatz lautstark herausbrüllen?
    Björn Höcke + Menschenmasse: "Lumpenpack!"
    Gehören dann die anderen, die von diesem "Volk" als "Volksverräter" und "Lumpenpack" beschimpft werden, nicht zum Volk?
    Angela Merkel: "Und deshalb muss man sagen: Alle sind das Volk."
    Oder sind "alle" das Volk – ungeachtet der Nationalität, gewohnt unpathetisch erklärt? Wer ist das Volk? Dieser Frage stellt sich der Historiker Michael Wildt in seinem schmalen Band "Volk, Volksgemeinschaft, AfD".
    Wildt ist Spezialist für die Volksgemeinschaftsideologie, die Ende des 19. Jahrhunderts auftauchte und die homogene "Gemeinschaft" gegen die heterogene und von Widersprüchen gezeichnete "Gesellschaft" in Stellung brachte. Wildt will keine umfassende Analyse liefern, sondern eine "historisch-politische Intervention". Dies – so viel vorab – ist ihm gelungen. Er macht zunächst einen kurzen Ausflug in die Begriffsgeschichte des "Volkes":
    "Der Begriff Volk führt stets die blutigen Kämpfe, die in seinem Namen geführt werden, mit sich: die Abgrenzungen nach oben und unten, nach innen und außen. Das Staatsvolk will nichts gemein haben mit dem Pöbel; allein das Wort Volksherrschaft ruft die Assoziationen Terror, Anarchie und Willkür hervor. Das auserwählte Volk Gottes glaubt sich gegenüber den ungläubigen Völkern in einer unzweifelhaften Position der Überlegenheit; das Volk zur Nation gekürt verwandelt die Bevölkerung eines Territoriums in eine Abstammungsgemeinschaft, die sich ebenfalls zur modernisierenden Herrschaft über andere Völker berufen fühlt."
    Die Bedeutung von "Volk" wandelte sich Im Lauf der Geschichte
    Wildt zeigt den Begriff des Volkes, im antiken Griechenland beginnend, als einen sehr wandelbaren: Zum "Demos" gehörten alle freien männlichen waffenfähigen Bürger einer Dorf- oder Stadtgemeinde, ausgeschlossen von politischen Entscheidungen blieben damit Frauen, Kinder, Sklaven und Fremde – und damit 85 Prozent der Einwohner. Der griechische Philosoph Aristoteles misstraute jedoch dem Demos und damit der reinen Demokratie, in der Demagogen, also begabte Redner, das Volk durch Schüren von Emotionen in ihrem Sinne beeinflussen könnten.
    Der Philosoph der Aufklärung, Jean-Jacques Rousseau, sah die Lösung im Gesellschaftsvertrag als Symbol der politischen Selbstermächtigung des Volkes. Nur im Moment der Versammlung sei bei Rousseau das Volk Volk, schreibt Wildt:
    "Von Rousseau aus entstehen in der Moderne sowohl die Konzeptionen der Homogenität und Identität des Volkes als auch die Versuchung, dass Gruppen oder Einzelne für sich in Anspruch nehmen, die volonté générale des Volkes zu exekutieren."
    Homogenität fordert einen hohen Preis
    Die Idee der Homogenität einer Ethnie durch Geschichte, Kultur oder gar durch "gemeinsames Blut" kommt im 18. Jahrhundert vor allem durch den Dichter und Geschichtsphilosophen Johann Gottfried Herder ins Spiel.
    "Kaum einer der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts vermochte eine einheitliche Nationalkultur aufzuweisen. Sie musste vielmehr, durchaus mit Zwang und Gewalt, erst geschaffen werden."
    Die Herausbildung der Nationen, der Zerfall der Vielvölker-Imperien brachten Gewaltexzesse, Vertreibungen, Völkermorde und erheblichen Assimilationszwang mit sich – im Dienste der Homogenität im Nationalstaat. In Deutschland entsteht der Begriff der "Volksgemeinschaft" schon vor dem Ersten Weltkrieg; in der Weimarer Republik wird er zur zentralen politischen Bedeutungsformel fast aller Parteien. Er verspricht Einheit, Selbstbehauptung, die Einhegung des Klassenkampfes, und er ist eine Reaktion auf eine dynamische, säkularisierte, pluralistische Gegenwart.
    Ausschluss statt Einverleibung - Das völkische Motto der NS-Zeit
    Auch Adolf Hitler macht die Volksgemeinschaft zum zentralen Begriff seiner Ideologie, allerdings mit einem grundlegenden Unterschied, so Wildt.
    "Bei aller Inklusionsrhetorik war bei den Nationalsozialisten die Volksgemeinschaft vor allem durch Grenzen, durch Exklusion bestimmt. Nicht so sehr die Frage, wer zur Volksgemeinschaft gehörte, beschäftigte die völkische Rechte als vielmehr, wer nicht zu ihr gehören durfte, eben 'Gemeinschaftsfremde', allen voran die Juden. In der Konstruktion des Volkes als 'natürliche Blutsgemeinschaft' war die rassistische, antisemitische Grenzlinie untrennbar eingelassen."
    Nicht mehr Assimilation, sondern Exklusion war die Methode, um Homogenität herzustellen. Eine Absage an ein Grundprinzip bürgerlicher Gesellschaft: die Gleichheit vor dem Gesetz. Und doch blieb die Volksgemeinschaft eine "Chiffre für das Zusammenstehen und das Helfen in der Not", wie Wildt schreibt, als positive Referenz der NS-Zeit, zur Nachkriegsgegenwart bis heute.
    "Es verwundert kaum, dass die Volksgemeinschaft eben dann wieder ins politische Vokabular zurückkehrt, wenn sowohl entfremdende Globalisierung, Vereinzelung, Verlust an Heimat und Solidarität kritisiert als auch Kriterien von Zugehörigkeit und Exklusion erneut politisch debattiert und ausgehandelt werden."
    Wildt hält den Begriff "Volk" für überholt und unbrauchbar
    Genau da kommt die AfD ins Spiel, die nicht etwa die Staatsbürger, sondern "das Volk" anspricht, das einer angeblich "korrupten Elite" gegenübersteht. Rechtspopulistische Parteien rücken wieder das Prinzip der absoluten Volkssouveränität in den Vordergrund, damit im Zweifel auch die Tyrannei der Mehrheit. Marc Jongen, "Parteiphilosoph" der AfD, verkündet, "Der Pass alleine macht noch keinen Deutschen." und fordert die Rückkehr zum Abstammungsrecht. Die Begriffe "Volk" und "Gemeinschaft" rücken in den Veröffentlichungen der AfD immer näher zusammen. Michael Wildt erkennt hier nicht den Versuch, nationalsozialistisches Gedankengut zu rehabilitieren, wohl aber den, völkisches Denken von vor 1933 wieder salonfähig zu machen.
    "Mit ihrem Verständnis und ihrer Gebrauchsweise des Begriffs 'Volk' macht die AfD deutlich, dass es ihr wiederum vor allem um Exklusion geht, um die Definition derer, die nicht zum 'Volk' dazugehören sollen. Die Diskussion um den Islam offenbart, wie rasch viele bereit sind, das Grundrecht auf freie Religionsausübung zu verweigern, wenn es um das Gefühl geht, 'die' gehören nicht zu 'uns'".
    Der Autor hält den Begriff des Volkes für anachronistisch, für überholt und unbrauchbar in einer individualisierten Moderne der zunehmenden Vernetzung und Globalisierung. Wir sollten seiner Ansicht nach das Pathos ablegen und unsere politischen Beziehungen als Gleiche vor dem Gesetz regeln. Michael Wildt leitet dies schlüssig, knapp und verständlich geschichtsphilosophisch her. Allerdings lässt er dabei die emotionale Komponente der Volksgemeinschaftsidee außer Acht und bietet hierfür auch keine Alternative.
    Michael Wildt: "Volk, Volksgemeinschaft, AfD"
    Hamburger Edition, 160 Seiten, 12 Euro.