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Wer ist schuld an den steigenden Kosten im Gesundheitswesen?

Remme: Die Kosten im Gesundheitswesen laufen aus dem Ruder. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat gestern das Rekorddefizit der gesetzlichen Krankenkassen bestätigt. Im ersten Halbjahr ist ein Minus von über fünf Milliarden Mark aufgelaufen. Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Gefragt, wie sich das in diesem Jahr noch ändern soll, war der Ministerin nicht viel mehr als ein Axelzucken zu entlocken. Und wer meint, mit all den Kosten kämen wir wenigstens in den Genus eines vorbildlichen Gesundheitssystems, der sah sich gestern auch darin getäuscht. Der Sachverständigenrat stellte dem System schlechte Noten aus. Eine gründliche Reform tut also Not. Doch die will rot/grün erst nach den Bundestagswahlen anpacken. Am Telefon ist nun Herbert Rebscher. Er ist Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen. Guten Morgen Herr Rebscher!

    Rebscher: Guten Morgen Herr Remme.

    Remme: Herr Rebscher, ist die Kostenentwicklung außer Kontrolle?

    Rebscher: Man muss glaube ich sehr genau gucken, woher kommen die Probleme. Die Probleme kommen zum einen daraus, dass wir im System natürlich Steuerungsmängel haben. Darüber reden wir seit Jahren und dort brauchen wir auch eine Reform. Aber wir haben auch ganz konkret zuzuordnende Belastungen, die durch die Politik selbst verursacht werden. Seit zehn Jahren werden uns rund 50 Milliarden aus dem System genommen zur Sanierung öffentlicher Etats anderer Sozialversicherungsbudgets, für die die Politik Beitragsverantwortung hat. Das ist schon ein Stück ein ganz unehrliches Spiel, was hier getrieben wird, dass man eine Kostenentwicklung beklagt, aber gleichzeitig dem System immer mehr Geld herausnimmt. Dort bräuchten wir mal einen kritischen öffentlichen Dialog.

    Remme: Herr Rebscher, ich hatte Sie aber nach einer Beurteilung der Kostenentwicklung gefragt. Ist diese außer Kontrolle oder ist das alles noch normal?

    Rebscher: Was heißt normal? In diesem Jahr nimmt uns die Politik wieder mehrere Milliarden. Dann kann man bei fünf Milliarden, die ich ganz genau zuordnen kann, nicht sagen, es sei etwas außer Kontrolle. Die Politik selbst nimmt uns das Geld heraus. Wir finanzieren in diesem Jahr die Steuerreform, die verkauft wird, als dass die Bürger dann weniger Steuern zahlen, aber niemand sagt, dass wir rund eine Milliarde Mark dadurch mehr Belastung in der Krankenversicherung haben, die natürlich bei gleicher Erkrankungshäufigkeit dann neu beitragssatzbelastend wirkt. Wir finanzieren einen Teil der Rentenreform über die Krankenversicherung. Wir haben ein neues Gesetz zur Rehabilitation, was 500 Millionen kostet. Und wir haben einen Gesetzentwurf, der ankündigt, dass Ärzte keine Arzneimittelbudgetobergrenze mehr haben, was dazu geführt hat, dass die Arzneimittelausgaben tatsächlich außer Kontrolle sind, nämlich mit 12, 14, 15 Prozent je nach Kasse.

    Remme: Was bedeutet denn diese Situation, Herr Rebscher, für die Beiträge der Versicherten?

    Rebscher: Wir haben der Politik seit gut einem Jahr ganz offen und sehr genau gesagt, dass diese Entwicklung dazu führen wird, dass die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung mit Beginn des nächsten Jahres im Schnitt bei rund 14 Prozent liegen werden und damit im Durchschnitt der deutschen GKV doch ein erheblicher Beitragssatzsprung von heute 13,6 auf eben 14 Prozent eintreten wird.

    Remme: Was bedeutet das für Ihre Kasse?

    Rebscher: Das wird je nach Kasse sehr unterschiedlich sein, aber es werden alle Kassen in diesem Problem stehen. Deshalb wird sich dort auch kaum jemand herausnehmen, es sei denn, man geht hier auf harte Risikoselektion, was ja mit die Ursache für die Finanzprobleme ist, wie es einige Betriebskrankenkassen machen, indem man 25jährige Junge versichert und dort natürlich keine Leistungsausgaben hat.

    Remme: Sie haben eben Durchschnittsangaben gemacht. Können Sie schon genauere Zahlen für die Angestellten-Krankenkassen geben?

    Rebscher: Die Angestellten-Krankenkassen liegen von ihrer Größe und Struktur in diesem Durchschnitt, so dass alle Kassen in Deutschland, die die Versorgung der Menschen organisieren, in diesem Problemstau stecken. Die Politik muss hier ganz schnell reagieren. Sie haben gefragt, was kann man tun. Man muss mittelfristig über das Wahljahr hinaus eine ganz gründliche Reform machen. Aber das nützt für die kurzfristige Situation wenig. Kurzfristig brauchen wir finanzwirksame Zurücknahmen der politischen Belastung. Hier sind die Vorschläge im Raum. Hier finanzieren wir Leistungsbündel, die ins Steuerrecht gehören, und hier finanzieren wir über steuerähnlich erhobene Sozialversicherungsabgaben und über die Krankheit der Menschen wesentliche Teile unseres Steuerbudgets. Herr Eichel ist der große Gewinner der Arzneimittelausgaben, und das gibt es im europäischen Vergleich nur in Deutschland.

    Remme: Vielen Dank! - Das war Herbert Rebscher. Er ist Vorsitzender des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen. Mitgehört hat der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe. Guten Morgen Herr Hoppe!

    Hoppe: Guten Morgen Herr Remme.

    Remme: Herr Hoppe, wenn man Herrn Rebscher zuhört, dann könnte man meinen, das ganze hat mit den Kassen oder gar mit den Ärzten nichts zu tun?

    Hoppe: Ja, ich bin erstaunt. Es kommt sicher nicht sehr oft vor, aber es gibt kaum einen Satz, den Herr Rebscher eben gesagt hat, von dem ich sagen würde er ist falsch. Es kommt aber natürlich noch mehr dazu. Die Kritik des Sachverständigenrates und das, was die Ministerin gestern dazu gesagt hat, deuten ja darauf hin, dass wir abgesehen von der Finanzierung - die Finanzierungskrise der gesetzlichen Krankenversicherung ist eigentlich das Thema nicht so sehr, sondern das, was sich danach abspielt - auch im System einige Stärken und Schwächen haben, die beseitigt werden müssen. Ich finde, der wichtigste Satz ist, dass wenn Geld eingespart würde, welches für so genannte Überversorgung ausgegeben wird, weil von bestimmten Therapiemaßnahmen oder anderem zu viel gebraucht wird, dies nicht ausreichen würde, um die Felder der Unterversorgung, die wir in unserem Gesundheitswesen haben, über die wir ja jahrelang klagen, zu finanzieren, was schon von sich aus begründet ist, abgesehen von den Begründungen, die Herr Rebscher gesagt hat, dass wohl der derzeitige Beitragssatz, wenn man ein Gesundheitswesen unseres Zuschnitts nicht aufgeben will, nicht vermeidbar ist.

    Remme: Kostentreiber - Herr Rebscher hat es gesagt - sind vor allem die Arzneimittelausgaben. Allein im Juli sind sie über 12 Prozent gestiegen. Das legt den Schluss nahe, die Ärzte sind Schuld?

    Hoppe: Ja, das ist aber nicht ganz richtig. Das ist eine Kombination aus mehreren Komponenten. Einmal darf man nicht verkennen, dass die Arzneimittelindustrie neue Medikamente auf den Markt bringt, die zum Teil auch alte regelrecht ersetzen, die dann als Innovation gelten und höhere Preise haben, weil sie patentgeschützt sind. Dann haben wir den zweiten Punkt, dass wir durch einen jahrelangen Budgetstopp einen großen Nachholbedarf hatten. Das ist ja vom Effekt her so ähnlich, wie wenn man einen Preisstopp macht. Den Ärzten waren früher die Hände gebunden, moderne gute Medikamente zu verschreiben, und sie haben dann die herkömmlichen genommen, die aber sicher in der Wirkung schlechter sind, und damit auch dazu beigetragen oder beitragen müssen, dass eine wie wir immer sagen suboptimale Versorgung von vielen Patienten eingetreten ist. Andere nennen das auch Rationierung. Das ist eine Frage der Semantik.

    Remme: Viele würden vermutlich sagen, ein Nachholbedarf der Ärzte was das Verschreiben angeht?

    Hoppe: Das kann man negativ oder positiv sehen. Für die Patientenbetreuung ist es auf jeden Fall jetzt besser. Sie können den Patienten, insbesondere krebskranken, aidskranken, das verordnen, was in der Kunst der Zeit liegt, was im Moment Stand der Wissenschaft. Hier glaube ich sollte man positiv sehen, dass sich das für die Patienten sehr positiv auswirkt und wichtig ist. Ich möchte davon eigentlich auch nicht wieder heruntergehen. Außerdem darf man nicht den Eindruck vermitteln, als wenn es sich um 14 Prozent im Vergleich zum vorigen Monat oder etwa handelt, sondern es handelt sich um jeweils 14 Prozent bezogen auf den Monat des Vorjahres. Das ist ein deutlicher Effekt, was vom Ist-Zustand her übrigens gar nicht stimmt, sondern das ist ein Gesetz, was noch in Aussicht steht, dass dieses Budget nicht mehr angewandt wird. Es hat aber schon die entsprechenden Befreiungen kann man geradezu sagen aus der Zwangsjacke der Budgetierung gegeben.

    Remme: Herr Hoppe, lassen Sie uns noch über einen anderen Punkt reden, der auch sehr in der Kritik steht, nämlich die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Die Ärztevereinigung auf der einen Seite, die Kassen auf der anderen, sie stehen am Pranger. Für den SPD-Politiker Klaus Kirschner, immerhin Vorsitzender im Gesundheitsausschuss, haben die kassenärztlichen Vereinigungen überhaupt keine Existenzberechtigung mehr. Hat er Recht?

    Hoppe: Er muss sich überlegen, was er da sagt, denn die kassenärztlichen Vereinigungen sind einmal gegründet worden, um sicherzustellen, dass aus der Selbstverwaltung der Ärzteschaft in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung im ambulanten Bereich, von Flensburg bis nach Mittenwald und von Aachen bis Cottbus, garantiert ist. Das ist über Jahrzehnte der Fall gewesen, auch in Zeiten wo Ärztemangel dadurch herrschte, dass man zum Beispiel Krankenhäuser mit einbezogen hat oder Ärzte, die im Angestelltenverhältnis tätig waren, nebenbei mit einbezogen hat, und mit vielerlei Maßnahmen. Dies ist immer sichergestellt gewesen. Wenn man das jetzt auflöst und die Ärzteschaft als Verhandlungspartner der Krankenkassen in den freien Wettbewerb entlässt, dann haben die Krankenkassen natürlich gute Karten, wenn ein Überangebot an Ärzten vorliegt, so dass die Ärzte sich gegenseitig als Konkurrenten betrachten müssen beim Verhandeln um Verträge mit den Kassen.

    Remme: Das ist aber in den meisten Fällen so?

    Hoppe: Nein, das ist nicht so und das wird auch immer weniger werden. In dem Moment, wo die Zahl der Ärzte in der Minderheit ist, wenn sie praktisch also eine Unterbesetzung haben, dann diktieren die Ärzte die Bedingungen. Das ist glaube ich nicht gut. Wir werden in mehreren Fachbereichen Ärztemangel bekommen, weil die nachwachsenden Ärztegenerationen nur noch zum Teil in die Patientenversorgung gehen. Viele machen anschließend andere Berufswege, weil sie unter den derzeitigen Bedingungen mit Patientenversorgung nichts mehr zu tun haben wollen. Insofern ist das eine hoch riskante Angelegenheit, dieses an sich aus dem Ausland als sehr vorbildlich angesehene Selbstverwaltungswesen Deutschlands zu zerstören. Ich würde empfehlen, das noch einmal gründlich zu diskutieren und nicht zu meinen, darin läge das Heil.

    Remme: Fehlt es denn der Selbstverwaltung dann an Kontrolle?

    Hoppe: Die Aufsicht ist ja durch den Staat gegeben. Das ganze sind ja überhaupt nur vom Staat verliehene Dinge. Der Staat hat dort die Endverantwortung, denn er ist ja für die Gesundheit der Bevölkerung verantwortlich und auch für die Gesundheitspolitik und die Krankenversicherungspolitik. Dass dabei vielleicht über Jahre hinweg durch die Kostendämpfungspolitik, die 25 Jahre lang betrieben worden ist, die Meinung sich festgesetzt hat, wenn wir Kostendämpfung machen, dann muss die Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen mit den Problemen, die sich daraus ergeben, fertig werden, und uns interessiert es nicht, wie sie fertig werden, da haben Sie schon Recht, dass dort den Angelegenheiten zu wenig Beobachtung geschenkt wurde. Das scheint sich aber jetzt wieder zu bessern, denn wir haben ja den "runden Tisch", an dem all diese Probleme diskutiert werden sollen, die dann schließlich in neue Gesetze münden sollen.

    Remme: Vielen Dank! - Das war der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe.

    Link: Interview als RealAudio