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"Wer nicht dopt, verliert"

Die neuen Vorwürfe gegen den Radsportverband UCI, mit Dopingsündern unter einer Decke zu stecken, seien für Insider nicht überraschend, sagt Wolfgang Stockhausen, ehemals Verbandsarzt im Bund Deutscher Radfahrer. Doping funktioniere als flächendeckendes System, in dem überall Stillschweigen herrsche.

Wolfgang Stockhausen im Gespräch mit Dirk Müller | 26.05.2011
    Dirk Müller: "Eine Ungeheuerlichkeit", schreibt die Süddeutsche Zeitung. Das Image des Radsports wird noch einmal miserabler, auch wenn das kaum vorstellbar ist. Jetzt stehen alle im Verdacht, das ganze System, die Doping-Kontrolleure, auch Dopinglabore, auch der internationale Radsportverband UCI. Wieder einmal ist Lance Armstrong Auslöser des Ganzen, sein ehemaliger Teamkollege Tyler Hamilton, der selbst wegen Dopings gesperrt war, hat in einem CBS-Interview behauptet, ich habe selbst gesehen, wie Lance Armstrong verbotene Bluttransfusionen erhalten hat. Dies die eine Nachricht, jetzt die andere. Laut Tyler Hamilton hat der internationale Radsportverband gemeinsam mit einem Schweizer Dopinglabor eine positive Dopingprobe von Lance Armstrong bewusst unterschlagen. - Ist der Radsport noch zu retten?

    Darüber sprechen wollen wir nun mit dem Mediziner Dr. Wolfgang Stockhausen, seit Jahren im Antidopingkampf engagiert, ehemals Verbandsarzt im Bund Deutscher Radfahrer. Guten Morgen!

    Wolfgang Stockhausen: Guten Morgen.

    Müller: Herr Stockhausen, stecken alle unter einer Decke?

    Stockhausen: Die meisten! - Die meisten. - Das ist ein System. Das funktioniert auch nur als System.

    Müller: Warum hat sich das so etabliert?

    Stockhausen: Der Sport hat sich selber professionalisiert und ist zu einem Riesengeschäft geworden. Gerade der Radsport ist insbesondere auch deswegen gefährdet, weil all jene, die für sich selber beschließen, eventuell sauber zu fahren, sich ausschließen von dieser Sportart. Insofern: Um dabei zu sein, muss man heute dopen.

    Müller: Das heißt, wer dopt, verliert?

    Stockhausen: Wer nicht dopt, verliert.

    Müller: Entschuldigung! Wer nicht dopt, verliert?

    Stockhausen: Wer nicht dopt, verliert. Der ist gar nicht erst dabei. Das ist für den Laien vielleicht gar nicht so ersichtlich, aber die Geschichte von Floyd Landis vor ein paar Jahren auf der Tour mit seinem Einbruch und dann dem Wiedererscheinen wie Phönix aus der Asche, die hat jetzt auch jedem gezeigt, wie Doping funktioniert und welche Wirkung Doping hat.

    Müller: Wenn wir jetzt Mitte der 90er-Jahre dieses Interview geführt hätten, dann hätte das jeder eingesehen. Seitdem gibt es harte Dopingkontrollen, es gibt ein internationales Regime, was das alles kontrollieren soll, es gibt den Aufschrei in der Öffentlichkeit, es gibt die Reaktionen in den Medien. Warum hat sich nichts geändert?

    Stockhausen: Der Sport ist zum Selbstläufer geworden, und gerade im Radsport sind ja die Hauptschaubühne die großen Rundfahrten. Dort wird das Geld verdient, das ist die hauptinteressante Bühne letztlich auch für die ganzen Sponsoren, und da wird im Prinzip die Musik gemacht. Wenn man jetzt aufdecken würde, müsste man im Prinzip die ganze Sportart zunächst mal abschaffen. Damit wäre alles am Boden und dann könnte man sie wieder aufbauen und dann müsste man aber auch der Öffentlichkeit sagen, dass man im Prinzip Jahre oder Jahrzehnte gelogen hat und dass die Ware, die man dann verkauft hat, auch in den Medien, eigentlich eine faule Ware war.

    Müller: Das heißt, alle Appelle beziehungsweise alle Bekundungen zu sagen, wir werden jetzt sauber, waren alle gelogen?

    Stockhausen: Mehr oder weniger ja. Man darf das nicht zu pauschal sagen. Es gibt saubere Fahrer, es gibt anständige, es gibt anständige Funktionäre, man darf das nie über einen Kamm scheren. Nur die sind still, weil es nützt nichts, wenn man sich hinstellt und schreit, ich war aber sauber und die haben alle gedopt. Ich kenne persönlich auch Beispiele. Aber im Prinzip, das Ganze funktioniert nur als System und genauso wie das eben in dem Kommentar auch kam, es ist viel flächendeckender, weil es funktioniert auch nur, wenn Labors mit eingeschlossen sind, wenn kontrolliert wird, und wenn überall Stillschweigen herrscht.

    Müller: Im Moment läuft ja der Giro d'Italia, ein bedeutendes Rennen, dann kommt im Sommer wieder die Tour de France. Das heißt, jeder Fan, jeder Begeisterte und auch jeder Kritiker, der kann sich im Grunde reinen Wein einschenken und sagen, das Dopen geht weiter?

    Stockhausen: Im Prinzip ja.

    Müller: Was heißt im Prinzip? Im Prinzip heißt, dass die großen Teams nach wie vor darauf setzen?

    Stockhausen: Ja, weil es hat sich im Prinzip nichts geändert. Die Verschleierungsmethoden sind diffiziler geworden, der Aufwand darum herum um das Dopen ist größer geworden. Aber wir müssen uns vor Augen führen: Die Substanzen, die im Moment auf dem Markt sind, sind so vielfältig, dass man da gar nicht mehr direkt hinterherkommt. Also man geht davon aus, dass man vielleicht 150 verschiedene Sorten EPO inzwischen hat. Beim Wachstumshormon, bei Wachstumsfaktoren hat man das Zählen aufgehört. Also dieser Kampf mit Dopingkontrollen, dass man jetzt die Hoffnung hat, einen direkten Nachweis von irgendeinem Verstoß zu finden, funktioniert nicht. Wir müssen uns in Zukunft mit indirekten Methoden auseinandersetzen, und dann muss man das auch wollen. Aber das kann gar nicht passieren, weil damit das etablierte System sich eigentlich selber abschaffen muss.

    Müller: Ich frage Sie dennoch noch mal danach, Herr Stockhausen. Kennen Sie Funktionäre, kennen Sie auch Ärzte, die sich redlich damit auseinandersetzen, die wirklich versuchen, es zu verhindern?

    Stockhausen: Ja! Nur die sind dann nicht mehr dabei. Die werden nicht gefragt. Ich bin deswegen auch ausgeschieden aus dem Ganzen.

    Müller: Welche Erfahrungen hatten Sie gemacht?

    Stockhausen: Na gut, das war um die Festina-Phase herum, und ich meine, das war auch eine Phase, wo das Doping wirklich dann flächendeckend wurde und wo jeder dann merkte, dass man ohne Doping nicht mehr mitkam. Und im Prinzip war der wesentliche Kommentar, den ich gehört habe, passen sie bitte auf, dass nichts auffällt. In der Situation, wo ich dann, sagen wir mal, meine Tätigkeit abgrenzen wollte, weil man wird ja konfrontiert mit Ansprüchen aus dem Bereich des Sportes, die nahezu selbstverständlich sind. Wie, du hast das nicht oder jenes nicht? Es wurde selbstverständlich erwartet, dass man Hämatokrit-Werte überprüft im Profibereich, was ich natürlich nicht gemacht habe, und da habe ich mich darum bemüht, um gewisse Richtlinien zu kriegen, dass ich eben nur ärztlich tätig bin und nicht in anderer Weise. Da kriegt man dann so viel Gegenwind und es stehen natürlich sofort genug andere Kollegen auf der Matte, die das Ganze dann übernehmen.

    Müller: Also Sie konnten sauber bleiben?

    Stockhausen: Ich war sauber.

    Müller: Sie haben in Freiburg gearbeitet, in der Uniklinik. Da waren viele Sportärzte ja beschäftigt, engagiert mit einem hohen Sachverstand. Viele davon sind der Versuchung, der Verlockung offenbar erlegen. Konnten Sie mit denen sprechen?

    Stockhausen: Ja.

    Müller: Und was haben die gesagt?

    Stockhausen: Von mir?

    Müller: Oder wie haben die Ihnen geantwortet auf Ihre Kritik?

    Stockhausen: Ja, ich würde das nicht so richtig sehen. Und mir wurde dann auch gedroht von der sportlichen Leitung einer Telefonfirma, dass man mich verklagen würde.

    Müller: Aber Sie haben mit den Kollegen darüber diskutiert?

    Stockhausen: Ja.

    Müller: Kein Einsehen?

    Stockhausen: Das hat man ja gesehen. Man hat das ja gesehen. Und wenn man das jetzt auch noch weitertreiben möchte? - Das Geschäft ging ja sehr strukturiert, also auch strukturierter, als ich mir das je hätte träumen lassen können, und wenn man dann noch mal sieht, wenn man die Rolle der UCI sieht: Ich glaube noch in dem Jahr, wo Telekom dann aufflog, wo der Betreuer dann dieses Buch da veröffentlicht hat, hat ja die UCI noch eine ganz große Kampagne gestartet wider das Doping und hat dann gerade dieses Team auch mit als Vorreiter dann in die Öffentlichkeit gestellt, die jetzt den anderen Teams zeigen sollten, wie jetzt wirklich sauber ist. Und wenn man dann nachträglich die ganzen Enthüllungen sieht, welch verlogene Situation das Ganze ist, dann fällt man da wirklich vom Glauben ab.

    Müller: Kommen wir noch einmal auf die große internationale Dimension zurück. Herbert Fischer-Solms, unser Sportredakteur, mit dem haben wir gestern natürlich über das Interview gesprochen. Er ist ja fest davon überzeugt, dass der Weltverband mit unter einer Decke steckt, dass er das System mitträgt, wie auch das eine oder andere Dopinglabor. Glauben Sie das auch?

    Stockhausen: Ja! - Ja. Das ist ein Insiderwissen, und diese Geschichten sind ja auch schon sehr, sehr alt. Dass die großen Veranstalter da sehr starke Einflüsse hatten, was und wie kontrolliert wird und wer kontrolliert wird. Das sind alles Insidergeschichten. Das ist nichts, was man so wirklich in der Öffentlichkeit erzählen kann, aber das ist nichts, was den, der eine Weile dabei war, in irgendeiner Form überraschen würde.

    Müller: Schauen Sie sich noch Radfahren an im Fernsehen?

    Stockhausen: Ja, ab und zu zappe ich da mal durch und sehe das. Ich meine, man kriegt dann immer wieder feuchte Hände, wenn man sieht, bergauf, bergrunter, aber sagen wir mal so, dass ich jetzt Ergebnisse verfolge, oder mir Gedanken mache, wer sitzt hinter dem Trikot, das nicht mehr, nein. Da ist das Ergebnis der Relegation im Fußball viel wichtiger für mich.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der Mediziner Wolfgang Stockhausen, ehemals Verbandsarzt im Bund Deutscher Radfahrer. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Stockhausen: Danke schön.