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"Wer sich nicht über die Wiedervereinigung freut, mit dem möchte ich nicht mal übers Wetter reden" - Zum 50. Jahrestag der DDR-Gründung

Remme: Der 07. Oktober, das war bis vor wenigen Jahren ein Feiertag im Osten Deutschlands. Es war der "Tag der Republik". Heute vor 50 Jahren wurde die Deutsche Demokratische Republik ins Leben gerufen. An deutsch-deutschen Gedenktagen mangelt es in diesen Wochen nicht. An die Gründung der Bundesrepublik vor 50 Jahren wird mit Festakten und feierlichen Reden erinnert und an die Tage der Wende wird erinnert. Sie jähren sich zum zehnten Male. Der 07. Oktober steht da im Schatten, obwohl als histori-sches Datum doch unstrittig: nicht nur als Gründungsdatum wichtig, auch als Ausgang für die Proteste gegen das Ost-Berliner Regime vor zehn Jahren am 40. Jahrestag der DDR. Denn danach ging alles rasend schnell. Gut zwei Wochen später, Ende Oktober 89, kam es hier im Deutschlandfunk zu einem denkwürdigen Telefongespräch zwischen der Bür-gerrechtlerin Bärbel Bohley im Osten und Wolf Biermann im Westen. Wir sind gleich mit Wolf Biermann verabredet, aber hören wir noch mal hinein in dieses Telefonat vom 24. 10. 89, wohl gemerkt zu einem Zeitpunkt, an dem die Mauer noch stand und die Stasi noch mithörte.

    Bohley: Wenn 300 Leute auf die Straße gehen, in die habe ich ein ganz großes Ver-trauen, dass die eigentlich ganz genau wissen, was Dialog ist und dass sich so etwas entwickeln muss und dass dazu Selbstkritik gehört und dass dazu gehört, dass Du auf unserer Demo am 04. Sehen kannst.

    Biermann: Du hast ja tolle Pläne!

    Bohley: Ja, habe ich.

    Biermann: Meinst Du, das ist möglich?

    Bohley: Wenn ...

    Biermann: Meinst Du wirklich?

    Bohley: Wenn es hinhauen sollte und wenn Selbstkritik da sein sollte, dann muss das möglich sein, dass Du hier für uns singst. Dann singst Du für uns alle. Und ansonsten wissen die ganz genau, dass Du nicht für sie singst.

    Biermann: Ach, Mensch, Bärbel, mach mir nicht den Mund wässerig!

    Bohley: Doch, wir möchten, dass Du ...

    Biermann: Ich möchte so, so gerne bei euch sein und singen oder Handstand ma-chen. Das ist mir egal. Auf jeden Fall bei euch sein, klar, Mensch. Dann bringe ich meine schöne, alte Weißgärber-Guitarre aus Marktneukirchen mit, auf der ich ja immer noch spiele.

    Bohley: Ja, am 4., Wolf!

    Biermann: Am 4.? Was, jetzt am 4.?

    Bohley: Um zehn lade ich Dich jetzt hier ein.

    Biermann: Oh, ihr Verrückten, ihr wunderbar Verrückten. Ich will das gerne, natürlich!

    Bohley: Also Du musst kommen. Es ist auch Zeit zum Leben vielleicht langsam.

    Biermann: Ach Mensch Du. Man kann es überhaupt nicht glauben, dass man dar-über überhaupt nachdenken darf.

    Remme: Ja, das war vor zehn Jahren. Wolf Biermann ist jetzt am Telefon. Guten Morgen Herr Biermann!

    Biermann: Na Sie rühren ja, Sie zotteln ja an meinem Herzen, wenn Sie mir das vor-spielen.

    Remme: Ja, das hatten wir vor. Was geht denn in Ihnen vor, wenn Sie das hören?

    Biermann: Oh Träume goldenes Wenn!

    Remme: Ist dieses Gespräch in Erinnerung geblieben?

    Biermann: Na klar! Das war ja ein Husarenstück damals, auch von Ihnen aus übri-gens, denn es war, wenn ich mich recht entsinne, zum erstenmal gelungen, eine soge-nannte Dreierschaltung zu machen, an drei Ecken: die Bärbel Bohley, ich an der anderen hier in Hamburg und Sie da in Köln. Köln/Ost-Berlin/Hamburg das war schon ein tolles Dreieck damals, heute ganz normal, damals geradezu exotisch, verrückt, unglaublich.

    Remme: Und man darf vermuten, die Stasi hörte mit.

    Biermann: Na ja, es blieb ihnen ja gar nichts Walter Ulbricht. Die hörten ja sowieso alles mit, alle Wichtigkeiten und alle Nichtigkeiten, und konnten eins vom anderen meis-tens nicht unterscheiden.

    Remme: Wissen Sie noch, wie es weiter ging? Gab es einen ernsten Versuch, am 04. November dort aufzutreten?

    Biermann: Ob ich das wohl weiß, Mensch! Ich bin mit meiner Weißgärber-Guitarre nach Berlin gefahren, wie die Bärbel es mich geheißen hatte, bin zu meinem Freund Jür-gen Fuchs gefahren, der damals ja noch lebte, und habe bei ihm übernachtet und bin dann am Morgen dieses Tages oder wann war das - - Ich sollte ja zu dieser Veranstaltung hin, und er hat mich noch mit der U-Bahn bis zum Bahnhof Friedrichstraße gebracht, in dieses Labyrinth der Gänge unter dem Bahnhof, wo die Stasi ihre Höhlen hatte und ihre Leute kontrollierte, die Besucherströme, und habe mich dort angestellt. Aber dann haben sie mich wie einen dummen Jungen wieder zurückgeschickt. Die waren natürlich gewarnt. Die wussten das. Die hatten mich schon erwartet. Und dann bin ich eben zurückgefahren nach West-Berlin und habe mit meinem Freund Jürgen Fuchs an der Glotze gesessen und habe mir diesen 04. November angeschaut im Fernsehen, dieses Millionen-Aufgebot an Menschen am Alexanderplatz mit ihren Losungen, die zum Küssen, die zum Wundern waren, diese Karikatur auf diesen Verbrecher Egon Krenz, der jetzt gerade seine gesam-melten Lügen verbreitet hat.

    Remme: Herr Biermann, wenn man sich diesen doch etwas tristen Dialog heute vor-stellt, die Probleme im Alltag, sie überwiegen ja doch, die Erinnerung an die Tage vor zehn Jahren, ist das ein gerechter Eindruck, oder muss man dort etwas zurechtrücken insofern, als dass man sich einmal in Erinnerung ruft, wie viel Glück wir eigentlich gehabt haben?

    Biermann: Nach meiner Meinung, das ist doch klar, haben wir Deutschen erstens bis zehntens Grund uns zu freuen, dass diese verfluchte Diktatur zusammengebrochen ist und dass die Teilung unseres Vaterlandes beendet ist. Wer sich darüber nicht freuen kann, Mensch, mit dem möchte ich nicht mal übers Wetter reden. Das ist doch widerlich, wer dermaßen das Maß der Dinge in der Weltgeschichte, in der wir uns bewegen, vergisst vor lauter Nägelbeißen und eigene Seelenläuse kratzen. Natürlich ist dann, wenn es passiert, alles viel komplizierter und langwieriger und schwie-riger als man gedacht hat. Das ist nun mal so im Leben. Dann kann man meinetwegen auch elftens wieder anfangen zu meckern, zu klagen und zu jammern. Das ist ja alles be-gründet. Aber erstens bis zehntens sollen wir wissen, wo Gott wohnt und wo der Mensch sich bewegt, und der bewegt sich auf einer sehr schwierigen Erde. Wir haben ein riesiges Glück gehabt!

    Remme: Herr Biermann, von 1953 bis _76 lebten Sie in diesem Staat, den es seit zehn Jahren nicht mehr gibt. Ist dieses Kapitel in irgendeiner Weise für Sie abgeschlos-sen, abgehakt?

    Biermann: Ich könnte sagen, jetzt ja, denn ich habe ein Jahr wieder in Berlin gelebt. Sie wissen, ich lebe ja seit der Ausbürgerung 1976 wieder in meiner Vaterstadt Hamburg, bin aber nun mit Kind und Kegel in Berlin gewesen, ein Jahr, habe dort gearbeitet. Und der Zusammenprall mit dieser hassgeliebten Stadt, insbesondere natürlich mit Ost-Berlin, wo ich ja hingehöre, hat mich bewegt, hat mein Gemüt erschüttert, im guten wie im schlechten. Ich habe neue Lieder und Gedichte geschrieben, "Paradies of Erden", natür-lich berlinerisch, ein Berliner Bilderbogen. In diesen neuen Liedern und Gedichten da ha-be ich im Grunde will nicht sagen den Sargdeckel draufgelegt, denn es ist ja keine Leiche, aber ich habe mit diesem Kapitel abgeschlossen zunächst mal. Was ist schon abge-schlossen in einem Menschenleben? Wenn man tot ist, dann ist abgeschlossen. Vorher gar nischt!

    Remme: Heute vor 50 Jahren, ich habe es erwähnt, wurde diese DDR gegründet. Haben Sie im Rückblick im Umgang mit diesem Regime in Ost-Berlin auch Fehler ge-macht?

    Biermann: Ich glaube, ich hatte gar keine Möglichkeit, Fehler zu machen. Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen?

    Remme: Aber immer!

    Biermann: Wenn die mich 1965 - da war ich 29 Jahre alt -, wenn die mich nicht ver-boten hätten im 11. Plenum mit Pauken und Trompeten, wenn sie mich nicht zum Staatsfeind gestempelt hätten, dann hätte ich Fehler machen können und wahrscheinlich sogar müssen. Wissen Sie, was ich gemacht hätte? Ich hätte genau wie die anderen her-umgeeiert und hätte versucht, Kompromisse zu machen und schlau zu sein, und wäre am Ende der Dumme gewesen wie andere auch. Ich wollte doch gerne der brave gute Junge sein, aber diesen schlechten Weg sozusagen haben sie mir abgeschnitten, den ich gerne gegangen wäre wie andere auch. Ich bin nicht als großer Held auf diese Bühne da gestol-pert, sondern ich wollte durchkommen wie andere Leute auch, meinem Affen Zucker ge-ben und meine Lieder singen und ein bisschen pfiffig sein, ein bisschen frech sein, aber den Drachen töten mit meinem Holzschwert, das war viel zu schwer für mich. Aber durch das Verbot, in das die mich hereingeknüppelt haben, blieb mir gar nichts weiter übrig, als tapfer zu sein.

    Remme: Herr Biermann, ist bei der Abwicklung der DDR nach 89 etwas auf der Strecke geblieben, was es Wert gewesen wäre zu erhalten?

    Biermann: Nein! Ich sage jetzt erst einmal kurz und falsch nein, in diesem kurzen Interview im Radio, weil ich bin nicht der Meinung, dass DDR und West-Deutschland, Bundesrepublik und DDR, dass das sozusagen zwei kompatible Computer sind, die man zusammenstecken könnte und müsste, damit aus beiden guten Elementen das noch bes-sere hervorgeht. Das halte ich für eine ganz und gar falsche Weltanschauung von Leuten, die es entweder nicht wissen oder davon leben, dass sie es nicht wissen.

    Remme: Helfen Sie uns zum Schluss noch bei einer Antwort auf die Frage, die sich viele stellen: Wie kann es sein, dass die Nachfolgepartei der SED, die PDS, heute in meh-reren ostdeutschen Bundesländern die zweitstärkste politische Kraft ist?

    Biermann: Das gefällt mir so wenig wie anderen Leuten. Ich würde aber eher umge-kehrt sagen: Es ist toll, dass nach zwei Diktaturen schon 80 Prozent der Leute keine Dik-tatur mehr wählen. Wissen Sie was? Mir fiel das auf in den letzten Tagen. Ich habe mich erinnert, es gab eine Meinungsumfrage in der Bundesrepublik, im Westen, nach dem Kriege, nach der Nazi-Zeit, nach 45, ein paar Jahre später. Die war anonym und reprä-sentativ. Wissen Sie, wie viele Leute damals die NSDAP gewählt hätten, wenn sie nur hätten wollen dürfen?

    Remme: Sie werden es mir gleich sagen.

    Biermann: Na ja, zufällig auch ungefähr 20 Prozent. Das ist kein Wunder. Die Skla-ven kommen aus der Sklaverei, und sie haben sich gewöhnt an die Fleischtöpfe, sie ha-ben sich gewöhnt an diese Sicherheit. Sklaverei ist ja auch ein wunderbar bequemes Le-ben, wenn man die Schnauze hält und sich beugt und alles tut was man soll.

    Remme: Vielen Dank! - Wolf Biermann war das im Deutschlandfunk