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Werkausgabe Klaus Merz
Ein Meister der Kürze

Zu seinem 70. Geburtstag erscheint eine Werkausgabe aus sieben Bänden zur Lyrik und Prosa von Klaus Merz.

Von Matthias Kußmann | 28.09.2015
    "Winter
    Der Himmel flockt aus
    ich gehe auf Eis.
    Kein offenes Haus
    die Nächte sind weiß.
    Die Liebe ein Hund
    treibt mich fort.
    Schneesterne im Mund
    halte ich Wort."
    Klaus Merz war 18, als er das Gedicht schrieb, und es zeigt, dass da einer auf dem Weg zum Schriftsteller war, der Gespür für Sprache, Klang und Bilder hatte.
    Merz hat das Gedicht in keinen seiner Lyrikbände aufgenommen, aber weggeworfen hat er es auch nicht. Gedruckt wurde es erst 2011 im ersten Band der Werkausgabe, die jetzt zu seinem 70. Geburtstag vollständig vorliegt. Sieben Bände Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays, ein Lebenswerk auf 2300 Seiten. Gut, ander Autoren bringen es in 50 Jahren literarischer Arbeit auf mehr Seiten. Aber Merz ist ein Meister der Kürze, was sich schon in dem frühen Gedicht zeigt. Er verknappt seine Texte extrem, ohne dass sie karg werden. Im Gegenteil: Die Konzentration auf wenige schlagende Wörter, Bilder und Rhythmen öffnet Räume für Gedanken und Assoziationen der Leser. Und: Die Texte sind sehr sinnlich, egal ob Lyrik oder Prosa. Merz hat Romane geschrieben, die nur 80 oder 100 Seiten haben – und dennoch eine ganze Welt enthalten.
    "Ich bin, glaube ich, eher ein vertikaler Erzähler, nicht ein horizontaler. Mein Versuch, es auf den Punkt zu bringen und diesen Punkt vielleicht auch glühend zu machen, dass das auch eine gewisse Wärme ausstrahlt, ist mein Anliegen und auch meine Passion."
    Klaus Merz wurde am 3. Oktober 1945 in Aarau geboren. In eine Familie, in der "Kranksein den Vorrang" hatte, wie er später schrieb. Sein großer Bruder war bei der Geburt gestorben, der kleine Bruder war behindert, litt an Hydrocephalus, auch "Wasserkopf" genannt. Merz' Vater war Epileptiker, die Mutter hatte Depressionen, beide starben früh. Von all dem spricht der Autor im Roman "Jakob schläft" von 1997, seinem bisher größten Erfolg. Der Roman ist aber keine Krankenlitanei, sondern erzählt farbig, voll skurriler Details, wie die Familie in den 1940er-, 50er-Jahren in der Schweizer Provinz ihren Weg geht. Merz gelingt es immer wieder, mit wenigen Zeilen Personen deutlich werden zu lassen. Etwa Franz, den Bruder des Vaters, der nach Alaska ausgewandert war und dann mit dem Flugzeug abstürzt:
    "Er hatte Hüte getragen, mit neun Fingern Harmonium gespielt, Gedichte aufgesagt und immer Kopfweh gehabt. Er konnte zaubern, schwere Motorräder fahren. Und fliegen. Wir rissen das Kalenderblatt mit seinem Todestag nie mehr ab."
    Nach dem Studium im Lehrerseminar unterrichtete Merz einige Jahre an Schulen, wurde früh Schulleiter, entschloss sich dann aber, als freier Schriftsteller zu leben. Ein Professor am Lehrerseminar hatte einmal von "erzählen und erzählen lassen" gesprochen. Den Satz hat sich Merz zu eigen gemacht, er könnte ein Motto für sein Werk sein, in dessen Zentrum die sogenannten kleinen Leute stehen.
    "Erzählen und erzählen lassen heißt ja auch, zuhören können. Es braucht oder bräuchte eigentlich nichts anderes als das, damit wir ganze Menschen würden."
    Merz ist ein Autor des Sowohl-Als-Auch, im besten Sinn. In seinen Büchern existieren Schreckliches und Wunderbares, Fatalismus und Hoffnung, Reales und Surreales nebeneinander. Für ihn gibt es nicht nur eine Wirklichkeit, sondern Wirklichkeiten, und die der Poesie ist nicht die schlechteste.
    Sein Werk hat vor allem einen Schauplatz: das Schweizer Wynental, an der Grenze der Kantone Aargau und Luzern. Hier ist er geboren und aufgewachsen. Und hier lebt er, unterbrochen von Aufenthalten in der Welt, bis heute. Es gab einfach keinen entscheidenden Grund, aus der Landschaft wegzugehen, sagt er. Mit der Schweizer Politik freilich steht er oft auf Kriegsfuß, mit Engstirnigkeit, Nationalismus und blindem Glauben ans Kapital. Einige Jahre war er für die Schweizer Sozialdemokraten politisch aktiv.
    "Das Wynental ist der Ort, von dem ich Übersicht zu gewinnen suche. Ich stoße ab von hier. Nicht aus Bösartigkeit, aber man muss immer irgendwo Boden unter den Füßen haben, sonst schwadroniert man ja in der Luft herum. Man muss, damit man ein bisschen in die Luft kommt, einen Gegenstand haben. Und mein Gegenstand ist das Wynental. Wenn man sich ein bisschen in die Luft bewegt, kriegt man auch ein bisschen Übersicht oder Einsicht in das, was läuft, rundherum."
    Vom Dorf Unterkulm, wo er sich in den 80er-Jahren ein Haus in Halbhöhenlage baute, fahren wir an einem warmen Spätsommertag durch Klaus-Merz-Land. Im Kindheitsdorf Menziken hat sich viel verändert. Das Elternhaus hat einen hässlichen Anbau bekommen, der Garten ist verschwunden, in der ehemaligen Bäckerei des Vaters ist ein Elektrogeschäft mit trostlosem Schaufenster. Die angrenzende Bahnlinie, die in "Jakob schläft" eine Rolle spielt, gibt es nicht mehr. Die Hauptstraße durchs Dorf wirkt zerrissen, fast wie ein Industriegebiet. Aber dann geht es raus in die Landschaft. Schmale Straßen, geschwungene Hügel, Felder, Wiesen, Schafe und Kühe. Auf einer Anhöhe mit weitem Blick halten wir an.
    "Weil sie auf der einen Seite den Blick frei gibt in die Alpen, wobei die Alpen - Gott sei Dank - weit weg sind. Aber sie sind da, der ganze Alpenkranz. Und auf der anderen Seite, der nördlichen gegenüber liegenden Seite, ist dann der Jura, ein altes abgetragenes Gebirge. Und zwischen diesen beiden Polen befindet sich die Schweiz. Also ich stehe im Epizentrum des Landes. Was aber noch viel wichtiger ist, dass auf der andern Seite, im Westen, sich der Turm des Landessenders Beromünster erhebt. Weil da die Welt hereingekommen ist und immer noch die Welt hereinkommt, und zwar die ganze. Und über diesem Stück Acker und Feld biegt sich auch ein großer Himmel. Und das ist der Grund, weshalb ich gemerkt habe, dass ich da eigentlich zuinnerst zuhause bin, weil so viel offen ist."
    Zurück in Merz'-Haus sitzen wir im Wohnzimmer, umgeben von Bildern an den Wänden – einige, abstrakt, kräftig, vom Schweizer Maler Heinz Egger, der mit Merz befreundet ist und dessen Buchumschläge illustriert. Der Autor ist ein Augenmensch, in der Werkausgabe gibt es einen ganzen Band mit Texten über Kunst. Auch in ihnen erzählt Merz mehr, als er erklärt.
    "Ich glaube schon, dass Literatur primär die Aufgabe hat, darzustellen, und nicht zu erklären. Deshalb die Nähe, glaube ich auch, zur darstellenden Kunst, dass ich eben nach Bildern suche, für die Augen, aber auch für den Kopf oder fürs Denken. Ich glaube, Explikation ist der Tod der Poesie."
    Vor sechs Jahren erschien mit "Der Argentinier" Merz' letzte größere Prosa. Die sanft ironische Novelle handelt von einem Auswanderer, der Gaucho werden will, den aber ausgerechnet der Heuschnupfen zurück in die Schweiz zwingt, wo er schließlich die Liebe findet. Wird es noch einen Roman geben?
    "Gestartet als 16-, 17-Jähriger bin ich mit Gedichten, bin dann in die Prosa eingebogen und jetzt denke ich, in meinem achten Jahrzehnt könnte es sein, dass ich wieder ausbiege allein mit Gedichten."
    Für übernächstes Frühjahr plane er einen neuen Gedichtband, ergänzt Merz. Bis dahin bleibt uns das Vergnügen an der siebenbändigen Werkausgabe.
    Markus Bundi (Hrsg): "Klaus Merz: Werkausgabe in sieben Bänden"
    Haymon Verlag Innsbruck, 2352 Seiten, 149,00 Euro.