Archiv

Werkschau von Lucio Fontana in New York
Mehr als Messers Schneide

Lucio Fontana wurde mit seinen Schnittbildern weltberühmt. Doch jahrelang kam er ohne Leinwände aus. Das Met Breuer in New York zeigt, was man verpasst, wenn man den argentinisch-italienischen Künstler nur als Leinwandschlitzer sieht: eine Menge, zwischen Groteskem und Genialem.

Von Sacha Verna |
    Lucio Fontanas "Concetto Spaziale" im Musée d’art moderne von Paris, France, bei einer Ausstellung im April 2014. EPA/ETIENNE LAURENT |
    Lucio Fontanas "Concetto Spaziale" im Pariser Musée d’art moderne (EPA)
    Es mag manch einen überraschen, doch zum ersten Mal benutzte Lucio Fontana eine Leinwand erst 1949. Damals war er bereits 51 Jahr alt. Davor hatte der argentinisch-italienische Künstler sich als Bildhauer und mit Keramikarbeiten auf beiden Seiten des Ozeans einen Namen gemacht.
    So eröffnen die umfangreiche Werkschau im Met Breuer denn auch Frauenköpfe aus Terrakotta, Büsten aus den 1930er-Jahren und ein sitzender Athlet, der anderen entspannt bei ihren olympischen Anstrengungen zuzuschauen scheint. Kuratorin Iria Candela:
    "Fontana bevorzugte nasse Materialien wie Gips und Ton. Sie konnte er mit seinen Händen formen und dabei Kerben und Einbuchtungen hinterlassen. Das deutet schon auf die Schnitte von später hin. Er glasierte und bemalte diese Werke auch. Damit ging er über die Grenzen der Skulptur hinaus. Ihm missfielen die Trennungen zwischen den einzelnen Techniken und die Hierarchie zwischen den bildenden und dekorativen Künsten."
    Synthese sämtlicher Kunstgattungen
    Die Sujets von Fontanas Keramik aus den 1940er-Jahren reichen von Seesternen und Muscheln bis zum Heiligen Georg. Diese Objekte glitzern und glänzen wie später manche seiner Bilder, die er mit farbigen Glasstücken besetzte. Nur dass der Künstler da nicht mehr von "Bildern" sprach, sondern von "concetti spaziali", von "Raumkonzepten".
    Als Vordenker des "movimento spaziale", der sogenannten "Raumkunst" verfocht Fontana in mehreren Manifesten die Synthese sämtlicher Kunstgattungen und die Verschmelzung von verschiedenen Materialien und Techniken. Als er sich schliesslich der Bildfläche zuwandte, tat er dies als Bildhauer.
    "Er behandelt Bilder nicht als Flächen, sondern als dreidimensionale Objekte. Mit seinen Löchern und Schnitten öffnet er den Raum darin."
    Monstrositäten von spartanischer Eleganz
    Fontana experimentierte auch mit der Form der Leinwand. "La Fine di Dio", "Der Tod Gottes", heisst eine Serie von 1964. Diese Werke wirken, als hätte ein betrunkener Osterhase Dinosauriereier an die Wand geklatscht, sie mit Farbe übergossen und perforiert. Jedenfalls sind diese Monstrositäten in gelb und pink von der spartanischen Eleganz der "Tagli", der Schnittbilder Galaxien weit entfernt. Gelegentlich führte der Erfindungsgeist diesen Künstler nämlich durchaus ins Reich des Kitsches und des Grotesken.
    Doch eigentlich wollte Lucio Fontana das Bild- und Objekthafte vollständig hinter sich lassen. Das tat er in seinen "Ambienti". In diesen Installationen ist der Raum an sich der Protagonist, und der Betrachter, der sich darin bewegt, wird zum Mitspieler. Für die Triennale in Mailand schuf Fontana 1964 "Utopien". In einem stockdunklen Korridor folgt der Besucher einer Spur grüner Lichtpunkte auf Augenhöhe, als wären es die Brotkrümel von Hänsel und Gretel. Dabei empfindet man eine Mischung aus Orientierungslosigkeit und Verzauberung.
    Viel mehr als zerschnittene Leinwände
    Ähnliches gilt für "Ambiente Spaziale alla Luce Rossa" von 1967. Da verliert man sich zwischen Wänden und roten Neonröhren wie in einem kubistischen Labyrinth. Hier zeigt sich Fontana als Pionier der Installations- und Lichtkunst. Kuratorin Iria Candela zählt unter anderen Bruce Nauman, Dan Flavin und James Turrell zu seinen Erben.
    Das Met Breuer präsentiert Lucio Fontana in seiner ganzen Vielfältigkeit. Allein deshalb lohnt sich der Besuch dieser Ausstellung. Denn diesen Künstler auf zerschnittene Leinwände zu reduzieren, ist, als würde man bei Pablo Picasso nur blau sehen. Also komplett verfehlt.