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Westerwelle

Hohrmann: 'Noch eine Chance für die Liberalen', so hieß der Titel einer Streitschrift, mit der heute vor fast genau 30 Jahren einer Ihrer berühmtesten Vorgänger im Amt des Generalsekretärs der F.D.P., Karl-Hermann Flach, für eine Versöhnung zwischen Liberalismus und Sozialismus plädierte, wie sie dann in 13 Jahren sozial-liberaler Koalition in Bonn unter Brandt und Scheel, und Schmidt und Genscher auch versucht worden ist. Ist das nicht eine Erinnerung wert, Herr Westerwelle, wenn Sie an die bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, aber vielmehr noch an die Bundestagswahl in knapp zwei Jahren denken?

Helmut Hohrmann |
    Westerwelle: Karl-Hermann Flach ist einer der ganz großen Liberalen der deutschen Nachkriegsgeschichte, und ich bewundere ihn und seine Schriften. Er ist ja auch der maßgebliche Autor - zusammen mit Professor Werner Maihofer - der 'Freiburger Thesen' gewesen, dem wahrscheinlich bedeutendsten Grundsatzprogramm einer Partei überhaupt in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben angeknüpft an diese Tradition; und auch wir haben ja unsere Antworten auf die Freiheitsbedrohungen unserer Zeit aufgeschrieben und unsere Antworten angeboten in dem Grundsatzprogramm 'Wiesbadener Grundsätze der Freien Demokraten'. Und wir versuchen auch, diese Programmkommission und diese Programmdiskussion weiter zu entwickeln, übrigens anders heute als damals - heute in einer sehr viel breiteren Öffentlichkeit. Wir nutzen die neuen Technologien, machen ein Angebot: Unter 'www.buergerprogramm2002.de' kann man an dem Wahlprogramm der F.D.P. jetzt im Internet mitschreiben. Und ich glaube, Karl-Hermann Flach, der ein großer Programmatiker war, würde sich freuen über solche neuen Möglichkeiten.

    Hohrmann: Nun stand - als Überschrift gewissermaßen - über den 'Freiburger Thesen' das Sozialliberale, nicht nur das Freiheitliche allein. Ist das eine Komponente Ihrer Programmdiskussion, die es wiederzubeleben gilt, nachdem es ja anschließend in den 'Kieler Thesen' der F.D.P. etwas mehr zugunsten der Wirtschaft und ihrer Liberalität ging?

    Westerwelle: Vernünftige Wirtschaftspolitik heute ist die Voraussetzung für jede Sozialpolitik. Und dieser Zusammenhang ist mir in letzter Zeit zu kurz gekommen. Angela Merkel empfiehlt uns eine neue soziale Marktwirtschaft. Ich halte das für falsch. Wir brauchen die Wiederbelebung der alten sozialen Marktwirtschaft, denn das, was wir heute real existierend erleben, ist ja nicht soziale Marktwirtschaft, sondern bürokratische Staatswirtschaft. Der Staatsanteil in unserer Wirtschaft beträgt etwa 50 Prozent - die Staatsquote nämlich, die das ja ausdrückt, liegt bei etwa 50 Prozent. Und deswegen möchte ich, dass die Wirtschaftspolitik nicht als Gegensatz zur Sozialpolitik verstanden wird, sondern als soziale Leistung. Tatsächlich habe ich große Schwierigkeiten, wenn dem Wort 'liberal' eine Vorsilbe vorangestellt wird - sozialliberal, wirtschaftsliberal, linksliberal, rechtsliberal, nationalliberal. Das ist in meinen Augen die Hinzufügung einer Vorsilbe und gleichzeitig die Weglassung der anderen wichtigen Facetten des Liberalismus. Wenn Sie mich nach der Bündnispolitik fragen: Das kann man ohne programmatische Anleihen klar und kurz beantworten, nämlich dass die F.D.P. eine unabhängige, eigenständige Partei ist, die auch das Ziel hat, ohne Koalitionsaussage in die Bundestagswahl hineinzugehen. Und das zeigt auch, dass wir - heute wie damals - selbstbewusste Liberale sind, und das wird ja augenscheinlich, wie man den Umfragen entnehmen kann, vom Bürger honoriert.

    Hohrmann: Nun haben Sie bereits auf die Bundestagswahl geblickt. Blicken wir doch auf die Landtagswahlen, die bevorstehen. Im März, in Rheinland-Pfalz - denke ich - wollen Sie die dort bestehende SPD/F.D.P-Koalition fortführen, in Stuttgart die dort bestehende CDU/F.D.P.-Koalition. Wenn denn aber - im Blick auf Stuttgart - die Mehrheit für Union und F.D.P. nicht ausreichte - was ist Ihre Perspektive?

    Westerwelle: Ich zerbreche mir nicht den Kopf über Fälle, von denen ich mir sehr sicher bin, dass sie nicht eintreten werden. Die Union wird in Baden-Württemberg leicht verlieren, aber die F.D.P. wird gleichzeitig hinzugewinnen. Und so wird meiner Einschätzung nach - und das sage ich nach vielen Wahlkampfauftritten in Baden-Württemberg - diese Regierung fortgesetzt werden können, was ja das Ziel auch von Walter Döring und dem baden-württembergischen Liberalen ist. Diese Regierung in Baden-Württemberg hat ja außergewöhnlich erfolgreich gearbeitet. Seit Anfang dieses Jahres ist Baden-Württemberg Platz 1, was die Arbeitsmarktdaten angeht, das heißt niedrigste Arbeitslosigkeit, höchste Investitionsquote - im Vergleich aller Bundesländer. Und das ist ein Markenzeichen für eine gute Wirtschaftspolitik von Walter Döring. Warum sollte man da etwas ändern wollen?

    Hohrmann: Nun könnte man natürlich die Frage stellen, ob nicht diese wechselnde Koalitionsbereitschaft der F.D.P. auf Länderebene ihren Einfluss im Bund reduziert. Sie haben . . .

    Westerwelle: . . . wenn ich Sie unterbrechen darf: Ganz im Gegenteil. Gerade die Freiheit der Freien Demokraten in Koalitionsangelegenheiten gibt uns ja ganz neue Brückenfunktionen. Wir haben ja jüngst in den letzten beiden Jahren erlebt: Obwohl wir auf Bundesebene in Opposition sind, konnten wir zwei wesentliche Sachen durchsetzen, nämlich mit unserer Regierungsbeteiligung in Rheinland-Pfalz. Dass wir ein neues Staatsangehörigkeitsrecht bekommen - das eben nicht die doppelte Staatsangehörigkeit für alle vorsieht, sondern ein kluges Integrationsangebot für die hier geborenen Kinder ist -, dass dieses neue Staatsangehörigkeitsrecht jetzt in Kraft getreten ist, das ist das Verdienst der Freien Demokraten und unserer Regierungsbeteiligung in den Bundesländern. Wenn Sie beispielsweise die entscheidenden Mittelstandsverbesserungen nehmen, die bei der Steuerreform noch durchgedrückt werden konnten - ansonsten habe ich eine sehr kritische Meinung zu der Steuerreform -, dann waren diese Mittelstandsverbesserungen im Interesse neuer Arbeitsplätze auch das Ergebnis unserer Regierungsbeteiligung in den Ländern - denken Sie zum Beispiel, was die steuerliche Privilegierung der Veräußerungsgewinne beim Mittelstand angeht; etwas, was jeder deutsche Handwerker weiß und was ihm wichtig ist.

    Hohrmann: Nun könnte man doch aber sagen, nachdem Sie zusammen mit Wolfgang Gerhardt 1998 nach der verlorenen Bundestagswahl die klarste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag stellen wollten, dass mit solchen Kooperationen so konsensual Ihr klares Profil bundespolitisch verloren geht.

    Westerwelle: Da bin ich genau der gegenteiligen Auffassung, denn warum wird man in den Deutschen Bundestag gewählt? Doch nicht, damit man dort fundamental Opposition betreibt, ablehnt - nur um des Ablehnens willen. Das ist doch das, was die Bürger der Union zu recht vorwerfen. Die Union, die ja sehr kopflos und sehr führungslos ist, versucht ja, durch eine fundamentale Oppositionshaltung gegen alles Boden wett zu machen. Und das gelingt ihr augenscheinlich nicht. Die differenzierte konstruktive Haltung der Freien Demokraten, die sich am Wohle unseres Landes, am Wohle der Menschen orientiert, wird augenscheinlich anerkannt, denn die Union geht in den Umfragen runter - übrigens die Grünen jüngst auch -, die F.D.P. wächst deutlich. Und das ist das Ergebnis auch einer Oppositionspolitik, die klar ablehnt, was mit uns nicht zu machen ist - denken Sie an diese unökologische sogenannte Ökosteuer, denken Sie an die planwirtschaftliche Gesundheitspolitik, oder denken Sie in der Außenpolitik an die Absurdität, Isolation und Sanktionen gegen Österreich zu beschließen. Das lehnen wir klar ab, hier machen wir glasklare Opposition. Wir sind auf der anderen Seite aber immer auch bereit zur Mitwirkung, denn die Wähler haben rot/grün eine Mehrheit gegeben, und bis zu unserer erneuten Regierungsbeteiligung im Jahr 2002 werden wir dieses zu akzeptieren haben.

    Hohrmann: Nun haben Sie mitgewirkt bei der großen Steuerreform, Herr Westerwelle; die Union hat, mehr als Sie, mitgewirkt bei der Rentenreform. Wenn ich es aus der Sicht der Bundesregierung, der rot-grünen Koalition sehe, so könnte man süffisant sagen: 'Teile und herrsche, das ist doch ganz gut - im Umgang mit der Opposition -, dann haben wir als Rot-Grün doch letztendlich den Erfolg auf unserer Seite'.

    Westerwelle: Nein, denn jedermann hat feststellen können, dass die F.D.P. in der Rentenpolitik hier die Interessen der jungen Generation vertritt. Wir sind nicht bereit, hier eine Generationen-Ungerechtigkeit zu akzeptieren. Die Tatsache, dass wir künftig Rentenbeiträge insgesamt zu tragen haben von 26-27 Prozent - einschließlich der privaten Altersvorsorge, einschließlich der Ökosteuer, die ja angeblich auch der Rentenfinanzierung dienen soll - und dass gleichzeitig die Menschen, die heute arbeiten, die niedrigste und unsicherste Rente zu erwarten haben, das kann die F.D.P. nicht akzeptieren. Und deswegen gibt es hier klare Opposition zur Rentenpolitik von Herrn Riester. Wir lassen uns auf diese schiefe Ebene nicht ein, denn sie schadet der Rentensicherheit, der Beitragsstabilität und der Generationengerechtigkeit. Oder nehmen Sie ein anderes Beispiel, das jetzt gerade in dieser Woche ja beschlossen worden ist, nämlich die Absicht, das Betriebsverfassungsgesetz zu novellieren. Das heißt, obwohl wir sowieso schon international Weltmeister bei der Mitbestimmung sind, soll jetzt die Mitbestimmung auch noch ausgedehnt werden - ausschließlich zugunsten der Gewerkschaftsfunktionäre und nicht zugunsten der Arbeitnehmer - auf den Mittelstand. Das ist schädlich für die Arbeitsplätze, das ist schädlich für Investitionen in Deutschland. Und deswegen muss auch hier die F.D.P. ein klares Wort finden. Wenn die CDU, die ja selber immer solche sozialistischen und sozialdemokratischen Leidenschaften gelegentlich entwickelt hat, wenn die Union hier nicht diese klare Haltung einnimmt - um so wichtiger, dass es ein Kontrastprogramm auch zur Union seitens der F.D.P. gibt.

    Hohrmann: Aber was sind Ihre Alternativen? Sprechen wir einmal vom Rentenreformkonzept und vom Betriebsverfassungsrecht. Sie haben im Wiesbadener Programm einige angedeutet, nämlich eine stärkere Einbindung der Arbeitnehmer in die Verantwortung ihrer Betriebe - als Miteigentümer entweder oder als Teilhaber an der Vermögensbildung im Betrieb. Aber das können Sie ja nicht flächendeckend schaffen; dann picken Sie doch die Rosinen aus dem Kuchen.

    Westerwelle: Im Gegenteil. Wir sind der Meinung, dass es viel besser ist, wenn wir kein Volkseigentum in Deutschland haben, sondern ein Volk von Eigentümern. Je breiter der Besitz und das Eigentum an Unternehmungen und Unternehmen gestreut ist, um so besser für die Menschen, für den Wohlstand, für die persönliche Identifikation mit ihrer Aufgabe. Wem der Betrieb auch selber mit gehört, der fühlt sich auch ganz anders verantwortlich. Wer Teilhaber der Volkswirtschaft ist, zum Beispiel durch eine neue Aktienkultur, der fühlt sich eben auch für die Volkswirtschaft ganz persönlich anders verantwortlich. Das ist die liberale Antwort, nämlich das Vermögen auf mehr Schultern zu verteilen. Und deswegen haben wir ja auch - nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Gründen - die Privatisierungspolitik vorangetrieben, dass uns eben das, was früher dem Staat gehörte, heute selbst gehören kann, wenn wir das möchten - mit allen Risiken. Die Aktien gehen rauf und sie gehen runter, das ist nun mal so. Das ist doch ein wesentlicher Fortschritt.

    Hohrmann: Aber sagen nicht alle jüngsten Erhebungen - auch des IFO-Instituts - , dass sich das Vermögen in der Bundesrepublik nicht etwa gleicher verteilt, sondern sich immer stärker konzentriert auf einige wenige Vermögende? Und gibt es, solange die Diskussion über die breite Vermögensbildung besteht, nicht tatsächlich nur negative Ergebnisse?

    Westerwelle: Im Gegenteil. Ich nenne Ihnen eine andere Untersuchung, die ich viel spannender finde. Wir haben zum ersten mal in der ganzen deutschen Nachkriegsgeschichte mehr Aktienbesitzer als Gewerkschaftsmitglieder. Dass übrigens auch viele Gewerkschaftsmitglieder selber Aktien haben, erhöht auch deren volkswirtschaftlichen Betrachtungen. Und deswegen ist die breite Streuung - zum Beispiel über Aktienbesitz - ein wichtiger Hinweis und eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe. Dass das runtergehen kann, genau so, wie es spektakulär nach oben gehen kann, das muss jeder wissen. Wer will, dass er selber Eigentümer ist, weiß, dass auch Eigentum Risiken beinhaltet. Wer natürlich nur verwaltet werden möchte, der wird damit nicht zurechtkommen. Aber selbstbestimmte Menschen, die sagen: 'Ich will die Chancen in unserer Gesellschaft in der neuen Zeit nutzen', die werden damit hoch zufrieden sein.

    Hohrmann: Leuten, die ein wenig Angst vor dieser Entwicklung haben, antwortet Ihr Kollege, der Generalsekretär der SPD, mit dem Slogan 'Sicherheit im Wandel'. Lächeln Sie darüber, oder ist das nicht 'die' Parole, die zündend sein wird in den beginnenden Vorwahlkampf-Auseinandersetzungen?

    Westerwelle: Zunächst einmal ist das eine Floskel, nicht mehr. Da werden zwei Worte, die gut klingen, zusammengefügt; man hätte ja auch sagen können 'Wandel durch Sicherheit', 'Wandel mit Sicherheit', 'Sicherheit mit Wandel'. Das sind Wortspielereien, in irgendeiner Werbeagentur aufgeschrieben. Solche Vorschläge bekommt man jeden Tag fünfmal auf den Schreibtisch, wenn man Generalsekretär ist, und man sollte sich nicht verführen lassen, solche Parolen allzu ernst zu nehmen. Die sind nichts anderes als ein Werbeprodukt - zunächst einmal. Es kommt auf die Politik an, die dahinter steht. Und das ist eben keine Politik, die auf Wandel setzt, wenn die Mitbestimmung zugunsten von Gewerkschaftsfunktionären in Deutschland noch ausgeweitet wird - zu Lasten des Mittelstandes und der dort organisierten Arbeitsplätze. Das kann eben nicht vernünftig sein, wenn man sich die Herausforderungen der Weltwirtschaft anschaut. Notwendig sind kleinere Einheiten, Flexibilität, ist Privatisierung, ist schnelleres Reagieren auf neue Marktentwicklungen - und es ist nicht, den Koloss noch unbeweglicher zu machen als die Wirtschaft in Deutschland ohnehin schon ist, denn wir haben ja sehr starre Strukturen in Deutschland, sehr staatliche starre Strukturen. Und das sollte man aus unserer Sicht, aus Sicht der Freien Demokraten nicht verlängern, sondern korrigieren.

    Hohrmann: Aber hat sich nicht seit dem Amtsantritt von Gerhard Schröder und seit dem Rücktritt seines Finanzministers Oskar Lafontaine vor nunmehr fast genau zwei Jahren bei der SPD genau diese Tendenz des Denkens durchgesetzt? Man sieht es doch jetzt schon; durch die Annäherung von F.D.P. und SPD - etwa bei der Genomforschung, etwa bei der Reform des Gesundheitssystems - da tut sich doch was.

    Westerwelle: Also, dass die Genpolitik und die Genomforschungspolitik eine Angelegenheit ist, über die auch überparteilich gesprochen wird, das zeigt ja nur, dass Demokratie funktioniert. Das hat aber noch nichts mit weiteren Überlegungen zu tun. Aber die neue Mitte, die Herr Schröder mal gewinnen wollte, die hat er ja kräftig in den Hintern getreten; davon ist ja nichts mehr übrig. Ich will einfach mal sagen, woher das kommt. Um das Beispiel zum dritten Mal zu bemühen - das Betriebsverfassungsgesetz, weil es in meinen Augen ein Beispiel ist für die Geisteshaltung der Regierung, die dahinter steckt: 15 Prozent der Deutschen sind gewerkschaftlich organisiert, 83 Prozent der Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion sind aber gewerkschaftlich organisiert. Die SPD-Bundestagsfraktion hat ja eigentlich gar keine Unabhängigkeit gegenüber Gewerkschaftsfunktionärsinteressen. Und die Gewerkschaften haben sich dieses Gesetz erkauft bei der Bundestagswahl, nämlich mit den Millionen, die sie in den Wahlkampf für Rot-Grün hineingesteckt haben. Und Herr Schröder zahlt jetzt die Rendite an die Gewerkschaften zurück. Das ist eine Form der moralischen Korrumption, die wir jetzt bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes erleben.

    Hohrmann: Man könnte ihnen entgegenhalten, die Gewerkschaften haben damals den Slogan geprägt: 'Gegen weiteren Sozialabbau', und sie müssten sich heute eigentlich enttäuscht sehen, denn es ist weiter deutlich zurückgeschnitten worden, etwa in der Rentenversicherung. Und es droht auch ein Abbau von Sozialtransfer im Gesundheitswesen.

    Westerwelle: Ich muss Ihnen widersprechen, denn die Sozialstaatsquote ist entgegen aller Propaganda nicht zurückgegangen, sondern sie ist stärker gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Wir geben zur Zeit in Deutschland pro Kopf in der Bevölkerung - und zwar, ob Kind, ob Greis - etwa 14.000 Mark an Sozialleistungen aus. Wer will hier allen Ernstes die Behauptung aufstellen, wir seien auf dem Weg in die soziale Barbarei? Das ist Propaganda und dummes Zeug von Leuten, die sich um ihre eigenen Funktionärspfründe kümmern möchten. Das sind Leute, die sich gut im System eingerichtet haben, und das sind Leute, die auch auf Kosten der wirklich Bedürftigen leben. Und deswegen möchte ich einen Neuanfang in der Sozialpolitik und werbe auch dafür, dass wir nämlich die Hilfe auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. Wie kann es denn sein, dass wir pro Jahr pro Kopf in der Bevölkerung 14.000 Mark an Sozialleistungen ausgeben und gleichzeitig bei behinderten Kindern der Mangel verwaltet wird, bei chronisch Kranken Sie kaum noch eine vernünftige Essensdiät durchbekommen jenseits der Regelsätze? Wie kann das denn sein? Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass wir viel zu viel Streuverluste in unserem Sozialstaat haben, es hängt damit zusammen, dass wir nicht klar genug das Prinzip 'keine Leistung ohne Gegenleistung' - ohne die Bereitschaft zur Gegenleistung - durchsetzen. Ich bin der Meinung, wenn jemand jung ist, wenn jemand gesund ist und wenn jemand keine eigenen Angehörigen zu versorgen hat, dann ist es ihm zumutbar, dass er für das, was er vom Staat bekommt, auch eine Gegenleistung an die Gesellschaft erbringt, zum Beispiel in Form von gemeinnütziger Arbeit. Und wer dazu nicht bereit ist, obwohl er es kann, dem müssen die Sozialleistungen des Staates gekürzt werden. Wenn er immer noch nicht reagiert, dann müssen sie ihm notfalls auch gestrichen werden. Ich bin nicht länger bereit, zuzusehen, dass hier eine Gruppe - eine kleine Minderheit von Findigen - sich im System kostspielig einrichtet, und bei den wirklich Bedürftigen wird's immer knapper, da wird immer mehr der Mangel verwaltet. Das ist die eigentliche soziale Frage - die Treffsicherheit unseres Sozialstaates wieder vergrößern.

    Hohrmann: Haben Sie die ernsthafte Hoffnung, mit solchen unbequemen Thesen in zwei Jahren wieder in die Bundesregierung einziehen zu können - und wenn ja, mit welchem Partner von den beiden, die Sie ja gleichermaßen des Sozialdemokratismus verdächtigen?

    Westerwelle: Die große Mehrheit der Deutschen hat die Nase voll davon, dass hier hart erarbeitetes Steuergeld bei Menschen landet, die selber leisten könnten aber nicht leisten möchten, sondern lieber aus Kosten der Allgemeinheit leben wollen. Wohlgemerkt - die große Mehrheit der Betroffenen, die hat ein schweres Schicksal. Und genau die müssen ja geschützt werden. Und das Prinzip, dass wir die Schwachen auch vor den Faulen schützen müssen, das findet immer mehr Zustimmung in Deutschland. Ich glaube auch, dass die F.D.P. mit diesen und mit anderen Themen - die Bildungspolitik beispielsweise, neue mobile Verkehrspolitik als Kontrastprogramm auch zur grünen Staupolitik -, dass diese Themen geeignet sind, die F.D.P. ganz hervorragend bei der Bundestagswahl zu plazieren. Und dann wäre es mir am allerliebsten, wir hätten zwei etwa gleich große Volksparteien, und die F.D.P. könnte mit beiden Parteien verhandeln, mit wem sie am besten und am meisten liberale Politik durchsetzen kann. Unser Ziel ist es, die Grünen im Jahr 2002 aus der Verantwortung herauszubringen und blau-gelb in die Verantwortung hineinzubringen. Die Grünen sind dem Land nicht bekommen, das kann man erkennen. Die planwirtschaftliche Gesundheitspolitik ist ja nicht beendet, nur weil Frau Fischer weggegangen ist. Und in der Außenpolitik war die Zeit von Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel auch besser. Und diese Ökosteuer oder das konfuse Handeln bei der Atompolitik von Herrn Trittin, das überzeugt doch nicht. Ich glaube, die F.D.P. kann's besser, und so werden wir jedenfalls in die Bundestagswahl gehen und antreten. Ich glaube auch, schon bei diesen beiden Frühjahrslandtagswahlen wird das ein gutes Ergebnis für uns Freie Demokraten werden.

    Hohrmann: Sie wollten, das hatten Sie 98 auch gesagt, die außenpolitische Tradition der Bundesrepublik bewahren. Sie haben immerhin mehrere Außenminister gestellt. Nun wird Klaus Kinkel im neuen Präsidium der F.D.P. voraussichtlich nach dem Düsseldorfer Parteitag nicht mehr vorhanden sein. Wer macht dann Außenpolitik und mit welchen Zielen?

    Westerwelle: Zunächst ist das überhaupt noch gar nicht klar, wer im nächsten Präsidium sitzen wird. Das sind Spekulationen. Es gibt ja noch nicht einmal Kandidaturen zum Präsidium, geschweige denn eine Wahl. Und da werden sicherlich Wege und Mittel auch gefunden werden. Klaus Kinkel ist ein ganz wichtiger, vorzüglicher liberaler Politiker, und das sehe ich ganz locker - genau so wie er selber auch. Ich habe mit ihm schon telefoniert; da werden wir Wege finden, das ist ganz normal.

    Hohrmann: Wie sehen Sie die neue amerikanische Initiative zur Raketenabwehr? Da fordert ja die CDU ein klares Bekenntnis der Bundesregierung dazu.

    Westerwelle: Ich halte es für einen Fehler, wenn die Bundesregierung das so apodiktisch ablehnt, wie sie es bisher getan hat. Vernünftiger wäre es, wenn wir versuchen würden, aus einem nationalen Programm ein Programm des Bündnisses zu machen. Das Bestreben der deutschen Außenpolitik sollte sein, dass diese Raketenabwehr - sofern sie überhaupt praktikabel ist - nicht eine nationale amerikanische Angelegenheit wird, sondern dass es eine Angelegenheit der Allianz wird, der Bündnispartner, damit wir alle davor geschützt sind. Denn nur, weil wir im Augenblick da, wo wir leben, uns nicht bedroht fühlen, heißt dass ja nicht, dass das durch irgendwelche verrückten Diktatoren - und da fallen mir einige Namen ein - in Zukunft nicht noch kommen könnte. Und wenn man sich dagegen schützt, ist das ganz vernünftig.

    Hohrmann: Verbunden werden müsste das doch durch eine weitere Stufe der Rüstungskontrolle.

    Westerwelle: Das muss in jedem Fall verbunden werden mit Rüstungskontrolle, und da gibt es viel zu tun. Da gibt es die Frage der Ächtung auch noch zu prüfen und durchzusetzen vor allen Dingen. Wenn man allein mal daran denkt, wie lange wir schon daran arbeiten, dass Atomwaffentests nicht mehr stattfinden - im Interesse des Friedens und im Interesse der Ökologie - da ist noch eine Menge Weg vor uns. Und ich glaube, dass die zuverlässige, berechenbare Art und Weise von Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel auch Prädikatszeichen für die Freien Demokraten sind.