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Wider das Zerrbild Afrikas

Afrika ist nicht ein einziges Kriegs- und Krisengebiet, sagt die taz-Journalistin Bettina Gaus. In ihrem Buch "Der unterschätzte Kontinent - Reise zur Mittelschicht Afrikas" beschreibt sie die Sorgen und Ziele der afrikanischen Mittelschicht, die ihrer Einschätzung nach durchaus Verantwortung übernimmt.

Bettina Gaus im Gespräch mit Jasper Barenberg | 07.09.2011
    Jasper Barenberg: Kenia, Tansania, Mosambik, Botswana, Nigeria, Burkina Faso, Senegal, einige Stationen einer Reise der Journalistin Bettina Gaus durch insgesamt 16 Länder im Süden Afrikas. Über Monate war sie unterwegs, oft mit dem Bus über Land und abseits der Hauptstädte. Als Korrespondentin in Nairobi hatte sie sich über Jahre mit all dem befasst und befassen müssen, was in erster Linie die Schlagzeilen füllt: Armut, Hunger, Bürgerkrieg, Despotie. Jetzt wollte sie sich auf die Suche nach Menschen machen, die wir nur selten zur Kenntnis nehmen: Lehrer, Ärzte, Unternehmer. "Der unterschätzte Kontinent - Reise zur Mittelschicht Afrikas" heißt das Buch, das sie von ihrer Reise mitgebracht hat. Warum aber sollten wir uns für diese Mittelschicht in Afrika interessieren? Das habe ich Bettina Gaus vor dieser Sendung gefragt.

    Bettina Gaus: Die Frage stellt sich bei vielen Anlässen. Man kann natürlich grundsätzlich sagen, man interessiert sich nicht so furchtbar für irgend ein Thema, aber wahr ist einfach, dass die Mittelschicht in Afrika tatsächlich die Gruppe in der Bevölkerung ist, die diesen Kontinent stabilisiert. Und mir ist natürlich klar, dass angesichts des Zerrbildes, das von Afrika in der Öffentlichkeit derzeit existiert, man das Gefühl hat, was heißt hier Stabilisierung, ganz Afrika ist doch ein Krisenkontinent, wo alle Leute entweder Krieg miteinander führen, oder hungern, aber das ist einfach falsch. 95 Prozent der Bevölkerung Afrikas leben nicht in einem Kriegs- oder Krisengebiet, und einer der wichtigsten Gründe aus meiner Sicht ist die Mittelschicht in Afrika, die in der Tat stabilisierend wirksam ist. Und wenn ganz Afrika zu einer Giftmüll-Halde würde, oder in ganz Afrika Verhältnisse herrschten wie in Somalia, dann hätte das auch Rückwirkungen - nicht nur, aber auch wegen der Flüchtlingsströme - auf Europa. Insofern gibt es einen guten Grund, sich dafür zu interessieren.

    Barenberg: Warum ist es denn uns bisher entgangen, dass es natürlich auch in Afrika gut ausgebildete Ärzte, Lehrer und Unternehmer gibt, die diese Funktion übernehmen in ihren Gesellschaften?

    Gaus: Ich denke, das ist gar nicht so schwer zu verstehen. Ich habe ja selbst sieben Jahre als Korrespondentin in Afrika gearbeitet und in der Zeit war ich überwiegend als Kriegs- oder Krisenkorrespondentin tätig, und das war ganz unvermeidlich. In meinen Aufenthalt dort fielen der Völkermord in Ruanda, der Zerfall des Zaire - heute Kongo -, der Bürgerkrieg in Burundi, der Krieg im Südsudan, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und ich finde es schon auch richtig, dass wir darüber berichten, weil Opfer einen Anspruch darauf haben, gehört zu werden. Und ich finde auch nicht, dass wenn irgendwo ein Völkermord stattfindet, dass man dann einfach sagen kann, ach, berichten wir doch mal über besonders eindrucksvolle Volkstänze ein paar Kilometer weiter. Das bedeutet aber wirklich, einfach deshalb, weil natürlich für Afrika immer nur ein kleiner Teil, ein kleiner Ausschnitt zur Verfügung steht in dem Platz, den Medien nun mal haben, dass das Bild des Kontinents so verkürzt und so undifferenziert wird, dass es einfach falsch wird.

    Barenberg: Müssen wir uns denn die Mittelschicht in Afrika ganz genauso vorstellen wie Mittelschicht hierzulande, in Deutschland?

    Gaus: Es kommt darauf an, wie man genauso definiert. Hinsichtlich der Ziele und Wünsche ja. Ich denke, da gibt es überhaupt keine Unterschiede. Die Mittelschicht in Afrika wünscht sich ganz genau wie wir hier in Deutschland ein möglichst sorgenfreies Leben, die Leute dort wünschen sich eine möglichst gute Ausbildung für ihre Kinder und fragen sich, wie sie die bezahlen sollen, sie wünschen sich auch die Annehmlichkeiten, die ein Leben auch einfach nett machen, also ein bisschen Geld für einen Restaurantbesuch, oder auch mal einen Urlaub. Die Mittelschicht hat etwas mehr Geld zur Verfügung, als sie zur Befriedigung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse braucht. Insofern kein Unterschied.
    Auf welchem materiellen Niveau das stattfindet, das ist natürlich eine andere Veranstaltung. Wenn ich in Mosambik mit einem Verwaltungsangestellten rede, der vielleicht - ich habe es jetzt gar nicht mehr genau im Kopf - umgerechnet 300 Euro im Monat verdient und der fünf Söhne zu erziehen hat, dann ist das was anderes, als wenn hier jemand Verwaltungsbeamter ist, und selbst wenn er fünf Söhne zu erziehen hat. Das heißt, es ist tatsächlich natürlich so, dass der absolute materielle Wert dessen, was man besitzt, nicht vergleichbar ist. Aber dieser Beamte, oder dieser Angestellte, von dem ich eben gesprochen habe, der hat ein Auto, der hat einen Fernseher, der kann sich eine nicht billige eigene Weiterbildung leisten. Das heißt, der verfügt über ein hohes Maß an Autonomie hinsichtlich der Gestaltung seines eigenen Lebens und hinsichtlich der Fürsorge für seine Familie. Und ich glaube, das zum Beispiel ist eine ziemlich gute Definition für Mittelschicht.

    Barenberg: Und ist das auch ein typisches Beispiel für die Menschen, die Sie entlang Ihres Weges getroffen haben, also Menschen, die durchaus sich selbst so einschätzen würden, dass sie ihr Leben selbst in der Hand haben, selbst gestalten können?

    Gaus: Ja ich glaube, das ist das, was fast alle meine Gesprächspartner gemeinsam haben: das Gefühl, dass sie bis zu einem großen, hohen Grad autonom über ihre Lebensbedingungen entscheiden können und wirklich eine gewisse Freiheit haben darin, zu beurteilen, ob sie jetzt noch eine Weiterbildung machen, auf welche Schule sie ihre Kinder schicken, ob sich die Anschaffung eines Autos lohnt. Natürlich sind die Bedingungen trotzdem nicht eins zu eins auf Europa übertragbar. Also das größte Armutsrisiko und das größte Risiko abzusteigen, ist ohne jeden Zweifel das Risiko Krankheit. Es gibt außer in Südafrika in keinem Land südlich der Sahara, das ich bereist habe, eine Krankenversicherung, die diesen Namen verdient. Und ich war ja nicht nur Korrespondentin in Afrika, sondern ich war auch 15 Jahre mit einem Kenianer verheiratet, und wir haben nach wie vor ein gutes Verhältnis und meine Familie lebt halt da nach wie vor, und ich kann es aus dem engsten Kreis beurteilen. Der jüngere Sohn meines Schwagers erkrankte an Krebs, mein Schwager und seine Frau haben vorher in komfortablen Verhältnissen gelebt, Monatseinkommen vielleicht 500 Euro umgerechnet, das ist in Kenia eine Menge. Und dann die Behandlung der Krebserkrankung ihres Sohnes, und wir alle hoffen sehr, sehr dringend, dass er die Krankheit überwunden hat, aber diese Behandlung hat ungefähr umgerechnet 20.000 Euro gekostet. Das kann eine Mittelschicht-Familie in Afrika nicht aus eigener Kraft stemmen. Da wird dann wirklich die Hilfe der Umgebung gebraucht, und da zeigt sich natürlich auch, dass es kein ganz sicherer sozialer Rahmen ist, in dem sich das bewegt, aber es gibt immerhin einen sozialen Rahmen.

    Barenberg: Sehen sich denn die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, auch Grenzen ausgesetzt, ausgeliefert, also Grenzen der Veränderung, was ihr eigenes Leben angeht, was die Entwicklung in ihrem eigenen Land angeht?

    Gaus: Die Frage würde ich ungern pauschal beantworten. Also ich weiß, dass es natürlich und vielleicht nachvollziehbarerweise so ist, dass Afrika von Europa aus betrachtet immer so wie ein monolithischer schwarzer Block aussieht, wo alles irgendwie gleich ist. Aber Tatsache ist, dass die Unterschiede in den einzelnen Ländern Afrikas noch viel größer sind - und das will ja was heißen - als die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern in Europa. Und wenn wir uns überlegen, wie groß die Unterschiede sagen wir zwischen Italien und Norwegen sind, dann kriegt man eine Vorstellung von dem, was ich meine. Also insgesamt, wenn ich denn versuche, pauschal zu antworten, ist Korruption sicher ein Thema, das in fast allen afrikanischen Ländern eine große Rolle spielt. Die Frage, ob die eigene Ethnie, ob die eigene demokratische Entwicklung eines Landes einem Grenzen setzt, ist ein Thema, das in vielen Ländern eine Rolle spielt. Aber man muss einfach sagen, es ist ein riesiger Unterschied, ob ich eine gut ausgebildete Rechtsanwältin in Tansania bin, einem Land, das seit Jahrzehnten, also seit der Unabhängigkeit, überhaupt nie einen Bürgerkrieg oder eine Hungersnot erlebt hat, oder ob ich Angestellter in Mosambik bin, einem Land, das jahrzehntelang Bürgerkrieg hatte und bis heute zwar große Wachstumsraten - Mosambik ist auf dem Weg nach vorne -, aber eben trotzdem noch auf einem Niveau sich befindet, das mit dem in friedlichen Ländern überhaupt nicht vergleichbar ist.

    Barenberg: Wenn Sie alles zusammen nehmen, Frau Gaus, wie viel Kraft zur positiv gedachten Veränderung trauen Sie denn der Mittelschicht in Afrika zu?

    Gaus: Das kann ich wirklich so pauschal nicht beantworten. Also was mich auf meiner Reise ganz besonders beeindruckt hat, war zweierlei. Das eine war, dass in einem Umfang, der mir vorher nicht klar gewesen ist, die Angehörigen der Mittelschicht nicht nur Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen, sondern auch für einen weiteren Umkreis. Das heißt, ich habe mit mehreren Leuten geredet, die auf welchem Weg auch immer, zum Teil durchaus sogar mit Anmeldung einer Hilfsorganisation versuchen, Leuten in ihrem Dorf, in ihrer Kleinstadt, in ihrer Umgebung zu helfen, ohne darauf zu warten, ob ausländische Helfer kommen. Das finde ich ja schon mal einen ziemlich großen Sprung nach vorne. Das zweite ist: welche Kraft zur Veränderung? Da ist die Frage, wo will ich hin, also was ist das, was ich am Ende erwarten werde. Ich denke, was ich tatsächlich festgestellt habe ist, dass in sehr viel größerem Maße als früher - ich bereise Afrika seit 30 Jahren; da verändert sich wirklich was -, auch durchs Internet, zu dem sehr viele Leute inzwischen Zugang haben, spielen Fragen wie Demokratisierung, die Frage der Transparenz politischer Entscheidungen, die Frage nach Legitimität von Herrschaft eine Rolle. Und da werden die Forderungen lauter, und auch das finde ich doch ganz ermutigend.

    Barenberg: "Der unterschätzte Kontinent - Reise zur Mittelschicht Afrikas" heißt die Reisereportage von Bettina Gaus, die gerade im Eichborn-Verlag erschienen ist. Frau Gaus, danke für das Gespräch.

    Gaus: Danke Ihnen für die Einladung.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.