Heinlein: Herr Schulz, die alten ideologischen Zöpfe sind nun abgeschnitten. Sind die Grünen jetzt attraktiver im Osten?
Schulz: Ich denke schon, dass dies auch Auswirkungen auf den Osten haben wird. Noch dazu muss sich die Partei mit ihrem Zukunftsprogramm Ost nicht verstecken, sondern ganz im Gegenteil hat sie dort durchaus Ansatzpunkte anzubieten, wie man aus der Problemlage des Ostens im Moment herauskommt, also interessante Projekte, die vorwärtstreibend sind.
Heinlein: Aber Herr Schulz, das neue Programm bringt doch nur das zu Papier, was seit Jahren schon grüne Partei- und Regierungspolitik ist. Damit hatten die Grünen bekanntlich gerade in den neuen Bundesländern nur bescheidenen Erfolg.
Schulz: Regieren tun wir ja erst seit dreieinhalb Jahren. Da haben wir sehr viele Erkenntnisse machen müssen, sehr viel Erkenntniszuwachs gehabt. Der drückt sich natürlich in diesem Papier aus. Schauen Sie, keine der bisher regierenden Parteien hat nun den großen Durchbruch im Osten geschafft. Viele der Probleme, die wir dort zu lösen haben, liegen in der Zeit vor _89, sind dann in den Jahren der Wiedervereinigung entstanden durch eine völlig falsche Treuhand-Politik, durch eine völlig falsche Privatisierung, durch zum Teil auch falsche Entscheidungen, wenn ich an die Frage Rückgabe von Eigentum denke. Wir haben immerhin - und das muss man sehen - den Charakter dieser Aufgabe sehr klar definiert. Es ist eine Generationsaufgabe. Das haben wir von Anfang an gesagt. Jetzt haben wir zumindest in den letzten drei Jahren erreicht, dass der Solidarpakt II aufgelegt wurde, also eine Fortführung des Solidarpaktes, immerhin 300 Milliarden D-Mark, der bis 2020 reicht, nicht ohne Grund und nicht etwa per Zufall die gleiche Reichweite wie das grüne Grundsatzprogramm. Das ist eine Vision, die für den Osten hier aufgestellt worden ist. Dieser Solidarpakt reicht bis 2020. Das ist eine Finanzgrundlage, wie es sich manche westdeutsche Kommune wünschen würde, diese Sicherheit zu haben.
Heinlein: Herr Schulz, Ihr Parteifreund und ebenfalls ehemaliger DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann sieht das anders. Er erklärte, das neue Programm gebe eine ganz falsche Orientierung, weil die Grünen jetzt eine ganz normale Partei seien. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
Schulz: Das ist nicht berechtigt. Normal zu sein, ist erst einmal nicht schlimm, sondern es sind möglicherweise, was Sie am Anfang gesagt haben, diese ideologischen Überhöhungen, dieser ideologische Überbau nicht mehr drin. Der Radikalismus ist nicht mehr drin. Es hat sich ja auch auf verschiedenen Feldern erwiesen, dass sie zwar radikale Forderungen aufstellen können, die dann aber gar nicht so einfach und schnell umzusetzen sind.
Heinlein: Glauben Sie, dass ohne diesen ideologischen Ballast, diese neue Stromlinienförmigkeit der Partei, eine Partei der Mitte, in den neuen Ländern eher gutiert wird?
Schulz: Da möchte ich Ihnen widersprechen. Da ist überhaupt keine Stromlinienförmigkeit drin. Da sind ganz klare Visionen drin. Unsere Gesellschaft braucht Visionen.
Heinlein: Visionen auch für den Osten?
Schulz: Leitbilder. - Ja, natürlich ist da ein Schlüsselprojekt gesamtdeutsche Zukunft, ein Zukunftsprogramm für den Osten, wie dort eine moderne Region aufgebaut werden kann, wie aus diesem Begriff der neuen Bundesländer, der ja von vielen nur als Plattitüde verwendet wird, wirklich neue Bundesländer werden können, wie aus diesem Beitrittsgebiet eine Verbindungsregion in Europa entwickelt werden kann. Das ist eine wirkliche Vision für den Osten. Das ist eine Zukunftsaufgabe, und die wird sehr genau beschrieben. Im übrigen haben wir auf der vorhergehenden Bundesdelegiertenkonferenz in Rostock, wo die PDS jetzt getagt hat, ein 19seitiges Programm beschlossen, was dieses Schlüsselprojekt gesamtdeutsche Zukunft, Verbindungsregion in Europa, noch in Details unterlegt, wie diese Regionen aufgebaut werden können, wie dort moderne wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen, wie dort eine moderne soziale Infrastruktur entsteht. Viele Fragen sind ja nicht nur, dass man beispielsweise Investoren in die Gegend lockt, sondern man muss natürlich auch etwas Attraktives anzubieten haben: Bildung, Freizeitangebote, kulturelle Angebote, Wohnung, Kindergärten. All diese an sich weichen Standortfaktoren sind bisher völlig vernachlässigt worden.
Heinlein: Sie sind der letzte ostdeutsche Bürgerrechtler in der Grünen-Bundestagsfraktion. Ist denn die grüne Krise im Osten auch ein personelles Problem in Ihrer Partei?
Schulz: Wir haben dort Fehler gemacht, überhaupt keine Frage. Da ist was schief gelaufen in dieser Schrägstrichpartei. Dafür haben wir auch einen Denkzettel bekommen. Ich sage Ihnen aber, Fehler aus denen man lernt sind Erfolge. Wir haben gelernt; das ist sehr wichtig. Die gesamte Partei hat den Osten angenommen. Sie kümmert sich darum. Der Osten ist nicht nur das Aufgabenfeld von Menschen, die dort geboren sind. Natürlich verlangt die gesamtdeutsche Zukunft auch ostdeutsche Herkunft. Das ist mit meiner Wahl ja auch zum Ausdruck gekommen, dass man sich in dieser Partei auf solche Leute wieder stärker besinnt.
Heinlein: Die Ostkompetenz, Herr Schulz, ist aber rein personell eher bei der PDS versammelt?
Schulz: Die PDS hat natürlich mehr ostdeutsche Mitglieder aufzubieten als die Bündnis-Grünen. Das ist richtig. Dafür hat sie aber wiederum weniger Parteimitglieder aus den westdeutschen Bundesländern. Aber dass sich die PDS als eine Ostpartei oder nur die einzige Ostpartei hinstellt, das ist falsch. Wir werden ihnen den Rang, dass sie eine starke Partei im Osten ist, so schnell nicht streitig machen können, aber ich wehre mich gegen diesen Alleinvertretungsanspruch. Das ist fast eine Karikatur des Alleinvertretungsanspruches, gegen den die SED früher immer gekämpft hat. Sie war ja immer sehr verknatzt, dass die Bundesrepublik den Alleinvertretungsanspruch für Deutschland für sich reklamiert hat. Die PDS tut momentan etwas Ähnliches. Sie behauptet, die einzige Partei des Ostens zu sein oder die Ostpartei schlechthin. Schlechthin möchte ich betonen, denn das was sie zu Stande bekommt in Mecklenburg-Vorpommern - wir werden das jetzt in Berlin sehen -, ist wahrlich nicht, dass sich dort eine Partei der sozialen Gerechtigkeit etabliert.
Heinlein: In Rostock hat die PDS, Herr Schulz, nun ihr Wahlprogramm verabschiedet. Nein zum Krieg heißt es dort unter anderem. Hat denn die PDS den Grünen nicht nur personell, sondern auch inhaltlich ihren früheren Rang als ostdeutsche Antikriegspartei abgenommen?
Schulz: Nein zum Krieg, das muss man sich dann etwas genauer anschauen und durchbuchstabieren. Die Bundesrepublik Deutschland führt nirgendwo Krieg, sondern sie hat die Bundeswehr im Gegenteil dort stationiert, um den Frieden zu sichern und zu stabilisieren. Im Zuge dieser Stationierung läuft ein einzigartiges Aufbauprogramm. Da werden demokratische Strukturen aufgebaut. Da wird der Wiederaufbau in Mazedonien, im Kosovo und auch in Afghanistan auf diese Art und Weise gesichert. Es wäre geradezu unverantwortlich, das Militär dort abzuziehen. Das ist doch auch eine Erfahrung, die wir aus unserer deutschen Geschichte haben. Wir hätten den friedlichen Wiederaufbau nach _45 niemals ohne die Stationierung der Alliierten, beispielsweise auch der roten Armee im Osten, durchführen und erreichen können. Und wenn Gabi Zimmer beispielsweise von dem malträtierten Volk in Afghanistan spricht, die nun 27 Jahre Krieg ertragen mussten, dann blendet sie nur leider zehn Jahre aus, für die die SED Verantwortung mitträgt, als eine bedingungslose Solidarität dieser Partei geübt worden ist, als die rote Armee, die Sowjetunion in Afghanistan eingefallen ist. Viele der Folgen hängen damit zusammen, die wir heute haben.
Heinlein: Aber könnte es sich für die Wahlen als Fehler erweisen, dass die Grünen nun in die Mitte gerückt sind und damit für das linke Spektrum Platz freigemacht haben, und hier kann die PDS gerade im Osten dann die Wähler abfischen?
Schulz: Wir sind nicht in die Mitte gerückt. Das sind alles solche verschwommenen Floskeln.
Heinlein: Aber zumindest im außen- und sicherheitspolitischen Bereich?
Schulz: Nein. Das sind alles verschwommene geographische Begriffe, was ist die Mitte in einer Gesellschaft und was ist links in einer Gesellschaft. Die Linken sind doch nicht nur gewaltlos gewesen. Da muss ich doch an die eigenen Traditionen von links erinnern. Die Linken haben sich natürlich auch massiv gewehrt, beispielsweise gegen Unterdrückung. Die Geschichte der Linken ist doch nie gewaltlos gelaufen. Es ist doch die Frage, an welcher Stelle Gewalt gerechtfertigt ist, ob sie als Notwehr, als Verteidigung beispielsweise eingesetzt wird, oder ob sie so wie der Staat Gewalt anwendet, um sie als Gegengewalt einzusetzen, um Frieden zu erzwingen, angewandt wird. Das tun wir momentan und wir haben Anerkennung von höchster Stelle bekommen. Kofi Annan, der Generalsekretär der UN, war hier in Deutschland und hat gesagt, diese deutsche Außenpolitik hat Verantwortung für viele, viele Problemfelder in der Welt übernommen. Wir danken diesem deutschen Volk, die das getan haben, die sich über ihren historischen Schatten hinausbewegt haben und wie gesagt weltweit Verantwortung nehmen und sich an die erste Stelle der Völkergemeinschaft gestellt haben.
Heinlein: Unter dem Strich, Herr Schulz: die Grünen schließen eine Koalition mit der PDS auf Bundesebene nach den Bundestagswahlen kategorisch aus. Das bleibt dabei?
Schulz: Das bleibt dabei, weil die Programme - das sehen Sie ja an Berlin und dem, was die PDS in Rostock beschlossen hat - eigentlich nicht kompatibel sind. Das passt überhaupt nicht zusammen. Ich glaube, dass die PDS auch nicht viel zu Stande bekommen wird. Jedenfalls hat mich das, was sie in Mecklenburg-Vorpommern bisher getan haben, nicht überzeugt, und die Ansätze in Berlin sehen auch nicht gerade so aus, als ob diese Partei eine sozialgerechte Politik auf die Reihe bringen würde.
Heinlein: Werner Schulz von den Grünen heute Morgen hier im Deutschlandfunk. - Herr Schulz, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin!
Link: Interview als RealAudio