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Wie bewertet die Arbeitspartei die momentane Situation in Israel?

    Durak: Israels Truppen sind erneut in Tulkarem eingerückt. Die Armee spricht von einer begrenzten Operation. Von Israel Gesuchte sollen gefasst werden. Ministerpräsident Scharon hat ja den Rückzug der Armee aus fast allen besetzten Gebieten in Aussicht gestellt. Dies sind die aktuellen Meldungen. Am Telefon begrüße ich nun einen Mann, der die Arbeitspartei berät, den ehemaligen Ministerpräsidenten Barak und heute Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung in Tel Aviv, Robi Nathanson. Wir wollen miteinander über kurz- oder langfristige Folgen dieses erklärten oder auch nicht erklärten Krieges in Israel sprechen. Die Wirtschaft leidet schwer unter den anhaltenden Auseinandersetzungen, hören wir. Zuvor aber ein Wort zu Ihrer Reise gestern. Da waren Sie in Berlin, haben im Außenministerium Gespräche geführt. Mit welchem Ergebnis?

    Nathanson: Es war eine Delegation der Arbeitspartei. Wir haben mit Parlamentsabgeordneten in Deutschland und auch mit Außenminister Fischer über die neuesten Initiativen diskutiert. Unser Eindruck ist, dass zwar aus Deutschland heute Kritik an Israel zu hören ist, auch an der Tatsache, dass die Arbeitspartei noch bei der Regierung mitmacht. Auf der anderen Seite gibt es auch neue Ideen, die aufgenommen wurden, und zwar positiv, als eine Möglichkeit, aus dieser Situation herauszukommen, d.h. stärkere internationale Intervention, stärkeres Engagement, auch konkret mit internationalen Truppen, um ein Entflechtungsabkommen und einen Waffenstillstand für die Palästinenser zu garantieren.

    Durak: Sollten zu diesem stärkeren internationalen Engagement nicht doch Sanktionen gegen beide Seiten gehören, um es sozusagen "gerecht" zu verteilen. Bisher stellt sich die EU, insbesondere Deutschland, dagegen.

    Nathanson: Davon hat sich Joschka Fischer klar distanziert. Auch alle anderen Gesprächspartner haben das nicht erwähnt, d.h. Sanktionen sind kontraproduktiv, sowohl auf Israel als auch auf die Palästinenser. Man muss konkrete, positive, vertrauensbildende Maßnahmen einführen. Durch Sanktionen wird man genau das Gegenteil erreichen, nämlich den Kompromisswillen, zumindest auf der israelischen Seite, mindern und das Misstrauen gegenüber der Rolle, die Europa, auch Deutschland spielen könnte, steigern.

    Durak: Inwieweit sind Sie mit dem bisherigen Kurs des auf eine Person fokussierten Ministerpräsidenten Scharon?

    Nathanson: Ich gehöre zu denjenigen, die geglaubt haben, dass der Beitritt der Arbeitspartei sich nicht gut auf die nationale Einheitsregierung auswirken wird, dass es ein Fehler ist. Und heute zeigt sich, dass die Partei ihre eigene Linie verloren hat. Sie wird von Scharon an der Nase herumgeführt, und in der jetzigen gespannten Kriegssituation ist es für die Partei sehr schwierig, sich aus der Regierung zurückzuziehen, aber ihre Rolle in der Regierung ist sehr gering, und der Einfluss, den sie noch auf Scharon haben könnte, ist heutzutage minimal. Von daher müsste sie aus der Regierung zurücktreten und eine glaubwürdige Alternative zur jetzigen Politik für die israelische Öffentlichkeit bilden.

    Durak: Sie sagen "müsste". Sollte sie es konsequenterweise tun, und zwar bald?

    Nathanson: Ja, und zwar auch aus dem Grund, weil die Mehrheit der Israelis im Prinzip von den Meinungen her auf der Seite von dem ist, was die Arbeitspartei in Bezug auf Friedensbewegung und Alternativen zur rechten Likudpolitik immer vertreten hat. 70 Prozent unterstützen die Politik der Räumung von Siedlungen, Rückzug auf die Grenzen von 1967, Bildung eines palästinensischen Staates. Was fehlt ist eine glaubwürdige Führung, die solche Maßnahmen durchführen könnte.

    Durak: Sagen Sie uns damit, dass die Mehrheit des israelischen Volkes den Kurs Scharons nicht mehr mitträgt? Wir hören auch von anderen.

    Nathanson: Was die Meinung die Bevölkerung über eine mögliche Lösung angeht, sind sie nicht auf der Seite von dem, was Scharon macht, nämlich Siedlungspolitik und Besetzung von Gebieten. Aber was Sicherheit angeht, ist natürlich die Popularität Scharons wesentlich höher, denn er vertritt auch die Linie, die den Palästinensern zeigt, dass es im Fall von Terroranschlägen - und die große Mehrheit der Israelis ist in dieser Lage sehr verunsichert - auch eine andere Sprache geben könnte als die der Verhandlungen und des Verständnisses. Dadurch hat Scharon, zumindest in der jetzigen Situation eine wesentliche Unterstützung in der Bevölkerung.

    Durak: In Sicherheitsfragen hat er die Unterstützung, in anderen eher nicht. Wie ernst ist denn die wirtschaftliche Lage durch den Krieg?

    Nathanson: Also Israel hat an die 5 Prozent des Bruttosozialproduktes durch den Krieg verloren, das wären etwa 5 Milliarden Dollar. Jeder Monat, der in der jetzigen Situation vergeht, kostet Israel nochmals etwa 250 Millionen Euro. Es wird erwägt, neue Steuern einzuführen, im Hinblick auf die Tatsache, dass auf den Geldmärkten die Wiederbelebung nicht so stark ist, wie man erwartet hatte. Der Ausfall des Tourismus und andere Sektoren, die darunter gelitten haben, sprechen dafür, dass die Arbeitslosigkeit über 10 Prozent angestiegen ist. Je länger sich dieser Konflikt hinzieht, desto höher ist der Preis, den die israelische Wirtschaft bezahlt.

    Durak: Welchen Einfluss hat denn diese Lage, die persönliche Angst vor Selbstmordattentaten und auch die Tatsache, dass Israels Armee auch gewaltsam in die Palästinensergebiete vordringt, auf die Psyche der Gesellschaft?

    Nathanson: Die eigentliche Antwort auf die Terroranschläge ist, dass man mit dem Alltag weitermacht. Aber natürlich ist man heute vorsichtig. Auch ich habe zwei Kinder und lebe im Zentrum von Tel Aviv. Man hat das Gefühl, dass jeden Augenblick etwas passieren könnte, und das ist ein Gefühl, mit dem man heute leben muss. Wir müssen mit dem, was wir machen, weitermachen, und das ist das Einzige, was uns wieder Kraft und Hoffnung gibt, dass es besser werden kann, und dass wir zu einer Friedenslösung kommen können.

    Durak: Wie stellen Sie sich diese Friedenslösung zunächst vor?

    Nathanson: Wie gesagt, eine Friedenslösung kann erzielt werden. Zunächst muss man sagen, dass der Terror nicht mit Gewaltanwendung besiegt werden kann. Das hat sich schon längerfristig gezeigt. Es hat nie ein größeres Opfer an Zivilisten gegeben wie im letzten Jahr durch die Politik Scharons, der versucht hat, den Terror mit Militärgewalt zu bekämpfen. Es muss eine politische Perspektive gebildet werden, und sie basiert auf den Grundsätzen, die ich eben erwähnt habe, nämlich Rückzug auf die Grenzen von 1967, eine partielle Trennung von den Palästinensern, wie es auch im Fischerplan vorgesehen ist, internationale Beobachter, dann auch die Bildung eines palästinensischen Staates mit der Perspektive, dass in etwa zwei Jahren auch andere kardinale Fragen gelöst werden müssten, z.B. Siedlungen, Jerusalem und die Flüchtlingsfrage.

    Durak: Sehen Sie in der derzeitigen Powell-Mission die letzte Chance?

    Nathanson: Nein, ich glaube, Powell versucht, zunächst die Situation zu beruhigen und eine Grundlage zu schaffen, damit weiter Gespräche auf der Basis des Mitchell-Plans geführt werden können. Wenn er zunächst eine relative Ruhe erzielt hat, dann ist seine Mission gelungen, und ich glaube, beide Seiten haben auch dazu kaum eine Alternative.

    Durak: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio