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Wie gut ist Fremdbetreuung für die kindliche Entwicklung?

Jürgen Liminski: Ende Oktober hat die Koalition im Bundestag das so genannte Tagesbetreuungsausbaugesetz durchgebracht und vor einer Woche hat das Bundesfamilienministerium mit dem BDI eine familienpolitische Initiative namens "Mehr Wachstum durch bevölkerungsorientierte Familienpolitik" gestartet, die ebenfalls einen forcierten Ausbau der Fremdbetreuung vorsieht. Nahezu gleichzeitig mit solchen politischen Aktivitäten bringt die Hirn- und Bindungsforschung in letzter Zeit immer neue Ergebnisse hervor, die nahe legen, dass Betreuung zwar gut, Erziehung aber besser wäre. Zu dieser Thematik begrüße ich jetzt am Telefon die Entwicklungspsychologin Karin Großmann. Frau Großmann, Sie haben viel in Amerika geforscht und vermutlich auch festgestellt, dass hierzulande über das Thema Kind und Familie oder Kind und Mutter weniger psychologisch diskutiert wird, denn theologisch, man sucht immer einen Schuldigen. Das Wort Rabenmutter gibt es nur im Deutschen, obwohl die Raben ja fast überall in Europa zu Hause sind. Wird hier zuviel Ideologie betrieben, also einerseits die Mütterideologie, die sagt, nur die Mutter allein kann's richten und andererseits die Betreuungsideologie, die sagt, nur der Staat macht alles richtig?

Moderation: Jürgen Liminski |
    Karin Großmann: Ich glaube, hier tendiert man dazu, immer etwas extrem zu sein. Die Mütterideologie ist vielleicht noch ein ungutes Erbe aus der Nazi-Zeit, wo man Mutterorden vergab und so weiter, während die Staatsideologie vielleicht ein Ungut des Annehmens des Erbes aus den Ostblock-Länder, aus dem Sozialismus ist. Das Optimale wäre genau dazwischen. Man sollte eine junge Familie, eine junge Mutter, nicht allein lassen mit der Erziehungsaufgabe, sondern ihr Helfer, einen Beistand geben, damit sie sich sowohl um die Kinder, als auch um die sonstigen Aufgaben kümmern kann.

    Liminski: Wie viel Mutter braucht denn das Kind? Oder besser, bis wann braucht das Kind wie viel Mutter?

    Großmann: Im aller ersten Jahr ist es ganz besonders wichtig, dass am liebsten die Mutter, aber durchaus auch eine zweite oder gar dritte Bindungsperson sich mit wirklich hingebungsvoller Liebe um das Kind kümmert. Das bedeutet, dass man dem Kind zuhört, dass man versucht zu erforschen, was es braucht und dass man wirklich viel Zeit hat für das Kind.

    Liminski: Aber sind die Mütter nicht prädestiniert gerade für so eine Bindungsaufgabe schon durch die neun Monate Schwangerschaft?

    Großmann: Im Prinzip natürlich, ja. Hormonell ist eine Mutter darauf vorbereitet, andererseits macht ja auch ein Vater die neun Monate Planung einer neuen Familie mit und das Kind braucht aber auch schon von Anfang eine zweite Person. Nicht immer ist eine Mutter aufopferungsvoll für ihr Kind da, nicht immer ist sie gut gelaunt, nicht immer hat sie Zeit und sie kann auch selber krank sein oder andere Kinder als Aufgabe haben und deswegen ist das Kind dann heilfroh, weder eine nervöse Mutter, noch eine nachlässige vorzufinden, sondern dann eine andere Person, die sich ebenso liebevoll um es kümmert, die ihm zuhört, die seine Bedürfnisse befriedigt und die einfach für es da ist.

    Liminski: Frau Großmann, Sie sind international bekannt geworden durch Ihre Langzeituntersuchungen. Was ist denn für das Kind das Wichtigste im Spannungsfeld zwischen Betreuung und Erziehung?

    Großmann: Dass die Person, die sich um das Kind kümmert, sowohl die Mutter, als auch - meine bevorzugte Methode wäre eine Tagesmutter, oder eine Tante oder eine Großmutter, die einfach der Mutter beisteht - dass diese Person wirklich das Kind so gern hat, dass sie erstens an seiner langfristigen Entwicklung interessiert ist, also durchaus bis zur Kindheit und Erwachsenenalter und nicht nur ihren Job macht und das zweitens diese Person das Kind mit Wertschätzung und Liebe und natürlich auch mit Schutz umfängt, das heißt, ihm wirklich das gibt, was man Geborgenheit nennt, also auch wirklich Zeit hat, ihm zuzuhören, etwas mit dem Kind zu machen, so dass ihm die Welt vertraut wird, ihm beisteht im Konflikt mit anderen, dass dieses Kind so wertgeschätzt wird, dass es sich selbst als liebenswert empfindet.

    Liminski: Könnte man dieses Umfeld mit emotionaler Stabilität umschreiben?

    Großmann: Unbedingt, ja, es ist immer wieder gezeigt worden, dass je stabiler die Personen sind, die sich um das Kind kümmern, um so wohler fühlt es sich, um so vertrauter ist es mit ihnen und um so weniger aggressiv ist es.

    Liminski: Manchmal kommt die Wissenschaft ein wenig deterministisch daher: "Alles passiert bis zum Alter von sechs Jahren", heißt etwa der Buchtitel eines bekannten amerikanischen Autors. Ist der Mensch reparabel oder geht die psychologische Entwicklung einen erbarmungslosen Gang, wenn zum Beispiel diese emotionale Stabilität nicht da ist?

    Großmann: Nein, auf gar keine Fall deterministisch oder erbarmungslos. Es ist natürlich schön für ein Kind, wenn es die ersten, besonders die ersten drei Jahre, vielleicht sogar die ersten sechs Jahre, auf einen guten Weg geführt wird von Mutter und Vater und weiteren wenigen nahestehenden Personen. Wenn aber diese erste Zeit nicht gut verläuft für das Kind und es nimmt einen Weg, der weniger günstig ist, dann ist es allerdings etwas schwieriger zurückzufinden. Zum Beispiel, ein Kind, das sich nicht liebenswert findet, das geht auch andere Kinder eher aggressiv an, das ist eher misstrauisch und das gewinnt so weniger Sympathien. Da muss jemand verständiges kommen und sagen, "Dieses Kind ist nicht unsympathisch, weil es ein schlechtes Kind ist, sondern weil ihm zu wenig Liebe entgegen gebracht wurde und darum muss ich mich besonders um dieses Kind kümmern." Wir haben gemerkt, auch in den ganz durchschnittlichen Familien, die wir in Deutschland untersucht haben, dass wenn sich die Eltern in der Kindheit, also zwischen sechs und zwölf Jahren, doch dem Kind sehr zuwenden und das Kind das Gefühl hat, es wird verstanden, man hört ihm zu und es fühlt sich akzeptiert von seinen Eltern, dann nimmt es auch einen sehr guten weiteren Lebensweg, besonders in Bezug auf seine Freundschaften und seine Partnerschaften.

    Liminski: Apropos Partnerschaft, konstatieren Sie auch, wie viele Psychologen, eine wachsende Bindungsunfähigkeit oder auch Verhaltensstörung bei deutschen Kindern?

    Großmann: Es ist natürlich immer wieder eine Frage der Zeit. Ein Kind braucht nun mal mehr Zeit, um sich die Welt vertraut zu machen, es braucht Beistand, es braucht aber auch ein Rückzugsgebiet, was man Geborgenheit nennt, wenn es ihm nicht gut geht, dass es nicht noch mal hinaus muss und dass zu Hause eine Zeit ist oder ein Platz ist, wo das Kind sich auch mal entspannen kann, wo es auch mal schlecht drauf sein kann. Je mehr die Eltern sich selber verplanen müssen, Beruf, Freizeit, Freiwilligenarbeit, je mehr auch andere Personen - zum Beispiel, eine Erzieherin hat 30 Kinder, dann kann sie sich nicht um das einzelne Kind kümmern - das heißt, je mehr die Zeit verplant ist, um so weniger Zeit bleibt für die Kinder. In diesem Sinne lernen die Kinder ganz früh emotional: Beziehungen sind nichts wert, alles andere ist mehr wert, als eine Beziehung, eine Freundschaft zu pflegen. Dann werden natürlich Beziehungen wertlos.

    Liminski: Frau Großmann, in Ihrer Internetpräsentation schreiben Sie, in jüngster Zeit gilt Ihre besondere Aufmerksamkeit dem Einfluss des Vaters auf die soziale und emotionale Entwicklung seines Kindes. Kommt jetzt die Rückkehr des verlorenen Vaters?

    Großmann: Für unsere Forschungsergebnisse schon. Wir hatten relativ traditionelle Familien, die Mutter blieb das erste Jahr zu Hause, die Väter waren alle berufstätig. Aber zwischen den Vätern gab es große Unterschiede, ob sie in der Zeit, die sie zu Hause waren - das heißt, Feierabend und Wochenende - dann Zeit hatten für das Kind und mit ihm so spielten, dass das Kind sozusagen einen starken, weisen Beschützer hatte, der es aber so unterstützt, dass das Kind hinterher das Gefühl hatte, "Ich habe es gekonnt. Ich habe was gelernt. Ich bin der Größte und Stärkste." Mit diesem Gefühl, ich kann mich auf jemanden starken und mächtigen verlassen, wenn ich es mal nicht so gut packe. Das gibt auch die Fähigkeit, Beziehungen wertzuschätzen, dass ein starker, mächtiger Vater einem kleinen Kind beisteht, obwohl er ihn anschnauzen und verhauen könnte. Das zeigt, wie wertvoll solche auch ungleiche Beziehungen sind.

    Liminski: Wichtig ist die emotionale Stabilität und dazu gehören auch die Väter, das war die Entwicklungspsychologin Karin Großmann.