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Wie ist die momentane Situation in Kabul, nachdem die Nordallianz in die Hauptstadt vorgestoßen ist

    Simon: Verbände der Nordallianz sind heute Nacht bis Kabul vorgestoßen und warten in den Außenbezirken der afghanischen Hauptstadt auf weitere Anweisungen. In Kabul sitzt mein Kollege Christoph Hörstel. Herr Hörstel, was passiert derzeit in der afghanischen Hauptstadt?

    Hörstel: Die Kräfte der Nordallianz haben in den frühen Morgenstunden vollkommen kampflos Kabul restlos eingenommen. In den südlichen Stadtrandbezirken haben sich noch einige Taliban-Kämpfer sehen lassen. Außerhalb der Stadt gibt es noch einige, aber in der Stadt patrouillieren die Kräfte der Nordallianz hektisch, um Plünderungen zu verhindern, was ihnen nicht überall gelingt.

    Simon: Von den Taliban sagten Sie, sie haben sich komplett zurückgezogen. Wissen Sie wohin und wie ist dieser Rückzug abgelaufen?

    Hörstel: Der Abzug verlief vollkommen geräuschlos. Wir haben nichts davon gehört, es gab auch kaum Schießereien, es sind vielleicht 20 Schüsse insgesamt gefallen. Damit ist die Stadt vor einem ungeheuren Gemetzel verschont geblieben, das ist ein großes Glück und sicherlich auch eine gewisse Rücksichtsnahme der Taliban, die eine hohe Zahl an Opfern vor der Stadt, bei der Verteidigung der Stadt gebracht haben, unter dem Bombardements der Amerikaner. Sie haben sich nun geräuschlos in Richtung Süden zurückgezogen.

    Simon: Sie sprachen an, dass es bereits Plünderungen durch einzelne Soldaten gegeben hätte. Das ist ja genau das, wovor die Menschen in Kabul Angst haben, sie erinnern sich noch gut, was los war, bevor die Taliban kamen. Damals waren Truppen, die heute bei der Nordallianz sind, in Kabul schrecklich vorgegangen. Haben Sie den Eindruck, dass diese Plünderungen von den Kommandeuren und Befehlshabern zu verhindern versucht werden?

    Hörstel: Ja, ich muss das richtig stellen, was ich gesagt habe. Es handelt sich hier um Plünderungen der ausgehungerten und notleidenden Bevölkerung aus Kabul an Häuser, die leer sind. Die Kräfte der Nordallianz versuchen alles mögliche, um dieses zu verhindern. Es handelt sich also nicht - das muss man ausdrücklich sagen - um Plünderungen durch Kräfte der Nordallianz. Es sind einige Niederlassungen von ausländischen Hilfsorganisationen geplündert, zum Teil auch schwer beschädigt worden. Sie sind restlos ausgeplündert, da ist nichts mehr drin vorhanden. z.B. im Kanadischen Komitee, das hier für die UNO tätig ist.

    Simon: Wie sieht es überhaupt mit der Versorgungslage aus?

    Hörstel: Es gibt sehr viel Hunger in der Stadt und die Versorgungslage ist für die Armen nicht besonders gut, denn hier gibt es natürlich keine Arbeit, hier wird niemand bezahlt, es gibt keine Jobs bei der Verwaltung in der Stadt, und das hat eben zu großer Not in guten Teilen der Bevölkerung geführt. Es hat übrigens auch heute Nacht eine Plünderung durch die Bevölkerung aus Kabul im Bezirk der Geldwechsler gegeben. Das hat einen Schaden von über einer Million Dollar und ein Riesenaufruhr verursacht - wir waren gerade da - . Es ist auch interessant zu bemerken, dass der Kurs der afghanischen Währung stark gestiegen ist, nämlich von 155 auf 190 pakistanischen Rupie, also eine Steigerung um ein Drittel.

    Simon: Herr Hörstel, haben Sie Informationen darüber, was mit den Mitarbeitern der Hilfsorganisation Shelter Now passiert ist, die ja in Kabul auf ein Gerichtsverfahren warteten?

    Hörstel: Darüber habe ich keine Informationen. Ich habe auch in den Tagen, in denen ich da war, nichts in Erfahrung bringen können. Mein Eindruck war, die Taliban haben diese Menschen einfach mitgenommen, aber ich weiß es nicht.

    Simon: Ist es zur Zeit für Sie möglich, sich in der Stadt frei zu bewegen?

    Hörstel: Ja, ich kann mich relativ frei bewegen, aber es ist nicht vollkommen ungefährlich, weil einige ehemalige Büros der Taliban, in denen Waffen gelagert waren, von der Bevölkerung gestürmt wurden. Deshalb fahren hier, neben den bewaffneten Kämpfern der Nordallianz, auch sehr seltsame Gestalten mit zusammengestohlenen Waffen herum und das macht die Sache etwas unangenehm.

    Simon: Vielen Dank für diese Informationen, Herr Hörstel.

    Link: Interview als RealAudio