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Wie ist die Situation in Ramallah?

    Durak: Die Operation Schutzwall werde weitergehen bis Israel die Beseitigung des Terrors und seiner Urheber erreicht habe - dies ist die erste Antwort des israelischen Ministerpräsidenten auf die neue Nahost-Initiative der USA gewesen. Die erste, wie gesagt. Nun hat er unter Umständen Gesprächen zugestimmt. Leben in einem Ausnahmezustand, was bedeutet das für die Palästinenser? Wie wollen Sumaya Farhat-Naser fragen. Sie ist Professorin an der Birzeit-Universität bei Ramallah. Wir haben hier im Deutschlandfunk schon oft mit ihr gesprochen und sie um ihre politische Bewertung der Ereignisse im Nahen Osten im Konflikt zwischen den Palästinensern und Israel gebeten. Nun wollen wir von ihr zunächst einmal wissen - und damit Guten Morgen, Frau Farhat-Naser, wie leben Sie derzeit?

    Farhat-Naser: Wir leben nicht nur in einem Ausnahmezustand, sondern in einer Kriegssituation. Ein Krieg, der deshalb außergewöhnlich ist, weil er so brutal ist, vor allem gegenüber der zivilen Bevölkerung. Die zivile Bevölkerung leidet sehr: Wir haben Ausgangssperre seit neun Tagen. Die Menschen dürfen nicht aus dem Haus. Es ist deshalb gefährlich, weil überall geschossen wird, bzw. die Israelis sind verschanzt, die Soldaten in Gebäuden zwischen der zivilen Bevölkerung, und von dort werden die Scharfschützen überall schießen. Niemand wagt aus dem Fenster zu schauen. Es gibt zunehmend weniger Lebensmittel, Wasser und Elektrizität ist abgeschaltet, zerstört an mehreren Stellen ...

    Durak: Auch in Ihrem Haus, Frau Farhat-Naser?

    Farhat-Naser: Nein, ich bin 8 Kilometer entfernt. Ich bin in einem Nachbardorf neben Ramallah in Birzeit, und wir kommen noch an die Reihe. Wir erwarten in diesen zwei Tagen, dass sie zu uns kommen, aber ich bin in Verbindung mit Verwandten mit Freunden, die in Ramallah leben. Das Schlimmste ist, dass in diesem Krieg die Behinderung von Verletzten stattfindet, und an vielen Stellen gibt es auch Tote in den Familien, in den Häusern, die seit zwei oder drei Tagen da sind und nicht begraben werden können. Es gibt Panik und Horror, vor allem unter den Kindern, den Menschen. Ich weiß auch von mir: Die Hände sind gebunden. Wir können nicht arbeiten, selbst nicht im Haus aufräumen. Wir sitzen nur am Fernseher. Wir hören alle verschiedenen Radiosendungen, um zu hören, dass es vielleicht gleich einen Anschlag oder ein Attentat gibt.

    Durak: Frau Farhat-Naser, Sie informieren sich über Fernsehen und Rundfunk. Haben Sie auch noch palästinensische Quellen? Ich habe gehört, der letzte palästinensische Sender hat seinen Sendebetrieb am Mittwoch eingestellt.

    Farhat-Naser: Nicht eingestellt. Es ist alles besetzt von Soldaten und niemand kann dort arbeiten. Wir informieren uns über internationale Sendungen und über direkte Verbindungen zu den Menschen unter der Belagerung in Ramallah. Es ist ein Wahnsinn, die Ängste, die Leute können nicht schlafen, niemand kann sich vorstellen, wohin es geht. Es ist nicht das erste Mal, dass wir eine solche Belagerung haben, aber diese Belagerung ist eben darauf gezielt, total alles zu zerstören. Alles was auf den Strassen ist, ist zerstört: Autos, Elektrizitätsmasten, Wasserleitungen, Bäume. Es ist diese Zerstörungskraft, die man ständig sieht. Das zerstört auch einen Teil unserer Seele und unserer Hoffnung.

    Durak: Ein Teil der Seele der Israelis wird auch zerstört, Frau Farhat-Naser, durch die Selbstmordattentäter, und eigentlich ist ja das Wort falsch oder nur halb richtig, denn es handelt sich auch um Mordanschläge auf Zivilisten, auf israelische Zivilisten. Wie wird dies in ihren Kreisen diskutiert?

    Farhat-Naser: Das stimmt. Es ist auch eine Zerstörung der israelischen Gesellschaft und es ist kriminell was in der zivilen Gesellschaft in Israel gemacht wird. Allerdings müssen wir sagen: Es ist nicht so, dass unser ganzes Volk oder alle, die jetzt gegen Besatzung kämpfen, Terroristen sind, sondern es ist nur ein Teil, die solche Attentate befürworten. Wir haben eine ganz rege und auch bittere und harte Debatte in unserer Gesellschaft in Palästina, die schon seit drei Jahren andauert, bezüglich der Selbstmordattentate, und hier können wir unterscheiden: Die Mehrheit, wirklich die Mehrheit, über 90 Prozent sind gegen solche Attentate innerhalb Israels an der zivilen Bevölkerung. Die Mehrheit findet, dass es unser legitimes Recht ist, dass unsere Kämpfer gegen israelische Soldaten und gegen Siedler in den besetzten Gebieten kämpfen müssten. Das ist eine andere Sache. Es gibt genauso wie in Israel ungefähr 30 oder 40 Prozent, die sagen: Jegliches Attentat, jegliche Gewalttat kann uns nur in ein noch schwierigeres Dilemma bringen, und das hat keinen Zweck. Wir sind immer die Verlierer, egal mit welcher Methode wir Gewalt anwenden, und das ist da. Und leider hat diese Gewaltanwendung zugenommen, und die Ideologie, dass Gewalt nur mit Gegengewalt begegnet werden soll, ist ein Resultat der andauernden Besatzung, des zunehmenden Gefühl, wir werden total entrechtet. Die Ländereien werden weggenommen, die Siedlungen weiter erweitert. Der Friedensprozess hat nicht verwirklicht, was er eigentlich verwirklichen sollte...

    Durak: Frau Farhat-Naser, wenn Sie davon sprechen, dass die Mehrheit der Palästinenser - und Sie sprachen ja von 90 Prozent - friedliebend ist, gegen solche Selbstmordattentate, also gegen diese feigen Mordanschläge gegen israelischen Zivilisten -, welchen Einfluss haben dann denn die palästinensischen Intellektuellen in dieser Diskussion auf die entsprechenden Gruppen? Offenbar keinen?

    Farhat-Naser: Es ist deshalb sehr wenig, weil wir in einer Kriegssituation sind und die Intellektuellen mehr Einfluss haben, wenn es eine ruhige Gesellschaft ist, wenn der Alltag normal ist, wenn die Intellektuellen den Menschen sagen: Es gibt eine Hoffnung. Halt - guck mal, was hier geschieht! In dieser fürchterlichen Situation, wo auch die Verhältnismäßigkeit nicht gegeben ist, in Gewaltanwendung - denn was die Israelis den Palästinensern antun, ist auch Gewalt, ist auch Terror -, dann ist es so schwer, den Menschen zu sagen: Halt! Dann übersteigt oder herrscht dieses Gefühl der Rache, Gefühl des Hasses, ihnen es zeigen wollen, sie ärgern wollen, und das ist nicht normal. Das ist keine gesunde Gesellschaft, die so weit gekommen und gebracht worden ist, durch diese totale Enthumanisierung, Entrechtung.

    Durak: Was erwarten Sie denn von der Powell-Mission?

    Farhat-Naser: Es ist höchste Zeit, dass die Amerikaner einen Vorschlag machen. Bis jetzt sind wir sehr enttäuscht, dass sie befürwortet haben, was die Israelis machen. Ich verstehe, dass man der Gewalt total Einhalt gebieten will, aber nicht, dass man das grüne Licht so weit bringt, dass auch so stark die zivile Bevölkerung leidet. Es ist ein guter Schritt. Wir hoffen, dass daraus etwas wird und dass die Israelis tatsächlich jetzt und später die besetzten Gebiete aufgeben, dass wirklich der politische Weg beginnen kann. Und nicht nur sagen: Halt, Waffenstillstand, halt, nehmt Euch zusammen, Waffen nieder! Das wird nichts helfen. Es muss gesagt werden: Jetzt muss bewusst eine Lösung kommen, und diese Lösung heißt: Ende der Besatzung, Palästinenserstaat...

    Durak: Und Aufgabe des Terrors.

    Farhat-Naser: Stopp dem Terror! Stopp jeglicher…

    Durak: Stopp des palästinensischen Terrors!

    Farhat-Naser: Auch, natürlich. Und das kann man nicht mit einem Wort machen. Man kann nicht sagen: Stopp! Und man kann nicht sagen: Tötet die Leute, die das tun!, sondern dies muss im Rahmen des politischen Problems folgen: eine intensive Erziehungsarbeit, Beschaffung von Möglichkeiten für ein normales Leben, Einleiten von Gremien, die bewusst auf dieses Problem hin arbeiten und gemeinsam diskutieren, auch mit Israelis. Es ist so wichtig, dass wir - und das versuchen wir langsam - die israelische Öffentlichkeit ansprechen: Warum geschieht das? Nicht um das zu rechtfertigen, sondern um zu verstehen, dass das eine Katastrophe für beide Seiten ist.

    Durak: Dankeschön, Frau Sumaya Farhat-Naser, Professorin an der Birzeit-Universität bei Ramallah. Herzlichen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio