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Wie kann man die Herrschaft des Rechts im Irak herstellen?

Liminski: Das heiligste, was Gott auf Erden hat, ist das Recht des Menschen, schreibt Immanuel Kant in seinem philosophischen Entwurf zum ewigen Frieden. Er schreibt es in einer Fußnote zum Artikel über die bürgerliche Verfassung. Dem deutschen Philosophen war offensichtlich klar, dass Recht ohne Macht, das heißt ohne Sanktionspotenzial oder ohne Mittel zur Durchsetzung eine stumpfe Angelegenheit ist. Wie kann man Ordnung jetzt und die Herrschaft des Rechts künftig im Irak herstellen? Ist die Demokratie kompatibel mit den Lebensgewohnheiten in der Region? Darüber sprechen wir jetzt mit Bassam Tibi, geboren in Damaskus, seit dreißig Jahren Professor für Internationale Politik in Göttingen, dazwischen Gastprofessuren in Harvard, Princeton, Berkeley, Jakarta und Ankara und zur Zeit auch in St. Gallen. Guten Morgen, Herr Professor.

    Tibi: Guten Morgen.

    Liminski: Herr Tibi, Sie haben in Ihrem Buch "Krieg der Zivilisationen - Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus" eine Gegenthese zu Huntington entwickelt. War der Krieg im Irak ein erster Schock der Zivilisation? Ist die jetzige Phase der Anarchie ein Ergebnis dieses Zusammenpralls?

    Tibi: Huntington glaubt, dass Demokratie und Menschenrechte weltliche Errungenschaften sind, die nur für die westliche Zivilisation gelten, und daher clashen sie mit anderen Zivilisationen. Wie Huntington stelle ich auch fest: Das ist ein Zivilisationskonflikt, aber als Mitbegründer der Arabischen Organisation für Menschenrechte glaube ich, dass Menschenrechte auch für uns Muslime gelten, obwohl sie einen westlichen Ursprung haben als Konzept. So bin ich auch Anhänger von Immanuel Kant, den Sie eben zitiert haben. In der Berichterstattung über den Irak-Krieg und über den ganzen Konflikt wird diese Zivilisationsebene, diese Dimension des Zivilisationskonfliktes, völlig übergangen, entweder aus Unwissen oder aus der Vorstellung, es sei ein Vorurteil, darüber zu reden. Es ist aber eine Realität. Krieg bringt auch einen Zivilisationskonflikt zum Ausdruck. Dabei geht es um eine Despotie, die nicht nur die Despotie von Saddam Hussein war. Es gibt kleine Saddam Husseins in Syrien, in Libyen, im Sudan, im Jemen. So geht es hier darum: Wenn wir einen Diktator wie Saddam Hussein stürzen, installieren wir einen anderen Diktator, oder arbeiten wir an einem Frieden?

    Liminski: Wie kann denn nun von wem Ordnung geschaffen werden?

    Tibi: Ordnung kann nur auf zwei Grundlagen stabil sein, die einander widersprechen. Saddam Hussein hatte ja eine Ordnung, und wenn Sie jetzt die Fernsehbilder sehen in den letzten Tagen: Viele Irakis sehnen sich nach Saddam Hussein. Sie haben gesagt, unter Saddam Hussein wurden wir unterdrückt, aber wir hatten Ordnung. Diese Plünderer, diese Vergewaltiger in Bagdad, in Basra, in Mosul, die sind schlimmer als Saddam. Es gibt übrigens von einem sehr bekannten - ich glaube, das ist der wichtigste islamische Theologe des 12. Jahrhunderts, er heißt Ibn Taimiya -, er sagte, eine Nacht in Anarchie ist schlimmer als sechzig Jahre unter einem ungerechten Imam. Ein ungerechter Imam ist im Islam ein Despot. Es ist besser, unter einem Despot zu leben als Anarchie zu haben. Diese Einstellung finden Sie heute im Irak. Die Leute sagen, unter Saddam Hussein war es besser als heute. Wenn das die Freiheit ist, die uns die Amerikaner versprochen haben, dann wollen wir sie nicht. So denken viele Menschen im Orient, nicht nur die Diktatoren. Stabilität ist möglich auf der Basis einer Despotie oder einer demokratischen Ordnung mit entsprechenden Restriktionen. Im Irak hat es eine Despotie gegeben. Die Despotie ist weg, heute haben wir Anarchie.

    Liminski: Washington will eine Demokratie einführen. Ist denn die Bevölkerung im Irak überhaupt demokratiefähig?

    Tibi: Als Demokrat, der in einer islamischen Welt aufgewachsen ist und dieser Welt immer noch verbunden ist, verstehe ich unter Demokratie nicht nur den Gang zur Wahlurne. Leider denken die Amerikaner und auch hier im europäischen Westen denken viele, dass wenn Wahlen durchgeführt werden, das Demokratie bedeutet. Das bedeutet noch nicht Demokratie. Zur Demokratie gehört eine politische Kultur. Eine politische Kultur des Miteinanderumgehens. Wenn Sie und ich unterschiedliche Meinungen haben, können wir unsere unterschiedlichen Meinungen diskursiv austragen und wir brauchen einen Ort für diese Austragung, und das sind die Institutionen. Demokratie - um einen christlichen Ausdruck zu benutzen - ist eine Trinität. Zu dieser Trinität gehören erstens die politische Kultur, zweitens die Institutionen und drittens - und das ist weniger viel - die Wahlurne und die Wahlen. Wenn jetzt im Irak gewählt wird, also angenommen, die Wahlen werden nicht gefälscht, dann würden die Schiiten die Wahl gewinnen, weil die Schiiten die Mehrheit der Irakis sind mit 55 Prozent. Die populärste Bewegung unter den Schiiten ist die Bewegung von Ayatullah Hakim und sie heißt "Der oberste Rahmen für die arabische Republik im Irak", und dann haben wir statt Saddam Hussein eine islamische Republik im Irak unter Ayatullah Hakim. Ob es sich lohnt, dafür einen Krieg geführt zu haben, frage ich mich.

    Liminski: Wo könnte man denn anfangen mit dieser politischen Kultur? Bei einer freiheitlichen demokratischen Presse zum Beispiel, den Medien? Ist Al-Dschasira da nicht ein hoffnungsvoller Anfang wenigstens für die Regierung?

    Tibi: Ich habe Al-Dschasira gesehen, und leider preisen viele Europäer Al-Dschasira - ich tu es nicht. Obwohl ich froh bin, dass es eine Alternative zu CNN gibt. Al-Dschasira als Alternative zu CNN. CNN macht amerikanische Propaganda, Al-Dschasira macht arabische Propaganda. Propaganda gegen Propaganda also. Im Al-Dschasira-Fernsehen hat es in den letzten Tagen und Wochen sehr viel antiwestliche Propaganda, Antiamerikanismus gegeben, Aufhetzen, es wurden systematisch Bilder von verletzten Zivilisten gezeigt, um aufzuhetzen gegen den Westen. Das ist nicht meine ideale Vorstellung. Demokratie lässt sich nicht über Nacht einführen. Wenn die Amerikaner das ernst meinen, müssen sie Programme entwickeln, neue Erziehungsprogramme durchführen, sie müssen eine ganze Generation umerziehen. Für mich das Ideal ist ein Dokument der Vereinten Nationen, und Gott sei Dank ist dieses Dokument von arabischen Experten. Weder Europäer noch Amerikaner waren dabei. Es gibt eine Behörde der Vereinten Nationen, die heißt "United Nations Development Programme" (UNDP). Diese Behörde hat arabischen Experten einen Auftrag gegeben, ein paar Dutzend arabischen Experten - sehr große Namen darunter - wie ehemalige Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und andere Experten, und sie haben voriges Jahr ein Dokument bei den Vereinten Nationen veröffentlicht, das heißt "Arab Human Development Report 2002- Creating opportunities for future generations". In diesem Dokument wird festgestellt, dass die ganze Welt sich nach vorne entwickelt, und die arabische Welt sich nach hinten entwickelt. Es gibt keine Wachstumsrate in der Wirtschaft, es gibt eine sehr hohe demographische Explosion, also Bevölkerungswachstum, und das Alarmierende ist, keine Demokratie, keine Menschenrechte und eine sehr hohe Zahl von Analphabeten: 67 Prozent der Araber sind Analphabeten. Auch in Schwarzafrika oder Teilen Asiens kann man hohe Analphabetenraten sehen, aber Folgendes werden Sie weder in Indien noch im Kongo sehen: Zwei Drittel der Analphabeten in den arabischen Ländern sind Frauen. Dies ist ein empirischer Beweis, wie Frauen diskriminiert und ausgeschlossen werden dadurch, dass sie Analphabeten bleiben. Das muss sich alles ändern. Wenn sich das nicht ändert, dann ist das Gerede von Demokratie reinste Illusion.

    Liminski: Das amerikanische Projekt bezieht sich ja auch nicht nur auf den Irak. Wenn man sich im arabischen Raum umschaut, findet man kein Land mit einer Demokratie nach westlichen Vorstellungen. Sie nennen die Lebensgewohnheiten. Ist der Islam kompatibel mit demokratischen Staatsformen? Zum Beispiel Saudi-Arabien?

    Tibi: Es gibt nicht den einen Islam. Wenn ich vom Islam rede, dann rede ich vom real existierenden Islam, also nicht vom Islam, wie er im Koran, in unserem heiligen Buch, steht, oder wie ihn der Prophet Mohammed, in seiner Tradition geprägt hat. Der real existierende Islam in den arabischen Ländern ist mit Demokratie nicht vereinbar. Hier ist eine Islamreform erforderlich. Sie sprachen vorhin von der Bedeutung der Bildung. Wir müssen eine neue Generation bilden von Arabern und Araberinnen, die demokratisch denken, die Menschenrechte akzeptieren. Dazu gehört auch eine Erziehung in einem Reformislam. Es gibt einige Ansätze zur Reform des Islam. Die meisten Reformmuslime leben im Ausland. Der einzige große Reformer, den ich kenne, der noch in einem arabischen Land lebt, heißt Aljabeli. Er lehrt an der Universität Rabat in Marokko. Wir müssen eine Interpretation des Islam entwickeln, die an die besseren Tage des Islam anschließt - das tut zum Beispiel Aljabeli in Rabat, er versucht, den islamischen Rationalismus neu zu beleben - und das mit Demokratie verbinden. Eine Reform des Islam, eine Interpretation des Islam, die mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar ist, und diese Interpretation nicht alleine am Schreibtisch entwickeln, sondern in das Erziehungssystem hineinbringen.

    Liminski: Der Reformislam wird doch eigentlich unterlaufen von der Bevölkerungsexplosion. Die Bevölkerung wächst schneller als Mittel für eine profunde, das kritische Denken schulende Bildung bereitgestellt werden können, so dass immer breitere Massen ungebildet bleiben und somit anfällig sind für die dumpfen Parolen der Fundamentalisten. Hat da dieser Reformislam überhaupt eine Chance?

    Tibi: Sie tun Ihren Finger auf den Nerv der Sache. Es ist das größte Problem. Damit ich illustriere, was Sie gerade sagten, nenne ich Beispiele nur aus einem arabischen Land, aber das gleiche gilt für alle anderen arabischen Länder in kleinen Variationen. Als Ägypten unabhängig wurde, war Ägypten ein reiches Land mit Erdöl und gesunder Landwirtschaft. Das war 1962. Algerien wurde 1962 unabhängig und hatte 8,5 Millionen Menschen, sehr viel Erdöl, sehr viel Erdgas und eine Landwirtschaft, die ausreichte, um die gesamte Bevölkerung zu ernähren. Als die Krise in Algerien nach den problematischen Wahlen begann - das war 1992, 30 Jahre später - gab es bereits 30 Millionen Algerier. Die Zahl hatte sich in 30 Jahren verdreifacht. Heute gibt es ungefähr 36 bis 37 Millionen Algerier. Diese demographische Explosion der Bevölkerung verhindert jede wirtschaftliche Entwicklung, jede Alphabetisierung und jede Aufklärung. Das heißt, wenn ein Land eine gute Wachstumsrate in der Wirtschaft erreicht, wird diese gute Wachstumsrate in der Wirtschaft kaputtgemacht durch das demographische Wachstum, weil die Wirtschaft sich nicht so schnell entwickeln kann wie die Bevölkerung wächst. Ich muss Ihnen leider entsprechend auch Recht geben: Die Verbreitung der Bildung, eines Reformislam wird immer unterbunden durch dieses demographische Wachstum. Daher wäre wahrscheinlich der erste Schritt einer langfristigen Strategie eine Bevölkerungskontrolle, in dem Sinne, dass die Menschen dort nicht mehr zehn Kinder auf die Welt bringen sondern nur zwei. Wenn ich das hinzufügen darf, diese hohe Geburtenrate hat es in der arabischen islamischen Welt immer gegeben, vom Mittelalter bis heute, aber früher hat es die moderne Medizin, die moderne Hygiene nicht gegeben. Ein Bauer brachte zehn Kinder auf die Welt im Bewusstsein, dass mindestens ein Drittel davon überleben würde, so hatte er drei Kinder, die seine Rente besorgen würden. Es gibt dort ja kein Sozialsystem, und so sind die Kinder die Rente. Jetzt aber überleben alle zehn, und daher haben wir diese hohe Wachstumsrate.

    Liminski: Die Probleme der Demokratisierung in der Region. Das war Bassam Tibi, Professor für Internationale Politik in Göttingen, Gastprofessor in Harvard, Princeton, Berkeley, Jakarta und Ankara und zur Zeit auch in St. Gallen. Besten Dank für das Gespräch, Herr Professor.

    Tibi: Ich danke Ihnen auch.

    Link: Interview als RealAudio