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Wie solidarisch sollten Staaten untereinander sein?

Die europäische Hilfsaktion für das schwächelnde Griechenland zeugt von Solidarität - doch wie weit darf sie gehen? Es gibt Grenzen für die Hilfspflicht zwischen Staaten, sagt der Soziologe Wolfgang Ockenfels - nämlich dann, wenn Hilfsempfänger "nur auf Kosten anderer ein bequemes Leben führen".

Das Gespräch führte Jürgen Liminski | 16.03.2012
    Jürgen Liminski: Griechenland bleibt das Sorgenkind Nummer eins der Europäer, aber es gibt Lichtblicke – jedenfalls für den Moment. Gestern nun hat die Troika der Experten aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank ihren Bericht veröffentlicht und weitere Vorschläge für die griechische Wirtschaft aufgelistet, auch der Internationale Währungsfonds hat weitere Milliarden auf den Weg gebracht, Euro-Gruppenchef Juncker spricht von einer zweiten Chance für Griechenland, kurzum: Die Milliardenströme fließen weiter nach Hellas. Begründet wird das unter anderem offiziell damit, dass man in Europa solidarisch sei. Aber wie weit reicht die Solidarität unter Staaten? Wo sind die Grenzen? Gibt es überhaupt eine Solidaritätsmoral? – Zu diesen Fragen begrüße ich Professor Wolfgang Ockenfels, er ist Dominikanerpater und lehrt christliche Gesellschaftslehre an der Universität in Trier. Guten Morgen, Herr Ockenfels.

    Wolfgang Ockenfels: Grüß Gott, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Ockenfels, gibt es eine Solidaritätsmoral, also so etwas wie eine moralische Verpflichtung zum finanziellen Beistand unter Staaten?

    Ockenfels: Mir scheint, dass der Solidaritätsbegriff inzwischen so inflationär benutzt wird, dass man kaum mehr weiß, was darunter zu verstehen ist. Wir haben das Solidaritätsprinzip seit dem 19. Jahrhundert. Das ist die Grundlage dann auch legitimatorisch für unseren Sozialstaat. Es gibt also einen Beistandspakt quasi zwischen den unterschiedlichen Klassen und Gruppen, zwischen Arm und Reich, und das wird im Sozialstaat geregelt und der Sozialstaat ist eine Sache der Erzwingbarkeit. Keiner zahlt gerne freiwillig Steuern oder Abgaben, das ist also erzwingbar und hat nichts mit der Solidarität als Tugend zu tun, einer Tugend der Barmherzigkeit etwa, die freiwillig zu geschehen habe. Wir haben aber dann im Völkerrecht vor allem eine vertragliche Regelung zwischen den Staaten, nicht nur innerhalb der Staaten, sondern zwischen ihnen soll eine rechtliche Solidarität herrschen. Das ist eine Vorstellung, die Franz von Vitoria schon im 16. Jahrhundert formuliert hat, dass wir also Normen brauchen, die für alle gelten, also für alle Staaten, die hier einen Vertrag miteinander abschließen und sich dabei an Normen halten, die aber universalisierbar sein müssten im Prinzip und die dann auch reziprok gelten.

    Liminski: Können denn Staaten untereinander moralisch sein? Oder anders gefragt: Ist das Recht, auch das Völkerrecht eine moralische Kategorie, oder doch nur ein Interessenausgleich?

    Ockenfels: Also mir scheint, der Staat ist ja hier als Institution zu fassen und nicht als Personengemeinschaft. Personen sind moralisch oder sollten es sein aufgrund auch ihrer Freiheit und ihrer Verantwortlichkeit. Bei Staaten können wir nicht sofort eine Moral hier voraussetzen, vor allem keine altruistische Moral, die ganz unabhängig von den Interessen der Bürger agiert. Darum können wir schon froh sein, dass hier auch im Völkerrecht Kategorien Einzug halten, die auf einen Interessenausgleich abzielen. Auch das ist eine moralische Frage, denn dieser Ausgleich muss einigermaßen gerecht sein. Und hier gilt die alte Regel, das ist ein Nutzenkalkül: Ich gebe etwas einem Bedürftigen, damit ich wieder etwas von ihm bekomme, oder damit er mir wenigstens keinen Schaden stiftet.

    Liminski: Wo sind denn die Grenzen dieser Solidarität, selbst wenn es nur ein Interessenausgleich ist?

    Ockenfels: Nun, die Grenzen liegen einmal in der Zumutbarkeit des Gebers, der also einem anderen helfen soll, und wenn er dann vielleicht selber nicht mehr in der Lage dazu ist zu helfen, wäre es doch für ihn auch unzumutbar, hier rechtlich dazu gezwungen zu werden. Auf der anderen Seite muss man auch die Empfänger sehen, ob die überhaupt in dem Maße hilfsbedürftig sind, wie sie es oft beklagen, einklagen wollen, und das ist also ein rationales Kalkül dann. Hier muss man nicht nur auf das Moralprinzip abheben, seid schön solidarisch, sondern man muss fragen, was kann man uns hier zumuten etwa als Geberland und wie weit ist es mit der Hilfsbedürftigkeit der Empfänger und vor allem auch mit der Fähigkeit, sich selber zu helfen, wie steht es darum.

    Liminski: Gibt es denn eine Art Prioritätenliste der Solidarität?

    Ockenfels: Mir scheint, dass hier auch ein anderes Prinzip notwendig ist. Wir müssten hier schärfer die Subsidiarität beachten. Das ist übrigens ein Prinzip, das auch in die europäischen Vertragstexte Eingang gefunden hat, und hier werden die Verantwortlichkeiten, die Zuständigkeiten geklärt. Bevor wir von der Solidarität zwischen Staaten oder der ganzen Weltgemeinschaft reden, müssen wir erst mal fragen, wie steht es mit der Solidarität innerhalb unserer Ehen, unserer Familien, der Nachbarschaft, oder der Gebietskörperschaften, der Gemeinden, der einzelnen Länder und dann schließlich der Europäischen Union. Also das sind Fragen, die auch eine Prioritätenliste erforderlich machen, und die finde ich in der Subsidiarität verwirklicht. Das ist zwar ein Fremdwort, aber man sollte sich (vor allem die Politiker) mal wieder daran erinnern, dass sie gerade dieses Prinzip für die Gestaltung der Solidarität in Anspruch zu nehmen haben.

    Liminski: Ganz konkret zur griechischen Tragödie. Wann hört denn die Solidaritätspflicht gegenüber den Griechen auf – wenn unsere Reserven erschöpft sind, oder schon vorher?

    Ockenfels: Ja, schon Ihre Fragestellung enthält eine nicht ganz korrekte Feststellung, nämlich ob wir von Reserven zehren können, ob die schon erschöpft sind. Ich glaube, die Reserven sind uns schon längst ausgegangen, sondern wir sitzen selber auf einem riesigen Berg von Schulden. Das sind über zwei Billionen, eine unvorstellbar hohe Summe, die wir den späteren Generationen schulden, für die wir sehr viel Zinsen zahlen müssen. Nein, die Grenzen unserer Solidaritätspflicht liegen darin, dass man erst mal fragt, haben die Griechen oder hier der griechische Staat genügend Bereitschaft gezeigt, sich selber auch zu helfen, sich selber aus dem Schlamassel zu befreien - etwa durch Reformen, durch Strukturreformen -, oder wollen sie nur auf Kosten anderer ein bequemes Leben führen. Wenn das Letztere der Fall sein sollte, dann würden hier unsere Steuerzahler auf Dauer frustriert werden und unsere Schuldenlast würde immer höher aufgetürmt.

    Liminski: Wer ist denn im Fall Griechenland überhaupt Träger einer Verpflichtung, die Politiker, die Griechen selbst?

    Ockenfels: Ja nun, an sich müssten es ja beide sein. Wenn die Politiker die Repräsentanten der Bevölkerung oder ihres Volkes sind, müsste das irgendwie doch sehr harmonisch miteinander auskommen. Aber repräsentieren überhaupt noch die Politiker hier unsere Bürger? Das ist auch eine Frage, die man nach Deutschland richten muss. Nicht nur in Griechenland gibt es eine große Kluft zwischen den Regierenden und den Regierten. Im Übrigen glaube ich schon, dass man hier eine Entwicklungshilfe leisten muss für Griechen, nicht nur, dass man ihre Schulden vielleicht reduziert, sondern dass man ihnen die Voraussetzungen ermöglicht, überhaupt sich an diesem wirtschaftlichen Geschehen produktiv zu beteiligen und dann auch am Welthandel teilzuhaben. Das bedeutet aber, dass man dort auch investieren muss, und das ist gewiss nicht eine Sache nur von Staaten, sondern dass man auch Unternehmer dazu motiviert, dort zu investieren. Das setzt aber wieder voraus, dass der Staat sehr günstige Bedingungen dafür schafft, dass er überhaupt mal wieder einen Ordnungsrahmen bereithält, der diesem Chaos einigermaßen entgegentreten kann.

    Liminski: Einen Ordnungsrahmen bereithalten auch im Fall Griechenland – das war der Professor für christliche Gesellschaftslehre an der Universität in Trier, Professor Wolfgang Ockenfels. Besten Dank für das Gespräch, Herr Ockenfels.

    Ockenfels: Gerne!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.