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Wie verändern die fußballerischen Erfolge das Selbstbild der Türken?

    Meurer: Alles Daumen drücken und anfeuern hat also aus türkischer Sicht nichts geholfen. Die türkische Nationalmannschaft ist im Halbfinale ausgeschieden. Wochenlang hatten hunderttausend Türken auch in Deutschland mitgefiebert, wenn die Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft antrat. Anschließend wurde ausgelassen gefeiert mit Autokorso, Hubkonzerten von München bis Berlin, Frankfurt, Köln bis Hamburg. Überall große Begeisterung unter den in Deutschland lebenden Türken. In Essen am Telefon begrüße ich nun Professor Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien. Guten Morgen, Herr Sen.

    Sen: Einen wunderschönen guten Morgen.

    Meurer: Auch wenn die Türkei ausgeschieden ist, wie wichtig waren denn die Erfolge der Mannschaft für die in Deutschland lebenden Türken?

    Sen: Ich glaube das war wirklich sowohl für die Türken hier als auch in der Türkei unglaublich, denn am Anfang hat keiner damit gerechnet, dass die Türkei soweit kommen würde. Die Kritiker in der Türkei und auch in der Bundesrepublik Deutschland sind nach der Vorrunde davon ausgegangen, dass man vielleicht noch das erste Spiel spielen konnte und dann ruhig nach Istanbul zurückfliegen würde. Dieser Erfolg, dass man bis zum Halbfinale kommt, ist für die Türkei wirklich hervorragend. Aber, wie man sagt: Schuster, bleib bei Deinen Leisten. Gerade gegen Brasilien zu gewinnen, damit haben nur die Optimisten gerechnet, aber die, die etwas mit dem Fußball zu tun haben, wussten, dass diese Mannschaft wenig Chancen gegen Brasilien hatte.

    Meurer: Wenn man sich so die Bilder von jubelnden Türken hier auf deutschen Straßen, auf dem Kölner Ring, in Berlin Kreuzberg oder wo auch immer, angeschaut hat, spielte es da ein bisschen eine Rolle, dass es sozusagen für das Selbstverständnis wichtig war, sagen zu können: Die türkische Nationalmannschaft spielt einfach einen guten Fußball?

    Sen: Ich glaube, das hat eine Rolle für das Selbstbewusstsein gespielt, denn in der letzten Zeit haben die Türken in der Türkei während der Wirtschaftsrezession in der Türkei und wegen der politischen Unklarheiten wenig zu lachen. In der Bundesrepublik Deutschland, leidet die Jugend, wenn wir sie einmal analysieren, sehr stark unter Arbeitslosigkeit, und deswegen ist dieser Teilerfolg für das Selbstbewusstsein sehr, sehr wichtig, und man muss auch wirklich einen Punkt erwähnen: Fußball spielt seit mindestens 10 Jahren für die Türken in der Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Rolle. Sehr viele junge Türken denken, durch den Fußball eine Karriere zu machen. Sie wissen, dass es von Berlin bis München sehr viele türkische Fußballmannschaften gibt, bei denen die Leute spielen und mit Bayer Leverkusen liebäugeln oder in der Türkei mit Fenerbahçe, dass sie irgendwann auch eine Karriere machen, richtig Geld verdienen und populär werden können.

    Meurer: Der Stolz auf die türkische Nationalmannschaft hat gezeigt, dass türkische Jugendliche eher doch vom Herzen her türkisch und nicht deutsch fühlen.

    Sen: Ich würde das nicht so sagen. Ich bin ganz sicher, dass am Sonntag alle türkischen Jugendlichen auch für Deutschland die Daumen drücken und auch auf die Straßen gehen würden wie die Deutschen. Man muss davon ausgehen. Es gibt heutzutage Fanclubs bei Borussia Dortmund oder bei Schalke 04, bei denen die türkischen Jugendlichen eine große Rolle spielen. Ich wohne in Essen und weiß, dass bei Rot-Weiß Essen leider Gottes die jungen Türken mit den jungen Deutschen zusammen gemeinsam die Anhänger der Gegenmannschaft prügeln, das heißt, die Identität mit der Region, mit der regionalen Mannschaft spielt eine Rolle, und dieses Selbstbewusstsein bei dem Turnier ist es, weil sie nie damit gerechnet haben, dass sie soweit kommen könnten. Auf der anderen Seite freue ich mich, dass es nicht zu dem Endspiel zwischen der Türkei und Deutschland gekommen ist. Man konnte nie wissen, wie die Reaktionen auf der Straße von beiden Seiten sein könnten, aber ich bin ganz sicher, dass jetzt das Herz aller jungen Türken mit der deutschen Mannschaft schlägt.

    Meurer: Was hätten Sie denn befürchtet, wenn Deutschland am Sonntag gegen die Türkei gespielt hätte?

    Sen: Man weiß nie. Es gibt auf beiden Seiten bei jedem Spiel fanatische Leute. Es könnte sein, dass es zu kleineren Auseinandersetzungen kommen könnte, und das darf man in der Bundesrepublik Deutschland nie riskieren, denn ein friedliches Zusammenleben zwischen Deutschen und Türken, oder sagen wir, zwischen Deutschen mit türkischer Abstammung und Deutschen muss weiterhin existieren, denn Sie wissen auch, immer mehr junge Türken nehmen die deutsche Staatsangehörigkeit an, die Zahl steigt. Natürlich ist beim Fußball Fanatismus in jedem Fall da, aber im Endeffekt glaube ich doch, dass das Herz am Sonntag beim Spiel gegen Brasilien für Deutschland schlägt. Natürlich wäre ein Spiel zwischen Deutschland und der Türkei etwas problematischer.

    Meurer: Wieso haben sich eigentlich die meisten türkischen Fans gewünscht, dass, wenn die Türkei ins Endspiel kommt, dann der Gegner Deutschland heißt?

    Sen: Natürlich hat man vor Deutschland als Fußballriese großen Respekt, und in der Bundesrepublik Deutschland, wenn Sie zu den Bundesliga-Spielen gehen, dann werden Sie wirklich sehen, wie viele junge Türken auch zu den Spielen gehen. Gegen Deutschland irgendein Spiel zu machen, auch wenn man gegen Deutschland verliert, ist natürlich eine große Steigerung des Selbstbewusstseins bei den jungen Türken, und ich glaube, bei den älteren Türken auch.

    Meurer: Zusammengefasst: Bringt der Fußball Deutsche und Türken zusammen oder trennt er sie?

    Sen: Nein, er hat sie zusammengebracht, denn ich weiß, wie viele Deutsche sich auch mit der Türkei solidarisiert haben und der Türkei das gegönnt haben. Ich glaube, für das Image der Türkei war diese Weltmeisterschaft besonders wichtig. Man hat einen ganz anderen Respekt und Vorstellungen gegenüber der Türkei. Heutzutage spielt Fußball, auch im politischen Bereich, eine wichtige Rolle. Diese Fußballmeisterschaft hat der Türkei sehr viel gebracht, auch für die Anerkennung in Europa. Man muss von folgendem ausgehen: Von Europa sind zwei Mannschaften, Deutschland und die Türkei, bis zum Halbfinale gekommen, und ich glaube, das ist auch für die EU-Mitgliedschaft der Türkei ein Teilerfolg. Man hat die Türken mehr als Europäer akzeptiert.

    Meurer: Das war Professor Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien in Essen bei uns heute früh im Deutschlandfunk. Herr Sen, besten Dank und auf Wiederhören.

    Link: Interview als RealAudio