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Wie zeitgemäß ist der Nationalstolz?

Liminski: "Die Nation ist die Gemeinschaft der Toten, der Lebenden und der Künftigen", meinte der britische Konservative Edmund Burgh. Bei den Künftigen ist naturgemäß unbekannt, ob man einmal auf sie wird stolz sein können. Bei den Lebenden ist auch nicht so ohne weiteres absehbar, wie viele um das Wohl des Volkes bemühte Staatsmänner sich unter ihnen befinden. Und bei den Toten kann man in etlichen Fällen froh sein, dass sie nicht mehr sind was sie waren. So weit die Politik. In der Wissenschaft und vor allem in der Musik sieht es anders aus. Da erweist sich das Volk der Dichter, Denker, Forscher und Komponisten in Deutschland durchaus des Stolzes würdig. Aber ist es nicht etwas anachronistisch, im Europa von heute mit patriotisch aufgeblähter Brust in die Zukunft zu schauen? Wem gehören Goethe, Beethoven, Kant, Mozart oder auch Victor Hugo, Voltaire und Balzac? Ist der Nationalstolz kein Gefühl der Vergangenheit? Darüber wollen wir jetzt reden mit dem ehemaligen Außenminister Frankreichs und jetzigen Senator Jean Francois-Poncet. Guten Morgen!

23.03.2001
    Francois-Poncet: Guten Morgen.

    Liminski: Herr Francois-Poncet, sind Sie stolz Franzose zu sein und wenn ja warum?

    Francois-Poncet: Ja, stolz, warum nicht? Natürlich kann man der französischen Nation viele Vorwürfe machen, aber auch viel Gutes kann man vorlegen. Ich meine Frankreich und Deutschland haben der Weltzivilisation und der Weltkultur vieles beigetragen. Aber nationaler Stolz heißt natürlich nicht Nationalismus. Das ist anachronistisch, überholt. Für unsere Nationen selbst ist das ein schädliches Gefühl.

    Liminski: Ist denn der Patriotismus - wir reden ja dann auch vom Patriotismus, der nicht schädlich ist - abhängig von der Größe des Landes? Die Amerikaner halten beim Singen ihrer Hymne die Hand ans Herz. Bei den Europäern ist das nicht zu sehen. Worauf sollen denn die Luxemburger stolz sein oder die Liechtensteiner oder die Menschen in vergessenen Pyrenäental Andorra?

    Francois-Poncet: Ich meine warum sollte Patriotismus etwas mit der Größe des Landes zu tun haben. Das ist keinesfalls davon abhängig. Wenn das der 'Fall wäre, dann würde man Patriotismus mit Machtwillen gleichstellen. Patriotismus ist die Liebe seines Landes, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Das hat mit Größe ja nichts zu tun. Warum können Luxemburger nicht auf ihr Land stolz sein? Ich glaube das sind sie!

    Liminski: Ihr Landsmann Ernest Renault, Herr Francois-Poncet, hat vor 130 Jahren in der Nationalversammlung gesagt, die Nation sei ein tägliches Plebiszit. In Deutschland wird das zur Zeit praktiziert. Jeden Tag gibt irgend ein Prominenter kund, wie patriotisch er sei. Glauben Sie, dass man damit junge Leute, junge Europäer beeindrucken kann?

    Francois-Poncet: Das glaube ich nicht. Ich glaube, um zu dem zurückzugehen, was Sie anfangs gesagt haben, die Brust aufzublasen in der heutigen Welt für Länder wie unsere, wie Deutschland und Frankreich, hat überhaupt keinen Sinn mehr. Und ich glaube man irrt sich, wenn man denkt, dass die jungen Menschen damit anzuziehen sein, oder dass man sie mit solchen Gefühlen verführen kann. Ich glaube die sind klüger als das. Das kann ich Ihnen jedenfalls von Frankreich sagen.

    Liminski: Wird es Ihrer Meinung nach einmal einen europäischen Patriotismus geben, ein tägliches Plebiszit für Europa?

    Francois-Poncet: Ich glaube man muss Patriotismus und europäische Integration nicht im Gegensatz stehen lassen. Zwischen diesen Begriffen, ich würde auch sagen zwischen diesen Gefühlen gibt es keinen Gegensatz. Es muss jeder verstehen, dass Europa im Gegenteil der einzige Weg ist, um unseren europäischen Ländern einen Sitz am Tisch der Großmächte von morgen zu verschaffen. Der einsichtige Patriotismus muss ein föderales Europa bestreben. Ob es einen europäischen Patriotismus geben kann? Ich meine ja, aber bitte! Es hat viele Jahrhunderte notwendig gemacht, bevor ein nationaler Patriotismus erschien. Mit Europa geht es glaube ich schneller. Es geht ja alles schneller in der heutigen Welt. Aber mehr Zeit nimmt das. Es hängt natürlich von den Staatsmännern, unseren Staatsmännern, wahrscheinlich hauptsächlich in Frankreich und Deutschland ab, ob sie das notwendige tun, um diese Entwicklung zu beschleunigen.

    Liminski: Es ist Tradition, dass französische Präsidenten Ansprachen beenden mit dem patriotischen Wunsch "vive la france". Einer von ihnen, der verstorbene Francois Mitterrand, hat in seiner letzten Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg vor einem aufkommenden Nationalismus in Europa gewarnt. Nationalismus bedeute Krieg, sagte Mitterrand. Wir erleben die Wahrheit dieses Wortes derzeit auf dem Balkan. Wo würden Sie die Grenze ziehen zwischen Nationalismus und Patriotismus?

    Francois-Poncet: Ich würde sagen, dass Patriotismus und Nationalismus weit entfernt sind. Patriotismus ist ein gesundes Gefühl. Nationalismus ist eine gefährliche Perversion des Patriotismus, eine Verirrung des 19. und 20. Jahrhunderts und es ist sehr wahrscheinlich der Fall, dass der Balkan stets im 19. oder im 20. Jahrhundert wohnt. In unserem Jahrhundert sind sie noch nicht eingetroffen.

    Liminski: Sind denn die Bretonen eine Nation oder auch die Korsen und was ist mit den Basken?

    Francois-Poncet: In Frankreich hat die Geschichte Nation und Staat gleichgestellt. Dadurch ist natürlich meine Antwort nein für die Bretonen oder die Korsen. Die Antwort könnte jedoch anders klingen, wenn die Geschichte anders abgelaufen wäre. In anderen Ländern kann man denken, dass in einem Staat mehrere Nationen sich zusammenstellen. Mit der europäischen Föderation kann man ja sehr gut denken, muss man ja sogar denken, dass Europa von mehreren Nationen abgemacht sein wird.

    Liminski: Noch ein Wort zum Gipfel der Europäer, der heute in Stockholm beginnt. Ein Thema wird gerade der Konflikt auf dem Balkan sein. Da ist ein kleines Land, eine kleine Nation, Mazedonien, die um Hilfe schreit. Was sollten die großen Nationen wie Frankreich und Deutschland tun?

    Francois-Poncet: Ich meine die NATO muss eingreifen. Wenn die Amerikaner nicht mitmachen, müssen das Frankreich und Deutschland tun. Warum? Weil sonst das schwankende Gleichgewicht auf dem ganzen Balkan gestört werden kann. Mit den Grenzen muss man in dieser Gegend am besten nicht mehr spielen.

    Liminski: Das war Jean Francois-Poncet, ehemals Außenminister, heute Mitglied des Senats und dort Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses. - Besten Dank nach Paris, Herr Francois-Poncet!

    Link: Interview als RealAudio