Samstag, 27. April 2024

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Wie zynisch war der alliierte Bombenkrieg?

Fischer: Fünf Mllionen Luftbilder aus dem Zweiten Weltkrieg – eine Foto-Galerie des Schreckens und der Zerstörung, sollte man meinen, ist da von den "Aerial Reconnaissance Archives" der Universität Keele digitalisiert und im Internet veröffentlicht worden. Andererseits ist die Vogelperspektive auf den Krieg ja eine ziemlich abgehobene... Ob Bomber-Pilot oder Aufklärungsflieger, in beiden Fällen war man, salopp gesprochen, schnell "drüber weg". Die Fotos selbst haben allerdings eine unbestritten moralische Dimension, weil sie, auch schon in der Vergangenheit, immer wieder gewisse Fragen aufwarfen: was wussten die Alliierten etwa von Auschwitz, und wie genau waren ihre Kenntnisse vor dem so genannten Feuersturm auf Hamburg oder Dresden?

Jürgen Krönig im Gespräch | 20.01.2004
    Fünf Millionen Fotos, da muss man ein bisschen systematisieren. Deshalb zunächst die Frage an meinen Kollegen Jürgen Krönig in London, was war denn grundsätzlich die Funktion der Royal-Air-Force-Fotos?

    Krönig: Im Grunde genommen, die gleiche, wie heute auch, nur dass wir heute natürlich die Technologie, die Aufklärung sehr viel weiter vorangetrieben haben.
    Es ging einerseits um Aufklärung und andererseits um Schadensbemessung, um zu sehen was für Ziele getroffen worden sind, was man erreicht hat und um weitere Luftangriffe vorzubereiten.

    Fischer: Die Fotos waren wichtige Quellen, sagen Sie, um den Luftkrieg überhaupt zu führen, aber viele Fotos sind ja auch erst nach der Bombardierung von Städten durch die Royal Air Force gemacht worden, wie das des zerbombten Köln vom 18. Juni 1945. Diese Fotos - das habe ich schon angedeutet - werfen auch weitergehende Fragen auf und könnten durchaus als Beweis für die These eines Jörg Friedrich über den Vernichtungskrieg gegen das deutsche Volk dienen. Kann man aus diesen Fotos herauslesen, was die Alliierten wussten und was sie getan haben – sozusagen im moralischen Sinne?

    Krönig: Aber selbstverständlich. Es ist doch immer schon klar gewesen und ich glaube, das hat niemand bestritten - auch nicht in Großbritannien oder in irgendeinem anderen Land, das involviert war in dem Zweiten Weltkrieg - dass der Luftkrieg, dass dem Bomber Harris im Auftrag der militärischen und politischen Führung Großbritanniens für die Royal Air Force konzipierte natürlich bewusst auf die Demoralisierung der Zivilbevölkerung ausgerichtet war, auf die Zerstörung der Städte, damit dieses Ziel erreicht wurde, und man muss das gar nicht beschönigen: So wurden Kriege geführt. Mit Ausnahme allerdings heute, denn der Irakkrieg war das Gegenbeispiel. Denn da hat man bewusst versucht, die Zivilbevölkerung nicht zu treffen, was nicht immer gelungen ist. Aber im Prinzip ist das eine völlig neue Annäherungsweise. Der Zweite Weltkrieg war ein klassischer Krieg, in dem man auch die Bevölkerung bestrafte indirekt zumindest dafür, dass sie solch eine furchtbare Tyrannei mitgetragen hat. Dieses Element der Strafe war immer da. Dabei darf man historisch natürlich nicht vergessen, dass Großbritannien bevor die Sowjetunion mit in den Krieg hineingezogen wurde und Amerika in den Krieg eintrat völlig alleine stand gegenüber einem Europa, das besetzt war von Hitler-Deutschland und dass es ein Überlebenskampf war. Dass man antwortete auf die deutschen Bomben, indem man auch mit britischen Bomben die deutschen Städte bombardierte. Das war ein Krieg, bei dem es ums Überleben ging. Also insofern sind diese moralischen Kategorien im Nachhinein zwar verständlich, aber doch auch leicht falsch.

    Fischer: Nun sprechen wir ja von einer Veröffentlichung von Millionen Fotos, deshalb noch einmal umgekehrt gefragt: Gibt es eine neue Qualität durch diese Veröffentlichung jetzt? Gibt es Fragen, die jetzt gestellt werden können, die noch nicht gestellt wurden, oder gibt es neue Antworten?

    Krönig: Frau Fischer, die Fragen, die Sie anrissen eben beispielsweise auch, lassen die Fotos die Annahme zu, die ja auch schon aus anderen Quellen abgeleitet wurde, dass beispielsweise die Alliierten Bescheid wussten über den Holocaust, über die Judenvernichtung, über die Todesfabriken. Natürlich war das auch bekannt und natürlich gab es immer wieder Hinweise darauf. Nur muss man sich wiederum in die Zeit hineinversetzen. Es ging damals um die Niederlage oder den Sieg über ein Regime, nicht darum an einzelnen Stellen punktuell vielleicht etwas zu verhindern, was womöglich sowieso schwer gefallen wäre, weil manche der Todesfabriken weit weit auf dem Kontinent, in Polen oder anderswo lagen und wir nicht die technologischen Mittel damals beim Militär sahen, die heute fast selbstverständlich geworden sind. Also insofern sind das natürlich Fragen, die immer wieder auftauchen und wenn solche detaillierten Fotografien, Luftaufnahmen vorliegen, stellt sich die Frage natürlich neu: Hätte man vielleicht etwas machen können?

    Fischer: Nicht alle, der jetzt ins Netz gestellten Bilder sind neu. Die Anzahl ist natürlich spektakulär. Letzte Frage: Geht mit dieser Veröffentlichung – Ihrer Meinung nach – jetzt auch eine neue Diskussion in Großbritannien los über diese Kriegsziele? Oder wie schätzen Sie die Bewertung der Veröffentlichung in England ein?

    Krönig: Es wird mit Sicherheit darauf eingegangen, weil man natürlich in Großbritannien, wie auch in anderen Ländern registriert hat, dass Deutschland auf einmal stärker ein politisches Tabu bricht oder ein politisches Tabu umgeht, das jahrelang - jedenfalls vom linken und liberalen Milieu her – die Behandlung solcher Themen, wie das furchtbare Ausmaß der bewussten Zerstörung der Städte und der Bevölkerung gemieden hat. Es gibt manche, die das als beunruhigend werten, andere sagen, das ist ein normaler Prozess, der einfach zur Aufarbeitung der Geschichte dazu gehört.