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Wiener Geschmackslandschaften

Der Geschmack von Wien ist, sagt Lutz Musner, am Anfang süß, im Abgang sauer. Soll heißen: Im inzwischen fast unangenehm hochpolierten Zentrum, zwischen Burgtheater, Stephansdom und Karlskirche schmeckt Wien nach Demel-Torten, Mannerschnitten, Apfelstrudel; geht es dann weiter nach draußen, in die Vorstädte, kommt der Geschmack des sauren Brünnerstraßlers zum Tragen, eines schlichten Tropfens von den Weinbergen in Wien-Stammersdorf.

Von Beatrix Novy |
    Natürlich steht über dieser einfachen Beobachtung eine weiter ausholende These: Es geht um Schein und Sein, um Bild und Wirklichkeit einer Stadt, und darum, wie beides miteinander korrespondiert und neue Bilder generiert. Und kaum eine Stadt hat so zäh und so erfolgreich ihr imaginiertes Selbstbild in immer neuen, an der Wirklichkeit geschliffenen Erscheinungen durch die Jahrhunderte transportiert wie Wien.

    Wien gilt als Refugium einer entspannten, genussbetonten Lebensform, es gilt als Ort der Musik und der Muse, es gilt als Ort der Diesseitigkeit wie auch der seelischen Abgründe, es gilt als Heimstätte des Walzers und des guten Essens, und es gilt als Wirkungsstätte von Sigmund Freud und als Schauplatz des "Anschlusses" von 1938 samt darauf folgender mörderischer Judenverfolgung. Wien wird so gleichermaßen als Stadt- wie auch als Seelenlandschaft präsentiert.

    Über der Stadt als physisches Gebilde liegt ein Gespinst von Traditionen, Literaturen, Illustrationen, Erzählungen, das Lutz Musner sich aufgemacht hat zu durchdringen, durch seine vielen Schichten sich zu wühlen, seine Bilder auf ihre Ursprünge zurückzuführen und festzuhalten, wo diese Bilder auf die Realitätswahrnehmung zurückwirken und schließlich auf die Realität selbst.

    Wie alle berühmten und traditionsreichen Städte hat Wien der Globalisierung den üblichen Tribut gezollt; aber auch wenn sein Stadtbild den austauschbaren Chiffren der großen Marken und Unternehmen überantwortet wurde: auf der anderen Seite der globalen Medaille, im Wettbewerb der Distinktion, in dem dieselben Städte ihr ganz eigenes Gepräge der öden Gleichmacherei entgegensetzen, zeigt Wien eine bemerkenswerte Fähigkeit darin, seine Eigenschaften in ein topaktuelles Branding zu überführen.

    Eigenschaften, die eng an die Traditionsverbundenheit alles Wienerischen geknüpft sind. Für diese Besonderheit steht der Begriff "Alt-Wien", ein mittelalterlich verwinkeltes, von reizenden Kleinbürgern bevölkertes biedermeierliches Wien, das längst als Konstrukt entlarvt wurde, das es so nie gab und doch die Wahrnehmung steuert.

    "Habitus" und "Geschmackslandschaften", die Begriffe, mit denen Lutz Musner auf den Stadtcharakter losgeht, lassen zum Beispiel bestimmte Modernisierungsbewegungen nicht zu: Aus den heißen Debatten um einen Hochhausbau am Bahnhof Wien-Mitte, am Rand der Innenstadt, gingen die Hochhausgegner nicht nur deshalb siegreich hervor, weil die UNESCO sich quergestellt hatte; auch ein Turm im neugestalteten Museumsquartier konnte seinerzeit nicht durchgesetzt werden. Was Lutz Musner, wie so viele Hochhausbau mit Fortschritt verwechselnd, offenkundig als jene Regression wertet, die Alt-Wien bewahren will. Dennoch ist gerade das Museumsquartier, ganz ohne Turm, zu einem Exempel für die Wiener Fähigkeit geworden, moderne und juvenile "Geschmackslandschaften" erfolgreich ins Gesamtbild zu integrieren, was auch Lutz Musner nicht leugnen kann. Wie überhaupt es gerade die Synthese aus Widersprüchen ist, mit denen Wien immer wieder sein Bild korrigiert, ohne auch nur ein Jota seiner alten Motive abzugeben.

    Man lukriert alle Vorteile einer modernen, sicheren, kosmopolitischen und gut verwalteten Großstadt und schafft sich zugleich wohlbehütete Orte des Rückzugs, der Behaglichkeit und der Ruhe. Man setzt auf Innovation und Fortschritt und schafft zugleich Puffer, sodass das Neue nicht überhandnehmen kann. Man bricht unternehmerisch in unbekannte Territorien auf (Osteuropa), baut zugleich aber die Heimatstadt als Refugium aus, um in einer mobil gewordenen globalisierten Gesellschaft auf der sicheren Seite zu sein. Man nützt alle Vorteile einer internationalen Wirtschafts- und Konsumlandschaft, baut jedoch veritable Schutzwälle auf, um den Zustrom von MigrantInnen und damit von KonkurrentInnen auf dem Arbeitsmarkt zu bremsen. Man pocht auf Zukunft, Innovation, neue Märkte und Investitionen und forciert zugleich den Rückbezug auf Tradition und Geschichte.
    Das Buch beruht auf der Habilitationsschrift des Autors, beeindruckend ist folglich die Materialfülle, aus der er das Bild der Stadt herausliest. Vor lauter Zeichen-Lesen scheint der Kulturwissenschaftler manchmal zu vergessen, dass es vor und hinter den Zeichen noch eine Realität gibt. Wien wird nicht nur "präsentiert", Wien existiert. Wenn die Wiener stolz sind auf ihre grüne Stadt, den hineinragenden Wienerwald und die Weinberge, dann darf man annehmen, dass sie einfach das viele Grün toll finden, ja vielleicht auch dankbar an die 100-jährige soziale Tradition der Gemeinde denken; für Musner speist sich "diese Reverenz an die Natur in der Stadt" aus dem "zentralen Stellenwert, der der Natur im Imaginären der Stadt" zukomme.

    Überaus oft beginnen die Sätze mit "Nicht zufällig" oder "nicht von ungefähr": Dann soll wieder einmal suggeriert werden, dass hier eine, früher hätte man gesagt: ideologische Überformung am Werk ist. Der kulturwissenschaftliche Jargon transportiert einen ununterbrochen vorwurfsvollen Ton – er gleicht aufs Haar dem uralten grantelnden Wien-Gestöhne aller Intellektuellen, die Wien hassen wie die Pest und lieben wie den Apfelstrudel nachmittags im Kaffeehaus – beides mit Recht übrigens. Ganz weit hergeholt aber wird das Spiel der verzweigten Assoziationen, wenn Musner eine populäre Kekssorte, die Mannerschnitten, als Beispiel für das Branding einer traditionellen Marke auf dem modernen globalen Markt beschreibt. Das traditionalistische Mannerschnittendesign ruft mannigfach die Vergangenheit wach, erinnert an die Genussseligkeit der Wiener, an die Mehlspeis-Tradition, es soll, laut Musner, für eine weiblich liebende, fürsorgliche Stadt stehen und die Erinnerung an die aggressive Stadt der Gewalt und der Judenverfolgung vergessen machen. Und was passiert?

    Selbst für vertriebene Juden wie den international bekannten Schriftsteller Fredric Morton (Fritz Mandelbaum), der Wien 1939 verlassen musste, repräsentieren die Mannerschnitten ein vergangenes, ein besseres Wien, da die Hausbesorgerin seiner Familie ihm vor seiner Flucht noch schnell eine Packung mit den Worten zusteckte: "Etwas Süßes für die schwere Reise!"
    Was Frederic Morton wohl von der Zumutung hielte, er habe gefälligst Mannerschnitten mit männlicher Aggression und Pogromen zu assoziieren, statt sie sich schmecken zu lassen?

    Aber halten wir auch das der durchgängigen Ironie zugute, der dieses Buch, wie Musner am Ende gesteht, nicht entkommen kann.

    Lutz Musner, Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt
    Campus 2009