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Wiener Ringstraße
Größter Stadtumbau Europas

Im 19. Jahrhundert waren Festungsanlagen und Wälle für Europas Städte nutzlos geworden und standen dem urbanen Wachstum immer mehr im Weg. Wien ging beim Rückbau der Anlagen voran und leistete sich gleichzeitig mit der Ringstraße den teuersten und mit überwältigender Architektur bestückten Boulevard Europas. Vor 150 Jahren wurde er eröffnet.

Von Beatrix Novy | 01.05.2015
    Fiaker vor der Kirche am Hof in Wien
    Schon 1858 wurde der erste Wettbewerb ausgeschrieben, in den folgenden Jahrzehnten entstand die prachtvolle, über 5 Kilometer lange Via Triumphalis aus repräsentativen Staatsbauten, Theatern, Museen und Wohnpalästen. (dpa / picture alliance / Andy Bernhaut)
    Wo gibt es das sonst noch? Jedes Jahr zieht eine machtvolle 1. Mai-Demonstration in der seit Äonen sozialdemokratisch regierten Stadt Wien über die Ringstraße. Noch viel eindrucksvollere Menschenmassen marschierten im Roten Wien der 20er Jahre, am Tag der Arbeiterklasse über den Boulevard. Dass es mal so weit kommen würde, hätte niemand geglaubt, der am 1. Mai 1865 bei der offiziellen Eröffnung der frisch angelegten Straße dabei war.
    "Die Volksmassen, welche die Straßen und den Prater füllten, waren unermesslich. Seine Majestät der Kaiser trug die Uhlanenobersten-Uniform, ihre Majestät die Kaiserin ein violettes Creppekleid und einen Sonnenschirm aus violett gefärbten Straußfedern."
    Die Majestäten waren Kaiserin Sisi und Kaiser Franz Joseph, der höchstselbst den Anstoß zum Bau der Ringstraße gegeben hatte.
    "Es ist mein Wille, dass die Erweiterung der inneren Stadt Wien mit Rücksicht auf eine entsprechende Verbindung derselben mit den Vorstädten ehemöglichst in Angriff genommen und hierbei auch auf die Regulierung und Verschönerung Meiner Residenz- und Reichshauptstadt Bedacht genommen werde."
    Fünf Kilometer lange Via Triumphalis
    Schon 1858 wurde der erste Wettbewerb ausgeschrieben, in den folgenden Jahrzehnten entstand die prachtvolle, über fünf Kilometer lange Via Triumphalis aus repräsentativen Staatsbauten, Theatern, Museen und Wohnpalästen, ohne die Wien heute nicht zu denken ist. Zu denen, die von Anfang an begeistert waren - das waren keineswegs alle -, gehörte die Wiener Zeitung:
    "Wien wird endlich das werden, was es längst sein könnte, Deutsch-Paris!"
    Beim damals größten Stadtumbau Europas kamen etliche Architekten des herrschenden Historismus zu Ruhm und Ehre, wie Gottfried Semper, Friedrich Schmidt, August von Siccardsburg, Theophil Hansen. Die Monarchie, in der es an allen Ecken und Enden knirschte, bekam kurz vor Schluss ihr Schaufenster. Und sie musste sich dafür nicht einmal ruinieren. Der Leiter des Architekturzentrums Wien, Dietmar Steiner:
    "Zunächst einmal war die Wiener Ringstraße infolge auch der ganzen Gründerzeit in Wien natürlich übelste Spekulation, und zwar in diesem Fall vom Kaiserhaus, dem ja die Gründe gehört haben, das "Glacis", und die es lukrativ an das erwachte Bürgertum sozusagen oder Großbürgertum könnte man fast sagen, an die neuen Industriellen des 19. Jahrhunderts, verkauft haben."
    "Höfisches, adeliges, grundbürgerliches Wien, deine Zeit ist um, eine neue Macht ist da, das Geld tritt jetzt die Regierung an!"
    Historisches Markenzeichen Wiens
    Schrieb um 1900, als die Ringstraße fast fertig war, der Schriftsteller Hermann Bahr, der das großmächtige historistische Ensemble nie hatte leiden können:
    "Kaum irgendwo sonst ist die Bourgeoisie gleich so triumphierend eingezogen, mit einem Banner aus Stein und hauptsächlich Gips."
    Ohne das große Geld der meist jüdischen "zweiten Gesellschaft" hätte die Ringstraße gar nicht gebaut werden können. Und während heutige global-mobile Superreiche ihr angesagtes Luxusappartement in Wien ab und an nur besuchen, sorgten die offenen und spendablen Bankiers und Industriellen von damals in ihren Salons für Geist und Kunst des Fin de Siècle, heute ein historisches Markenzeichen Wiens. Aber das ist längst nicht die ganze Geschichte der Ringstraßenära:
    "Die Ringstraße muss immer im Zusammenhang mit der Gründerzeit gesehen werden, die ja auf der anderen Seite, ich nenn's jetzt metaphorisch, auf der Rückseite der Ringstraße die übelsten Wohnverhältnisse entstehen ließ."
    Dort begann ein großflächiger Abriss der Vorstädte, die Wien seit 1850 eingemeindet hatte. Mietshäuser wuchsen mehrstöckig in die Höhe, in dicht bebauten, lichtarmen Stadtvierteln für das nach Wien strömende industrielle Proletariat wuchs über die Jahrzehnte ein schreckliches Wohnungselend.
    "Das war diese berühmte "Zinskaserne": Zimmer, Küche, Kabinett, Klo am Gang, Wasser draußen."
    Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Gemeinde Wien, die beim Ringstraßenboom leer ausgegangen war, sozialdemokratisch. In den 20er und 30er Jahren baute sie mit Mitteln aus einer eigenen Wohnbausteuer, heftig angefeindet vom konservativen Bürgertum, monumentale Wohnanlagen mit insgesamt 60.000 Sozialwohnungen. Die Reihung dieser Arbeiterwohnpaläste des Roten Wien bekam bald den Namen: "Ringstraße des Proletariats".