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Wildes Nachtleben

Warschau galt lange Zeit als grau und unübersichtlich. Das neue Warschau ist weltoffen und dynamisch. Die junge Generation nutzt den öffentlichen Raum für ihre kreativen Werke - und tanzt in den angesagten Klubs auf Praga.

Von Adalbert Siniawski | 01.04.2013
    Wer auf Praga ein dichtes Netz aus Kneipen und Klubs erwartet, der wird hier nicht fündig. Die Locations sind wie Inseln kreuz und quer über das Viertel verteilt: Cafés in der Zabkowska-Straße, Konzertbühnen in der Straße 11. Listopada oder das kreative Konglomerat in der Inzynierska-Straße, das wir jetzt besuchen. Vor uns: ein mehrstöckiges Backsteingebäude, Typ: hanseatischer Speicher. Heute bietet das Gebäude jungen Designern, Modeschöpfern, Werbefirmen und Künstlern Platz für ihre Studios und Ateliers. Hier arbeiten unter anderem der renommierte Bildhauer Pawel Althamer und der Innenarchitekt Miroslaw Nizio.

    Feierwütige Hipster gehen ein paar Schritte weiter, in den zweiten Innenhof, zu einem der angesagtesten Klubs der Stadt. Schon der Name soll subversiv klingen:

    "Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen."

    So hat Salvador Dali eines seiner Gemälde benannt. Auf Polnisch und in Kurzform heißt der Klub: Sen Pszczoly.

    Im Erdgeschoss: eine meterlange Bar, Retrosofas, eine Tanzfläche. Über eine schmale Treppe gelangt man in das Souterrain, mit Konzertbühne und einer Theke im kühlen Industriedesign.

    Die Macher von Sen Pszczoly sind ein junges Paar: Grafiker und Innenausstatter Adam Rejnhard und Schauspielerin Elzbieta Komorowska aus Krakau.

    Elzbieta Komorowska: "Ich bin - wie viele andere Menschen auch - wegen der Arbeit nach Warschau gekommen, das war im Jahr 2000. Ich hatte zuvor in Krakau studiert, wo die Abende sehr belebt sind. Hier in Warschau gab es nur eine Handvoll Klubs und Bars, in die man gehen konnte; nur einen oder zwei Supermärkte, die rund um die Uhr geöffnet waren. Ich war sehr schockiert, dass das die polnische Hauptstadt war".

    Adam Rejnhard: "Zu uns kommen viele und ganz unterschiedliche Leute. Wir veranstalten verschiedene Kulturevents: Partys, Konzerte, Ausstellungen, Vinyl- und Bücherbörsen, Performances und Happenings. In unseren Räumen spielt ein Offtheater. Wir haben außerdem eine Stiftung gegründet, die junge kreative Musiker und Künstler unterstützt. Wir angeln nach diesen Talenten, wie nach Fischen im Ozean."

    Elzbieta Komorowska: "In den vergangenen drei Jahren hat sich Warschau sehr verändert, die Stadt ist offen für alle Neuheiten. Denjenigen, die wegen der Arbeit hergekommen sind, ist klar geworden, dass sie hier lange bleiben werden. Sie haben angefangen, den öffentlichen Raum einzurichten - und das spürt man. Warschau wird immer bunter und hipper."

    Adam Rejnhard: "Es herrscht eine optimistische Stimmung. Das alte Warschau galt lange Zeit als unübersichtlich, grau und träge. Das neue Warschau ist befreit und jung. Es ist eine tolle, belebte Stadt mit einem großen Potenzial."

    Elzbieta Komorowska: "Wir haben uns Praga ausgeguckt für unseren Klub, weil es authentisch und vielversprechend ist. Allerdings bin ich etwas enttäuscht, wie langsam dieser kulturelle Wandel hier abläuft. Er ist zu spüren, aber er vollzieht sich nicht so blitzartig wie in anderen europäischen Städten. Hier könnte mehr passieren. Ich wünschte mir, dass es 100 solcher Locations gibt. Die Stadt sollte gemeinsam mit uns an dem Wandel arbeiten - oder uns zumindest nicht behindern."

    Adam Rejnhard: "Es ist klar: Alles hängt davon ab, ob es genug Geld gibt für Bildung und Kultur. Aber da möchte ich jetzt nicht zu weit vorpreschen.

    Es ist nicht so, dass die Hipster wie Außerirdische in dieses Viertel kommen und es schnell wieder verlassen. Ich sag's mal so: Wir sind alle Erdenbewohner. Hier treffen sich verschiedene Leute aus der ganzen Welt und aus ganz Warschau."

    Elzbieta Komorowska: "Und wenn sie von den tollen Klubs hier hören, kommen sie auch bei Tageslicht auf Praga. Sie sehen diese Seite dann ganz anders. Wir wollen unsere Gäste in der Nacht an den Tag gewöhnen. So funktioniert das: Wir machen sie neugierig, und sie kommen wieder!"

    Warschau, 30. Januar 2013: "Feuer auf Praga verschlingt Disco, Theater und Ateliers"

    Mehrere bekannte Künstler, das Theater "Remus" und der legendäre Musikklub "Sen Pszczoly" haben ihre Räume in der Inzynierska-Straße verloren. In dem mehr als 100 Jahre alten ehemaligen Gewerbehof war in der vergangenen Nacht ein Brand ausgebrochen. Wie die Feuerwehr mitteilte, breiteten sich die Flammen in Windeseile aus und waren schwer zu löschen. Bei dem Unglück kamen den Angaben zufolge keine Menschen zu Schaden. Das Gebäude sei bis auf die Grundmauern abgebrannt. Womöglich müsse es abgerissen werden, hieß es. Die Brandursache ist noch unklar.

    Die Sprecherin des Bezirks sagte, Praga habe sein kreatives Herz verloren. Den Künstlern schlägt eine große Welle der Anteilnahme und Unterstützung entgegen. Die lokale Regierung biete den Betroffenen Ausweichquartiere an und werde ihnen einen Teil der Mietkosten erstatten, hieß es. Alle Künstler wollen dem Vernehmen nach auf Praga bleiben. Der Brand bedeute nicht das Ende ihrer Arbeit.

    "Der Schock war riesig! In den ersten zwei Wochen nach dem Brand bin ich morgens aufgewacht, wollte zur Arbeit gehen und dann ist mit klar geworden: Den Ort gibt es nicht mehr! Ich konnte nicht glauben, dass etwas tatsächlich so plötzlich zu Ende gehen kann!"

    Klubinhaberin Elzbieta Komorowska.

    "Bis zum Ende des Jahres haben wir in einem Gebäude der ehemaligen Wodkafabrik 'Koneser' Unterschlupf gefunden. Das alles kostet uns sehr viel - vor allem, weil wir nicht langfristig planen können, aber unseren Gästen die gewohnte Qualität bieten müssen. Jetzt warten wir auf die neue, dauerhafte Location, die uns die Stadt anbietet, und hoffen, dass wir dort 2014 weitermachen können. Die Unterstützung ist jetzt theoretisch voll da - was daraus aber in der Praxis folgt, wird sich im Herbst erweisen."


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