Preisverleihung 2023
Judith Hermann erhält den Wilhelm Raabe-Literaturpreis

Mit ihrem Debüt „Sommerhaus, später“ wurde Judith Hermann bekannt. Nun wird sie mit „Wir hätten uns alles gesagt“ für ein Buch ausgezeichnet, das auf faszinierende Weise Einblicke in ihr Schreiben gibt, erklärt die Juryvorsitzende Wiebke Porombka.

Von Wiebke Porombka |
Die Schriftstellerin Judith Hermann steht bei einem exklusiven dpa-Fototermin in einem Hof, der zu Räumlichkeiten des S. Fischer Verlags führt.
Schriftstellerin Judith Hermann (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
Judith Hermanns „Wir hätten uns alles gesagt“ verdichtet das literarische Schaffen eines Vierteljahrhunderts. Zugleich öffnet und verwandelt es das Werk der 1970 geborenen Schriftstellerin, die 1998 mit ihrem Debüt „Sommerhaus, später“ bekannt wurde, auf faszinierende und unvermutete Weise.
Judith Hermann gibt in ihrem jüngsten Buch scheinbar Intimstes preis – über ihre Familie, über das Aufwachsen in einer düsteren Neuköllner Wohnung, über Gespräche mit ihrem Psychoanalytiker. Immerzu aber lässt sie das Erzählte ins Imaginäre kippen. So entsteht in „Wir hätten uns alles gesagt“ ein atmosphärisch dichter Schwebezustand, ein beständiges Changieren zwischen Realität und Fiktion, zwischen Zeigen und Verbergen, das kaum mehr aufzulösen ist – und das auch gar nicht aufgelöst werden soll.

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Dieses Gespinst aus Verweisen und Motiven ist nicht nur mit ihrer eigenen Familiengeschichte und deren Versehrungen verbunden, es eröffnet auch einen Raum für die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Über das Schweigen und Verschweigen-Müssen

Nicht zufällig lässt Judith Hermann ihr poetologisches Verfahren des Verschiebens und Übertragens ihren vermeintlich langjährigen Psychoanalytiker erklären: „Was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr.“
Judith Hermann hat in „Wir hätten uns alles gesagt“ weit mehr als Poetikvorlesungen geschrieben. Es sind Erzählungen über das Schweigen und Verschweigen-Müssen, über die Annäherung an das Unsagbare, das den Urgrund ihres Schreibens ausmacht – wenn nicht von Literatur und Kunst überhaupt.
„Wir hätten uns alles gesagt“ ist ein Buch, das beeindruckt durch die Vulnerabilität, die es offenbart, und das zugleich von großer Kraft ist: Denn das Vermögen von Judith Hermann besteht darin, das Nicht-Sagbare und die existenzielle Verunsicherung aufscheinen zu lassen, und ihnen im Erzählen eine sprachliche Form zu verleihen, die voller Anmut und von geradezu metaphysischem Trost ist.
Wilhelm Raabe-Literaturpreis
Mit der Verleihung des Wilhelm Raabe-Literaturpreises zeichnen die Stadt Braunschweig und der Deutschlandfunk jährlich ein in deutscher Sprache verfasstes erzählerisches Werk aus, das einen besonderen Stellenwert in der Entwicklung der Preistragenden markiert. Dieses muss im Vergabejahr erschienen sein. Ausgeschlossen ist die Würdigung eines Erstlingswerkes oder des Gesamtwerkes. Der Preis ist mit 30.000 Euro dotiert. Im Jahr 2022 ging der Preis an Jan Faktor. Im Jahr davor an Gert Loschütz.