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William Trevor: "Letzte Erzählungen"
Die kleinen, miesen Lebenslücken

Der 2016 verstorbene William Trevor galt als Meister der Kurzgeschichte. Denn er wusste genau, wie viel er über seine tragischen Helden erzählen durfte - und wie viel er verschweigen musste, um ihnen ihr Geheimnis zu belassen. Auch Trevors "letzte Erzählungen" entwickeln so ihre ganz eigene Sogkraft

Von Tanya Lieske | 16.06.2020
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Großer irischer Erzähler und lange heißer Nobelpreiskandidat: Der 2016 verstorbene William Trevor (picture-alliance / dpa/dpaweb / Asfouri)
Die Lektüre einer Kurzgeschichte von William Trevor wirkt wie ein Koffeinstoß am vorgerückten Abend. Sie macht sofort wach, unter Umständen sogar schlaflos. Seine Erzählungen fassen jene Augenblicke, in denen unser Tagesbewusstsein pausiert und einer tieferen, meist verdrängten Einsicht Raum gibt. Die Kulisse das Alltags schiebt sich kurz zur Seite, und hinter ihr erblickt man Trauer über Lebens-Verluste und über die Folgen all jener Handlungen, die nicht wieder rückgängig zu machen sind.
Das Entscheidende versteckt sich zwischen den Zeilen
"Die Kunst der Kurzgeschichte liegt in dem, was sie auslässt wie in dem, was sie erzählt": Mit diesem Satz hat William Trevor seine Poetik auf einen Punkt gebracht. In der Tat, in den Short Stories von William Trevor spielt sich alles Entscheidende in den Leerstellen ab. Im Weiß zwischen den Zeilen, in der Verzögerung zwischen einer Frage und einer Antwort, also in dem, gerade nicht gesagt wird und unerwähnt im Raum hängen bleibt. Und das ist bei dem 2016 verstorbenen irischen Autor durchaus wörtlich zu verstehen.
Denn als Erzähler bevorzugte William Trevor nicht ohne Grund geschlossene Räume, die als lokaler Speicher für menschliche Erinnerungen fungieren. Sei es im klassischen Big House, im irischen Cottage oder in zugigen Mietwohnungen: Alle diese Zimmer stellen in Trevors Short Stories immer eine Art Gedächtnis seiner Figuren dar:
"Durch das Halbdunkel tastete sie sich zum Lichtschalter an der Tür. Gewiss würde das Zimmer, so reich an Echos und Erinnerungen, auch von diesem Nachmittag beeinflusst werden. Wie könnte es das alte bleiben?"
Das fragt sich hier die weibliche Hauptfigur der ersten Erzählung "Der Schüler der Klavierlehrerin". Elizabeth Nightingale ist eine typische Protagonistin für William Trevor, weiblich, unverheiratet und in ihren mittleren Jahren, wurde sie von einem alleinstehenden Vater großgezogen. Hat ihr Vater sie dabei emotional missbraucht, um dessen Einsamkeit zu lindern? Hat ein späterer Liebhaber sie womöglich mit seinen falschen Versprechungen getäuscht?
Was widerfuhr der unverheirateten Klavierlehrerin?
Was in der Vergangenheit liegt, wird nicht aufgelöst. Gegenwärtig sind nur all diese Fragen. Sie brechen auf, als ein besonders talentierter Klavierschüler zu Elizabeth Nightingale kommt. Mit seinem Auftauchen verschwinden auf einmal Dinge von ihrem Kamin-Sims. William Trevor, der den Gegenständen große Wirkkraft zugetraut hat, beschreibt diese genau: Ein Schwan aus Porzellan, ein Ohrring, eine Schnupftabakdose. Der talentierte Klavierschüler ist also offenbar ein Dieb, aber seine Lehrerin lässt ihn merkwürdig fasziniert von seinem Tun gewähren:
"Sie wusste nicht, wie er es anstellte. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, sah aber nichts. Sie sagte auch nichts, und der Junge selbst war so ungerührt von dem, was vor sich ging, dass sie sich zu fragen begann, ob sie sich womöglich täuschte, ob nicht einer ihrer weniger reizvollen Schüler der Langfinger sein könnte."
Im Zentrum steht oft ein Verbrechen
Viele der Short Stories von William Trevor kreisen um einen solchen kriminalistischen Vorfall. Doch ist das Verbrechen darin nie das eigentliche Thema, sondern immer nur ein Vehikel und ein Symbol für die sublime Tragödie der nicht eingelösten menschlichen Begegnung, der Sehnsucht nach Liebe und Nähe.
Man hat diesen unverwechselbaren Autor mit Guy de Maupassant verglichen und mit Anton Tschechow, weil Trevors Helden ähnlich unheilbar an tiefer Melancholie leiden, und weil er ähnlich wie jene Autoren ein Meister der Milieuschilderung ist. Hinzu kommt noch eine am Realismus des 19. Jahrhunderts geschulte enorme erzählerische Ökonomie. Vor allem dann, wenn es darum geht, Figuren einzuführen und sie mit ihrem Hintergrund zu platzieren. Da hat es oft den Anschein, als habe der Protestant William Trevor es gehasst, mit Ausschweifungen Zeit zu verschwenden, die eigene wie die seiner Leser:
"Sie waren entfernte Verwandte, lebten schon, seit seine Mutter vor zwölf Jahren gestorben war und sein Vater im Winter darauf, zusammen auf diesem Gehöft. Ein anderer Verwandter hatte zu dieser Verbindung geraten, da Martina alleinstehend war und nur gelegentlich Arbeit fand. Andernfalls wäre ihr Cousin – denn sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie Cousins waren – in ein Heim gebracht worden. (23)
Viele der Paarbeziehungen, von denen in Trevors "letzten Erzählungen" die Rede ist, sind Zweckgemeinschaften; und besonders gerne greift der Autor zur Doppelstudie. Ein Paar trifft auf ein anderes, angezogen durch ein scheinbar willkürliches Ereignis. In dem, was sie voneinander denken oder übereinander sagen, schimmert der eigentliche Gehalt der Geschichte auf.
Die Gestalt des Vagabunden
So auch in der Story "Der verkrüppelte Mann". Darin wohnen Martina und ihr gelähmter Cousin in einem irischen Farmhaus. Zwei Handwerker sollen es anstreichen. In der Gestalt dieser beiden Brüdern verdichten sich nun die vielen Vagabunden, über die William Trevor in mehr als fünf Jahrzehnten geschrieben hat:
"Ihre Geschichte war ungewöhnlich. Hineingeboren in eine Gemeinschaft staatenloser Überlebender in den Bergen Kärntens, wurden sie oft für Zigeuner gehalten. Ihre Muttersprache war ein Dialekt, der mit Wörtern aus einem Dutzend anderer Dialekte versetzt war. Sie erinnerten sich einer Kindheit, in der sie durch namenlose Orte zogen, ein Dasein in Zelten und stumme nächtliche Grenzüberquerungen, stets auf der Suche nach etwas Besserem. Ohne es je zu bedauern, hatten sie sich mit, wie sie vermuteten, dreizehn und vierzehn Jahren von ihrer Familie getrennt. Seither bestand ihr Leben darin, was aus ihnen geworden war: wissen, was man tut, wie man’s am besten anstellt, sich beschaffen, was beschafft werden muss, über die Runden kommen.
Was nun folgt, wenn diese beiden Paare sich begegnen, die beiden Handwerker und die so genannten Cousins, ist ein stummer Tanz aus Verdächtigungen und Argwohn. Türen gehen auf und zu, es werden Leitern angelehnt und in Fenster gelugt. Doch als tatsächlich ein Verbrechen geschieht, entzieht es sich dem Auge des Lesers.
Geschickt versetzt der am Krimigenre geschulte Autor das Figurenwissen gegen das Erzählerwissen, lässt Lücken klaffen und hält seine Leser bis zuletzt in Atem. Suspense, Spannungserzeugung, ist ein Wort, das mit William Trevors Werk untrennbar verbunden ist.
Hier weiß der Erzähler immer mehr als der Leser
Nicht alle seine "Letzten Erzählungen" sind allerdings so kunstvoll und gelungen wie die eben erwähnte. Einige wirken zu schnell komponiert, als habe der Autor sich beeilen müssen. Tatsächlich hat William Trevor in einem Interview 2011 gesagt, dass er zu viele Figuren in seinem Kopf habe und fürchte, dass seine Zeit, über sie zu schreiben, knapp werde. Manchmal vermisst man hier den skurrilen oder schwarzen Humor, der in seinen früheren Werken für ein spannungslösendes Lachen gesorgt hat. Doch alle, die William Trevor gerne gelesen haben, werden in diesem letzten Band unvergessliche Zeilen entdecken, von denen William Trevor die eine oder andere sich selbst vorausgeschickt haben mag:
"Was geschieht, fragt sich Anita, mit Menschen, wenn sie weggehen? Was wird aus ihnen? Ihre Abwesenheit ist eine Art Tod; ist es ein Tod auch für sie?"
Der soeben preisgekrönte Übersetzer Hans-Christian Oeser sorgt für ein geschmeidiges Deutsch, ohne die ironisch gebrochene Förmlichkeit, die William Trevor gegenüber seinen Figuren walten ließ, zu übertönen. Und so darf man sich hier gleich doppelt verbeugen, vor einem großen Erzähler und seinem versierten Übersetzer.
William Trevor: "Letzte Erzählungen"
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg. 208 Seiten, 24 Euro