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Willkommen in Chimerica

Vergnüglich und streitbar beschreibt der britische Historiker Ian Morris, warum der Westen bisher die Welt regiert - und warum das bald nicht mehr so sein wird. Aus China und Amerika wird "Chimerica", Osten und Westen wird es nicht mehr geben.

Von Conrad Lay | 14.02.2011
    "Wer regiert die Welt?" - in der deutschen Übersetzung klingt der Buchtitel einigermaßen neutral. Anders im englischen Original: ""Why the West Rules", also "Warum der Westen herrscht", heißt er dort. Das hat deutlich einen imperialen Zungenschlag - und zugleich klingt unausgesprochen die Sorge mit: Wie lange wird dieser Westen seine Vormachtstellung noch behalten? Und genau solche Überlegungen sind es, die Ian Morris bewegen.

    Der britische Historiker und Archäologe, der in den Vereinigten Staaten lehrt, tritt dafür ein, nicht nur wenige Jahrhunderte ins Kalkül zu ziehen, sondern mindestens einige Jahrtausende. Nur dann könne man vernünftigerweise die Frage stellen: Warum haben eigentlich einige Länder Erfolg und andere nicht? Und warum ändert sich dies beim Gang durch die Jahrhunderte? Hängt das von Zufälligkeiten ab oder ist es seit Jahrhunderten festgeschrieben? Und welche Rolle spielen dabei die "großen Männer und Frauen" wie etwa Napoleon oder Dschingis Khan, oder spielen sie gar keine? Ian Morris schreibt:

    "Während 15 Jahrtausenden war der Westen 14 Jahrtausende lang der am weitesten entwickelte Teil der Erde. Das wurde aber nicht irgendwann in grauer Vorzeit festgeschrieben. Über 1000 Jahre lang, etwa von 550 bis 1775 unserer Zeitrechnung, hatten die asiatischen Gebiete die Nase vorn. Die Vormachtstellung des Westens wurde folglich weder vor tausenden von Jahren determiniert, noch ist sie eine Folge jüngerer Zufallsereignisse."

    Schon Jared Diamond, Paul Kennedy und David Landes gingen in den vergangenen Jahren ähnlichen Fragestellungen nach. Doch während der Biologe Jared Diamond seinen Schwerpunkt auf die Evolutionsbiologie legte, der Historiker Paul Kennedy vor der imperialen Überdehnung warnte und der Wirtschaftshistoriker David Landes einen Siegeszug puritanischer Ideen ausmachte, setzt Morris auf die Bedeutung der Geografie:

    "Dass der Westen regiert, ist eine Frage der Geografie. Die Biologie sagt uns, warum Menschen die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben; die Soziologie sagt uns, wie sie dies tun; und die Geografie sagt uns, warum ausgerechnet der Westen und nicht irgendeine andere Region in den letzten 200 Jahren die Welt beherrschte. Biologie und Soziologie liefern Gesetze, die für alle Menschen zu jeder Zeit an jedem Ort Gültigkeit haben; die Geografie erklärt die Unterschiede."

    Aber die Kräfte, die Morris ausmacht, haben es in sich. Denn eine aufwärts strebende gesellschaftliche Entwicklung erzeugt die Kräfte, die ihre Bedeutung wieder einschränken. Morris nennt dies den "Vorteil der Rückständigkeit". Am Beispiel der europäischen Renaissance erklärt Morris etwa, die Westeuropäer hätten von den Chinesen Techniken wie den Schiffsbau und die Herstellung von Feuerwaffen übernommen, sodass sie nun in der Lage gewesen seien, den Atlantischen Ozean als Verbindungsweg zu nutzen. Dadurch hätten die geografischen Bedingungen für sie enorm an Bedeutung gewonnen. Morris fährt fort:

    "Umgekehrt hätten auch die Chinesen Amerika im 15.Jahrhundert entdecken können, aber aufgrund der geografischen Gegebenheiten war einfach die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Europäer als Erste dort ankommen würden. Im Osten war es viel lohnender, den Indischen Ozean mit all seinen Reichtümern zu befahren und in die Steppengebiete vorzudringen, von denen seit fast 2000 Jahren die größte Gefahr drohte, anstatt in die Leere des Pazifischen Ozeans vorzustoßen."

    Von sogenannten "großen Männern und Frauen" hält Morris wenig: Wenn an ihrer Stelle "vertrottelte Stümper" regiert hätten, hätte das summa summarum wenig geändert. Recht populär und auch ein wenig ironisch formuliert er sein sogenanntes "Morris-Theorem": Danach werden Veränderungen von faulen, habgierigen, furchtsamen Menschen bewirkt, die zur Bewältigung ihres Alltags nach leichteren, profitableren und sichereren Wegen suchen, wobei ihnen diese Suche oft genug nicht bewusst ist. Ein Hohelied auf den menschlichen Fortschritt hört sich anders an.

    Das Zusammenspiel von Biologie, Soziologie und Geografie mag zwar einigermaßen erklären, warum im 17.Jahrhundert "die Stunde des Atlantiks" schlug und damit jener Länder, die diesen Vorteil aufgrund ihrer geografischen Lage am besten nutzen konnten. Aber Morris lässt die Frage offen, warum die Engländer dies als Startschuss für die industrielle Revolution nutzten, während die Spanier als einzige Innovation die Siesta erfanden, wie der Historiker David Landes vor zwölf Jahren in seinem Buch "Wohlstand und Armut der Nationen" herausgearbeitet hatte.

    Doch dafür hätte Morris deutlich stärker die kulturellen und sozialen Hintergründe berücksichtigen müssen: Spielt es eine Rolle, dass die Spanier Katholiken waren und die Engländer Anglikaner? Und wie schneiden im Vergleich die calvinistischen Holländer ab? Solche Differenzierungen innerhalb westlicher Länder entgehen ihm aber, weil er allzu sehr auf die Entgegensetzung von West und Ost, insbesondere der angelsächsischen Welt mit China fixiert ist.
    Doch die Pointe seines Buches ist eine andere: Mit der Globalisierung ist die Entwicklung so weit vorangeschritten, dass es nicht mehr auf die Geografie ankommt. Die Vormachtstellung des Westens geht zu Ende. Doch da China verwestlicht und Amerika nur mithilfe der Dollarkäufe Chinas überleben kann, wird es in Zukunft Osten und Westen so nicht mehr geben. Aus China und Amerika, diesem - wie Morris schreibt - "aberwitzigen Pärchen", wird nun "Chimerica":

    "Vor 15.000 Jahren, vor dem Ende der Eiszeit, bedeuteten Osten und Westen wenig. In einem Jahrhundert werden sie wiederum wenig bedeuten. Und die Bedeutung, die sie in der Zeit dazwischen erlangten, war nur ein Nebeneffekt der Bedeutung der geografischen Bedingungen."

    Ian Morris schreibt vergnüglich und streitbar. Sein interdisziplinärer Ansatz verrät den rundum gebildeten Historiker, der den Leser souverän durch die Jahrhunderte führt. Vom imperialen Zungenschlag bleibt letztlich wenig übrig, aber die Sorgen um eine gemeinsame Zukunft in einer globalisierten Welt sind umso größer. Und so spricht mit Ian Morris einiges dafür, dass weder Ost noch West darauf Antworten gefunden haben.

    Ian Morris: "Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden", Campus, 656 Seiten, 24,90 Euro.