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"Wir als Richter können ja die politische Entscheidung nicht treffen"

Michael Kanert, Richter am größten Sozialgericht Deutschlands in Berlin, erhofft sich von der heutigen Sonderkonferenz der Arbeits- und Sozialminister zu einer Reform der Hartz-IV Gesetze eine klare politische Richtung. Kern des Treffens in Berlin ist die Frage, wer künftig Hartz-IV-Anträge bearbeiten soll: die Bundesagentur für Arbeit oder die Kommunen.

    Jürgen Liminski: Heute kommen in Berlin die Arbeits- und Sozialminister der Länder zu einer Sonderkonferenz zusammen, um wie es heißt über eine Neuorganisation des Sozialgesetzbuches II zu beraten. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als eine Reform der Hartz-IV-Gesetze. Die ist nicht nur in der Sache geboten, sondern auch weil das Bundesverfassungsgericht die Arbeitsgemeinschaften als verfassungswidrig eingestuft hat, und deshalb muss nun bis 2010 eine Neuordnung her. Wie ist das zu bewerkstelligen? Sollte man da nicht von der Praxis ausgehen und wie sieht diese Praxis überhaupt aus? – Dazu begrüße ich am Telefon einen Fachmann in Berlin, der Stadt mit dem größten Sozialgericht in Deutschland. Es ist der Sozialrichter Michael Kanert. Guten Morgen, Herr Kanert.

    Michael Kanert: Schönen guten Morgen!

    Liminski: Herr Kanert, zunächst mal: was heißt "größtes Sozialgericht in Deutschland"? Wie viele Verfahren werden bei ihnen ausgetragen? Wie viele Richter gibt es?

    Kanert: Wir haben allein im letzten Jahr über 30.000 neue Gerichtsverfahren gezählt und im Moment sind wir 95 Richter, die damit zu tun haben.

    Liminski: 30.000 Verfahren. Wie viele von diesen Verfahren hatten mit Hartz IV zu tun?

    Kanert: Das ist eine erstaunlich hohe Quote. Das sind fast zwei Drittel. Wenn Sie die genaue Zahl hören wollen: 59 Prozent.

    Liminski: Und um welche Verfahren geht es da?

    Kanert: Da geht es eigentlich quer durch. Was wir in Berlin viel haben sind Menschen, die einen schlecht bezahlten Job haben. Das heißt, die können davon alleine nicht leben und brauchen noch ergänzend Hartz-IV-Leistungen. Da gibt es dann immer wieder Streit: wie viel von dem Lohn wird verrechnet? Das ist manchmal so kompliziert wie im Steuerrecht: mit Freibeträgen, Pauschalbeträgen.
    Dann gibt es auch immer wieder Streit, ob die Arbeitslosen wirklich ihre Pflichten erfüllen, ob sie sich richtig bewerben. Und wenn nicht, dann verhängt die Behörde eine Sanktion. Sie kürzen das Arbeitslosengeld II um 10 Prozent oder 30 Prozent. Und immer mehr wird auch gestritten, welche Wohnung von den Behörden bezahlt werden muss: ist die Miete zu hoch, dass dann jemand umziehen soll, oder kann er in seiner Wohnung bleiben.

    Liminski: Und die Hartz-IV-Empfänger sind vermutlich die Kläger. Gegen was klagen die?

    Kanert: Die sind dann mit der Behördenentscheidung nicht einverstanden. Die sagen, die Behörde muss doch die volle Miete zahlen, obwohl die es nicht mehr will, oder sie sagen, diese Sanktion ist nicht gerechtfertigt, oder sie sagen, ich verdiene zwar Geld, muss aber trotzdem noch was von der Behörde dazu kriegen. Das Erstaunliche ist – und das ist ungewöhnlich -, dass fast jeder zweite Kläger zumindest einen Teilerfolg bei uns erzielt.

    Liminski: Mehr als die Hälfte der Bescheide werden aufgehoben oder fast die Hälfte. Warum?

    Kanert: Ganz häufig passieren den Behörden schon einfach Formfehler und das ist eigentlich ein Alarmzeichen, denn das zeigt ja irgendwie: der Apparat der Behörde funktioniert nicht. Da wird also gar nicht gestritten, hat sich jemand tatsächlich jetzt gedrückt und nicht genug Bewerbungen geschrieben, sondern die Behörde hat es gar nicht mal geschafft, die Form einzuhalten, die in einem Rechtsstaat eben erforderlich ist. Man muss ja dann auch dokumentieren: was hat der falsch gemacht. Man muss den richtigen Adressaten finden, dass der Bescheid nicht an den Sohn geht, sondern tatsächlich an den Familienvater. Da passieren eben enorm viele Fehler.

    Liminski: Formfehler, sagen Sie. Liegt das daran, dass die Sachbearbeiter die Sozialsprache und Sozialvorschriften nicht kennen? Wäre es dann besser, wenn die Arbeitsmarktfragen mit Sozialfragen gekoppelt und dann aus einer Hand, das heißt aus dem Sozialamt behandelt würden, weil man dort die Fälle besser kennt?

    Kanert: Ob das jetzt das Sozialamt machen soll oder die Arbeitsagentur, das ist ja der alte politische Streit bei Hartz IV. Aber in der Tat: die Idee war ja mal, dass viel zu viele Behörden dort nebeneinander herarbeiten. Früher waren es das Arbeitsamt und das Sozialamt und die Idee von Hartz IV war ja, dass das jetzt alles in eine Hand kommt. Aber dann konnten sich SPD und CDU nicht darauf einigen. Die SPD wollte, dass das Arbeitsamt alles macht. Die CDU wollte, dass die Kommunen alles machen. Und dann ist eben so ein Kompromiss rausgekommen, dass eine Arbeitsgemeinschaft das macht, und da hat ja nun das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass so eine Mischverwaltung aus Bund und Kommunen verfassungswidrig ist.

    Liminski: Was können die Sozialminister denn dann heute beschließen oder in Angriff nehmen? Wie kann eine Reform aussehen, wenn man diese Mischform beseitigen will?

    Kanert: Das Bundesverfassungsgericht hat durchaus gesagt, es ist sinnvoll, dass alles aus einer Hand kommt. Interessant ist eben: wir als Richter können ja die politische Entscheidung nicht treffen und das ist auch gut so. Wir haben eine Gewaltenteilung hier im Land. Die Politik wird schon im Bundestag gemacht. Und wir beobachten: noch vor ein paar Tagen hieß es ja, dass man eigentlich gute Erfahrungen mit dieser Mischverwaltung gemacht hat. Man hat sogar überlegt, ob man jetzt extra das Grundgesetz ändern soll, damit doch die Job-Center weiter arbeiten können. Vorgestern hat nun der Chef der Bundesagentur für Arbeit, der Herr Weise gesagt, dass in Wahrheit die Zusammenarbeit eine Katastrophe sei. Jetzt wird ein neues Erfolgsmodell präsentiert. Das nennt sich jetzt "kooperatives Job-Center" und wir müssen jetzt als Richter beobachten, ob dieses neue Modell tatsächlich die Kriterien einhält, die das Bundesverfassungsgericht verlangt. Also die sagen noch mal: entweder eine Behörde macht alles, entweder das Arbeitsamt macht alles – und zwar Arbeitsverwaltung; die kümmern sich darum, was für den Lebensunterhalt gezahlt wird; die kümmern sich aber auch um die Miete; die kümmern sich um die soziale Betreuung: braucht jemand vielleicht eine Schuldnerberatung oder eine Suchttherapie, alles aus einer Hand, damit der Langzeitarbeitslose dann wieder zurück in Arbeit findet -, oder alles eben von den Kommunen. Und wenn das die Politik nicht schafft, dann muss sie es vollständig trennen. Jetzt hört man eben schon wieder von Konzepten, dass es doch wieder so ein bisschen so und so geht, und das macht uns natürlich Sorgen, dass vielleicht auch das neue Konzept möglicherweise doch wieder verfassungswidrig sein könnte.

    Liminski: Was passiert denn, wenn die Vereinheitlichung, dieses berühmte Wort "alles aus einer Hand", nicht klappt, wenn es bei der Trennung oder mangelhaften Kooperation bleibt?

    Kanert: Wenn es doch wieder so eine Mischverwaltung wird, das müssen dann die Sozialgerichte prüfen und unter Umständen dann das Bundesverfassungsgericht anrufen, das dies erneut überprüft, ob jetzt das neue Gesetz tatsächlich auch wieder gegen das Grundgesetz verstößt. Das wäre natürlich für die Praxis ein schwerer Schlag, weil dann wieder ein jahrelanger Schwebezustand wäre und niemand wüsste, wohin es geht.

    Liminski: Aber das Bundesverfassungsgericht hat doch gesagt, bis 2010 muss eine Neuordnung her.

    Kanert: Ja, genau. Aber die Neuordnung muss ja dann wieder überprüft werden. Da hat jetzt ja der Gesetzgeber nicht freie Hand, sondern im Gegenteil: das Bundesverfassungsgericht hat klare Kriterien aufgestellt. Wie gesagt: entweder alles aus einer Hand, oder ihr müsst es strikt trennen. Ob das eingehalten wird, das muss man eben gucken. Es gibt jetzt zum Beispiel Konzepte, dass doch wieder so ein gemeinsamer Geschäftsführer eingeführt werden soll, dass doch wieder ein gemeinsamer Kooperationsausschuss gebildet werden soll, der verbindlich für beide Teile entscheiden soll.

    Liminski: Das gibt es ja auch. In manchen Kommunen, Herr Kanert, gibt es das doch.

    Kanert: Ja. Es gibt Kommunen, die alles für sich alleine machen. Da hat das Bundesverfassungsgericht auch gesagt, das geht.

    Liminski: Das wäre doch dann ein Weg?

    Kanert: Ja, aber es ist halt die Frage, ob man das politisch auch will, ob sich dort eine Einigung ergibt. Da geht es natürlich um viel Geld. Da geht es um Einfluss auf einen großen Sektor im Sozialbereich und da müssen sich natürlich die Politiker einigen.

    Liminski: Es hieß ursprünglich, Herr Kanert, mit Hartz IV werde viel Geld gespart. Fakt ist, dass mehr Geld ausgegeben wird. Liegt das am System oder an den sich ändernden Verhältnissen in Deutschland, also an der Verarmung größerer Kreise der Bevölkerung?

    Kanert: Wir im Gericht können keine soziologischen Studien machen, weil wir ja auch keinen Querschnitt der Bevölkerung haben, sondern ein Prozent der Bescheide wird überhaupt nur angefochten und landet dann im Gerichtssaal. Wir stellen aber fest: das ist ein Querschnitt durch die gesamte Bevölkerung. Es gibt sicher Leute, die deswegen jetzt Hartz-IV-Leistungen beantragt haben, weil sie sagen, vielleicht geht das leichter. Die wissen im Hinterkopf vielleicht sogar, dass ihnen das gar nicht zusteht. Aber es gibt auch andere in wirklicher Not, viele Leute, die sagen, die Behörde hat einfach falsch entschieden und ich brauche das Geld wirklich zum Überleben. Das geht quer durch wie sonst auch im Leben.

    Liminski: Hartz IV bleibt in der Diskussion. Das war der Berliner Sozialrichter Michael Kanert aus der Praxis. Besten Dank nach Berlin, Herr Kanert.

    Kanert: Danke schön!