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"Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens"

Nordrhein-Westfalens Innenminister Ingo Wolf (FDP) hat Eltern, Lehrer und Schüler zum rechtzeitigen Einschreiten bei einem Verdacht auf eine Gewalttat an Schulen aufgefordert. Wenn ein Schüler Taten wie einen Amoklauf im Internet ankündige, müsse eingegriffen und die Polizei informiert werden. Gleichzeitig warnte Wolf jedoch vor Panikmache.

Moderation: Elke Durak |
    Durak: Das Verbrechen des Amokläufers an einer Schule in Nordrhein-Westfalen, in Emsdetten liegt ja noch gar nicht so lange zurück, Herr Wolf. Da hat gestern halb Baden-Württemberg Angst gehabt. Viele Schulen waren in Alarmbereitschaft versetzt wegen eines Amoklaufs, der anonym angedroht worden war. Das ist ja kein Einzelfall. Auch Emsdetten war nicht das erste Mal, dass jemand mit einem Amoklauf gedroht hat, ihn aber auch ausgeführt hat. Ich will sagen es gibt sehr, sehr viele Trittbrettfahrer auch in anderen Bundesländern. Das meiste stellt sich Gott sei Dank als falsch heraus. Aber null Toleranz für Trittbrettfahrer, die aus irgendwelchen Gründen auch immer das tun. Ist das der richtige Weg, zunächst einmal auf dieser Seite dagegen anzugehen?

    Wolf: Das ist immer eine vernünftige Abwägung. Sie haben völlig Recht. Die Trittbrettfahrer haben natürlich im Moment Hochkonjunktur. In der Nacht hatten wir in Nordrhein-Westfalen auch wieder einen Fall, wo sich jemand aufgesetzt hat. Da muss man natürlich sehr sorgfältig prüfen und wenn die Anhaltspunkte ernst genug sind, muss eingegriffen werden: Einweisung in die Klinik oder mit den Eltern Gespräche führen, schauen ob Waffen da sind, also die Ernsthaftigkeit prüfen. Darauf hat die Bevölkerung Anspruch. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nirgends, aber wir müssen alles Menschenmögliche tun.

    Durak: Was heißt "alles Menschenmögliche", Herr Wolf? Was tun Sie also in Nordrhein-Westfalen?

    Wolf: Wir haben zunächst einmal reagiert auf Erfurt, indem wir wenn etwas passiert ein sehr offensives Eingriffskonzept haben: Sofort hineingehen, den Täter drängen und dann eben auch gar nicht erst sich verschanzen lassen. Das ist aber immer dann das, was am Ende der Kette steht. Viel wichtiger ist für mich die Prävention und wir wollen jetzt in der Tat, was wir auch in den vergangenen Jahren schon getan haben, verstärkt noch mal an alle Schulleitungen herangehen, mit den Schulleitern sprechen und auch mit den Schulkollegien, die jeweiligen Polizisten, die vor Ort ansässig sind, die die Verhältnisse kennen, um eben auch sehr deutlich zu machen, es müssen Anzeichen ernst genommen werden, es darf nicht verheimlicht werden, es darf kein Schweigekartell geben, wie wir das manchmal in der Vergangenheit leider gehabt haben, wobei ich immer wieder sehr deutlich sage: keine Petzerei und kein Denunziantentum. Kleine Raufereien und Ähnliches interessieren uns nicht, aber wenn wirklich jemand abdriftet, dann muss etwas passieren.

    Durak: Wie sollen die Lehrer an den Schulen möglichst gemeinsam mit Eltern feststellen, ob jemand abdriftet? Das ist eine sehr schwierige Sache, Herr Wolf.

    Wolf: Ja natürlich. Wenn es leicht wäre, hätten wir das Problem ja auch schon gelöst. Nur es hat ja beispielsweise in Emsdetten durchaus Anhaltspunkte gegeben: Prahlerei mit Waffen, möglicherweise Waffen sogar in der Hand, Springmesser und Ähnliches. Wenn so etwas da ist, dann muss man das ernst nehmen. Dann ist immer die Frage, welchen Grad das hat. Man wird zunächst mit den Eltern sprechen. Man wird möglicherweise Schulpsychologen einschalten, wenn es um Gewaltphantasien von Menschen geht. Da gibt es ein abgestuftes System. Es darf aber auch nicht sein, dass man Erkenntnisse, die wirklich schwerwiegender Art sind, nicht weiterleitet. Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens und nicht die häufig anzutreffende Art und Weise: Na ja, das wird schon irgendwie laufen. Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Thema müssen wir wegkriegen. Dann aber auf der anderen Seite, was Sie am Anfang gesagt haben, natürlich auch nicht überkandidelt, sondern wir müssen schauen, dass wir das vernünftig abwägen, lageangepasst, wie die Polizei so etwas nennt, und das machen wir auch. Nur wir brauchen die Erkenntnisse.

    Durak: Diese Aufmerksamkeit, glaube ich, ist spätestens jetzt nach Baden-Württemberg überall gegeben. Es kann aber auch ein zu viel an Information der Öffentlichkeit geben, Herr Wolf, und dann auch die Gefahr, dass sich Panik ausbreitet, Hysterie oder schlicht und ergreifend "nur" Angst. Wie kann man aber Überreaktionen vermeiden?

    Wolf: Das ist das, was ich eben schilderte. Da muss man sehr, sehr sorgfältig vorgehen. Wenn die Polizei eingeschaltet wird, dann gibt es natürlich ein abgestuftes Verfahren. Auch im Vorfeld muss man natürlich an der Schule - wir sind froh, wenn die Probleme erst an der Schule gelöst werden - genau schauen, wie ernst ist etwas zu nehmen. Sozusagen ins Blaue hinein immer erst mal Panik auszulösen, das ist mit Sicherheit der falsche Weg. Auf der anderen Seite muss man auch sehen: lieber ein Hinweis mehr, als einer zu wenig. Das heißt wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass das ernster ist, was da passiert - und wir haben ja beispielsweise inzwischen Ankündigungen übers Internet gehabt -, wenn auch dort die Polizei schärfer hinterherschaut, Ankündigungen da sind, dann muss man sich dort mit dem jeweiligen Täter beschäftigen. Man muss auch allen, die da jetzt Trittbrett fahren, sehr deutlich sagen: Vortäuschen einer Straftat ist auch ein Straftatbestand. Das ist kein dummer Jungenscherz. Insofern sollte auch da sehr klar gesagt werden von der pädagogischen Seite, unterstützt durch die Polizei, dass so etwas kein Kavaliersdelikt ist. Das heißt es müssen wie immer in einem Netzwerk alle zusammenwirken. Das können die Strafverfolgungsorgane nicht alleine lösen. Ich bin aber sicher: Wenn wir deutlich machen, dass wir null Toleranz gegenüber richtiger Gewalt zeigen, Abzocken auf dem Schulhof oder ähnliche Dinge, Drogendelikte, da muss eingegriffen werden. Und noch mal, weil ich das als Liberaler besonders betone: nicht Petzerei, wenn da irgendwo jemand einen mal gestoßen hat. Das hat es zu allen Zeiten gegeben und da sollte man auch nicht überbewerten. Aber wenn es systematisch geht, wenn Kinder getreten werden, wenn sie am Boden liegen, dann muss das Lehrpersonal eingreifen und mit Hilfe von Eltern, Schulpsychologen und am Ende der Polizei Gegenmaßnahmen ergreifen.

    Durak: Sie haben von Anhaltspunkten gesprochen, die ernst genommen werden müssen. Wie müssen solche beschaffen sein, dass sie ernst genommen werden?

    Wolf: Ich habe das gerade angedeutet. Einmal geht es um die Frage der verbalen Gewalt. Das heißt wenn jemand entsprechende Taten ankündigt muss man gucken. Wenn man hört, ich geb dir eine Backpfeife, wird man das sicherlich anders bewerten müssen, als wenn jemand sagt, ich bringe alle um.

    Durak: Na ja, Herr Wolf, das sieht inzwischen anders aus. Das sieht ja so aus, dass im Internet gedroht wird, ein Amoklauf ist geplant und da werden Namen aufgezählt. Das ist schon sehr ernsthaft und geht über das andere hinaus.

    Wolf: Richtig und wenn das so ist, dann muss - und das sage ich doch - der Polizei Bescheid gesagt werden. Dann geht die Polizei gestuft vor mit Einschaltung der Staatsanwaltschaft. Da wird man schauen, was ist das für ein Mensch. Ist der eher geistig verwirrt, oder ist es jemand, der mit ganz coolem Herzen versucht, da eine Straftat zu begehen. Man wird bis zur Durchsuchung von Wohnungen gehen. Das haben wir alles schon gemacht, wenn entsprechende Anhaltspunkte dafür da sind. Das ist am Ende immer eine Abwägung des Einzelfalls. Nur die Grundbotschaft muss sein: Hinsehen und nicht Wegsehen, die Dinge ernst nehmen, auf der anderen Seite aber auch nicht überpointieren, überdramatisieren. Das ist ja Ihr Einwand gewesen. Der ist auch zu Recht. Kein Denunziantentum. Wir wollen die Menschen zur Freiheit und Demokratie erziehen. Dann muss es auch klar sein, dass ein Stück Freiheit da sein muss, aber sie darf nicht missbraucht werden.

    Durak: Sollten Schulen richtige Notfallpläne entwickeln? Der Kriminologe Christian Pfeiffer hält nichts davon. Was halten Sie davon, richtige echte Notfallpläne, wie man gegen Gewalt direkt an den Schulen vorgeht?

    Wolf: Beispielsweise das Thema wie wird eine Schule entleert bei Feueralarm und Ähnlichem, so etwas wird ja auch schon trainiert. So etwas sollte man auch machen. Solche Entleerungsübungen in unregelmäßigen Abständen, weil es ja nicht nur um den Amoklauf geht, sondern um andere Unglücksfälle, so etwas sollte man schon trainieren. Aber ich glaube wichtig ist, dass man eine Art von Grundverständnis an der Schule dafür bekommt, wie man mit dem Thema Gewalt umgeht. Das ist für mich das ganz Entscheidende. Das geht im Grunde genommen in das Lehrerkollegium, in jede Klasse hinein und wir müssen die Botschaft auch in die Köpfe und die Herzen der Eltern senden. Da muss auch mehr geschaut werden, was wird zu Hause eingeschaltet, wenn man am Computer sitzt. Da hilft es schon, mit den Kindern sich zu beschäftigen: mehr Zuwendung, mehr Hinwendung, mehr Hinsehen. Noch mal die Botschaft: 100 Prozent Sicherheit gibt es nicht, aber wir können sicherlich noch ein Stückchen mehr tun.

    Durak: Können wir auch Killerspiele verbieten, um vorbeugend zu wirken? Sollten wir das tun?

    Wolf: Das ist glaube ich eine Diskussion, die jetzt momentan wieder mal geführt wird, wo man eine zusätzliche Regelung fordert, die am Ende wahrscheinlich wenig hilft.

    Durak: Also Sie sind dagegen?

    Wolf: Nein. Wir müssen doch in erster Linie sehen, dass wir die Ursachen für Gewalt bekämpfen. Das ist eben die Frage, wie kommen Kinder überhaupt zu so etwas. Warum driften sie in solche Medien ab? Sie werden das ja eh auch wieder nicht mit hundertprozentiger Sicherheit am Ende gerade wegen des "World Wide Web" gar nicht verhindern können. Deswegen ist das auch wieder ein Stück Nebenkriegsschauplatz, denn das Entscheidende ist, dass in den Familien, in den Schulen Gewaltbereitschaft rechtzeitig geahndet wird, mit Hinweisen und mit Gegenmaßnahmen. Ich glaube da haben wir noch eine Menge zu tun!