Dienstag, 30. April 2024

Archiv


"Wir brauchen eine neue Identität für das neue Deutschland"

BRD und DDR seien zwar äußerlich zusammengewachsen, sagt der ehemalige Pfarrer der Nicolaikirche, Christian Führer. Für eine innerliche Vereinigung sei aber eine Veränderung der Nationalhymne und eine neue gemeinsame Verfassung sinnvoll und identitätsstiftend.

Christian Führer im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 30.09.2010
    Tobias Armbrüster: Am kommenden Sonntag, dem 3. Oktober also, jährt sich zum 20. Mal der Tag der Wiedervereinigung. Das ist Anlass für uns, hier im Deutschlandfunk in Interviews und Reportagen zurückzublicken auf das, was damals passiert ist, und auf das, was sich im Laufe dieser zwei Jahrzehnte verändert hat. Die Vorgeschichte zur Einigung, die lieferten die dramatischen Wochen und Monate vor dem 9. November 89, dem Fall der Mauer also, und zu den Männern und Frauen, die damals deutsche Geschichte geschrieben haben, gehörte auch Christian Führer. Er war Pfarrer in der Nicolaikirche in Leipzig. Von dort haben die Montagsdemonstrationen ihren Ausgang genommen. Christian Führer ist jetzt aus Leipzig zugeschaltet. Schönen guten Morgen, Herr Führer!

    Christian Führer: Guten Morgen!

    Armbrüster: Herr Führer, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist Deutschland heute ein geeintes Land?

    Führer: Ja, wir sind auf alle Fälle auf dem Weg dahin und es ist schon sehr viel geschehen. Die beiden Gebilde, BRD und DDR, waren ja so unterschiedlich, dass ein problemloses Zusammenkommen gar nicht denkbar war. Also war von vornherein klar: Es wird Zeit, Geduld und guten Willen brauchen, um die äußerlich vollzogene Einheit auch innerlich nachzuvollziehen. Und ich denke, wir sind auf einem guten Weg, besonders wenn ich die Jugendlichen ansehe und die Leute unter 60. Da, denke ich, ist das auch schon gut angekommen, die deutsche Einheit.

    Armbrüster: Was sind denn die Hürden, die noch vor uns liegen?

    Führer: Für mich ganz besonders: Wir sind ja als Kirchenleute besonders von Jesus her an die gewiesen, die an den Verhältnissen leiden, an welcher Stelle auch immer, und ich denke, ein Problem, das mit der friedlichen Revolution und der Einheit Deutschlands noch nicht gelöst worden ist - ich nenne das manchmal den zweiten Teil der friedlichen Revolution -, steht uns noch bevor. Wir brauchen eine gerechtere Wirtschaftsform, die besser zu dieser wunderbaren Form der Demokratie passt. Also ich stelle mir darunter vor, dass eine solidarische Ökonomie entwickelt wird, die Jesus Mentalität des Teilens praktiziert, also Teilen von Bildung, Arbeit, Einkommen und Wohlstand, und das Ganze findet statt unter den erschwerten Bedingungen des Wohlstandes. Also da steht uns noch was bevor.

    Armbrüster: Wäre das so eine Art Kommunismus light?

    Führer: Nein, so würde ich das nicht nennen. Ich würde diese Form der Demokratie, erkämpft durch das Volk, eine Selbstbefreiung aus einer Diktatur, ein ungeheuerer Vorgang und vor allem eine friedliche Revolution, eine Revolution ohne Blutvergießen nennen, die im Geist Jesu der Gewaltlosigkeit aus den Kirchen kam und auf den Straßen und Plätzen praktiziert wurde. Dazu müssen wir sagen, von da ausgehend, in derselben Intention der Gewaltlosigkeit die bestehende Wirtschaftsordnung so zu verändern, auf friedliche Weise versteht sich, dass sie besser zu dieser Demokratie passt. Einen Namen dafür habe ich jetzt noch nicht gefunden.

    Armbrüster: Hätte man das nicht besser vor 20 Jahren alles anpacken sollen, zu Zeiten der Wiedervereinigung?

    Führer: Ja. Ich denke, das war eine ganz große Überforderung, und man muss sich ja vorstellen, es ist eine ungeheuere Leistung, dass es zu dieser Einheit gekommen ist. Die friedliche Revolution hatte den Weg aufgemacht, die Maueröffnung war der erste entscheidende Punkt, nach dem 9. Oktober, diesem Tag, auf dem alles hier in Leipzig auf der Kippe stand, und es waren außenpolitisch und weltpolitisch so viele Unwägbarkeiten und es war durch die Zeit seit 1945 eigentlich so unwahrscheinlich, dass es jemals zu einer Einheit kommen könnte, dass wir dieses gewaltige Geschehen nicht dadurch überfrachten können oder müssen, indem wir sagen, es hätte müssen noch schneller oder noch reibungsloser gehen. Wir müssen in Ruhe die Dinge entwickeln und wir können dankbar sein, dass es zu dieser friedlichen Revolution gekommen ist, die die Tür aufgemacht hat zur deutschen Einheit, und jetzt müssen wir einfach diese Einheit leben.

    Wahrscheinlich hat unser deutsches Volk noch nie so gut gelebt, äußerlich gesehen und von den wirtschaftlichen Bedingungen her, wie jetzt zurzeit. Wir werden sicherlich von vielleicht 90 Prozent der Länder dieser Erde beneidet, dass es uns so geht. Aber wir haben so eine eigene Art, auch immer das Haar in der Suppe zu suchen, immer irgendwie, na ja, das ist noch nicht ganz und das war noch nicht so und das hätte besser sein können. Ich habe natürlich auch ein paar Dinge, die ich mir anders vorstellen könnte, aber ohne Druck.

    Armbrüster: Was würden Sie denn sagen, welche Fehler wurden gemacht bei der Wiedervereinigung?

    Führer: Ich denke, es hätte, besonders um dieses Zusammenwachsen der so unterschiedlichen Gebilde DDR und BRD besser zu bewältigen, eine bessere Aufmerksamkeit für identitätsstiftende Dinge gegeben. In der Hauptstadtfrage ist es gelungen, da ist es nicht Bonn geblieben, sondern Berlin geworden, also deutlich: Hier geht etwas Neues los, das gesamte Deutschland ist etwas anders als die alte Bundesrepublik oder die alte DDR. Und dann hätte ich mir allerdings auch die Frage gestellt: Wir haben ja den Paragraf 146 im Grundgesetz, eine neue Verfassung, die kann man nicht aus dem Boden stampfen, aber sollten wir das nicht in den Blick bekommen zu sagen, das Grundgesetz ist eine wunderbare Leistung, die von 1949 an gilt, aber brauchten wir vielleicht jetzt auch eine neue Verfassung, die der Gegenwart des geeinten Deutschlands mehr Rechnung trägt. - Das zweite ist ...

    Armbrüster: Vielleicht kann ich da noch mal kurz bleiben, bei der Verfassung. Die Bürger der DDR, die haben ja kurz vor der Vereinigung im Grunde für diesen Beitritt gestimmt und auch für die westdeutsche Verfassung, für die Verfassung der Bundesrepublik. Sollte man das nicht berücksichtigen?

    Führer: Ja, das ist eindeutig richtig und das war ja auch die einzige Möglichkeit, die einem vor Augen stand, denn eine neue Verfassung hervorzubringen, das dauert ja Jahre, das kann ja nicht gleich sein, und dieses Geschenk der Einheit musste sofort ergriffen werden und die Leute hier in der DDR hatten auch keine Lust auf lange Wartezeiten und wollten unbedingt - die Grenzöffnung war geschehen - jetzt den Zustand Deutschlands, wie es in Westdeutschland war, auch auf die DDR ausdehnen, und das ist ja dann auch geschehen.

    Armbrüster: Was sollte denn in so einer neuen Verfassung stehen?

    Führer: Das müsste man sich überlegen - da sind die Politiker gefragt -, die ganzen gegenwärtigen Dinge überlegen. Ich denke mir, auf alle Fälle gehört dazu auch die Frage der Nationalhymne. Ich finde es nach wie vor etwas schwierig, dass einfach diese dritte Strophe des Liedes beibehalten wurde. Man hätte hier sensibler sein können und sagen, wir wollen an die DDR-Zeit erinnern, meinetwegen mit der ersten Strophe "Auferstanden aus Ruinen", oder das als zweite Strophe, die erste Strophe "Einigkeit und Recht und Freiheit", erinnert an die alte Bundesrepublik, und vielleicht noch eine neue Strophe, Kinderhymne von Bertold Brecht, "Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe wie ein anderes gutes Land. Und nicht über und nicht unter anderen wollen wir sein von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein", also dass wir wissen, es ist etwas Neues losgegangen, wir brauchen eine neue Identität für das neue Deutschland.

    Und das Entscheidende für mich ist auch noch der Tag. Der 9. Oktober war der Kernpunkt der friedlichen Revolution und das ist ein Datum mit großer Symbolkraft. In Westdeutschland ist lange der 17. Juni als Tag der Einheit gefeiert worden; der führte ja nun gerade nicht zur Einheit, sondern zum Mauerbau, also zur Verschärfung der Lage. Der 9. Oktober, dieser Tag, der ist ja friedlich ausgegangen und hat etwas ermöglicht, was keiner für möglich hielt. Es haben zwar verschiedene von Wiedervereinigung gesprochen, aber wenn man ehrlich ist, ich glaube kaum, dass jemand so wirklich daran geglaubt hat, dass das in diesen hoch gerüsteten, unversöhnlich gegenüberstehenden Blöcken möglich ist. Dieser 9. Oktober ist so ein Hoffnungsdatum, der wirklich nicht nur etwas bewirken wollte und tatsächlich dieses Tor zum geeinten Deutschland geöffnet hat, erst einmal die Maueröffnung und dann diese Tür zum geeinten Deutschland. Der 3. Oktober muss ich ehrlich sagen, hat zu 1989 keinerlei Beziehung, ist ein unglückliches Datum.

    Armbrüster: Herr Führer, ich muss noch mal kurz einhaken, weil ich möchte, gerne auch noch eine oder zwei andere Fragen stellen. Zum einen: Was fühlen Sie, wenn Sie sehen, welchen Erfolg die Linkspartei heute hat, immerhin zum Teil eine Nachfolgepartei der SED?

    Führer: Ja, ich denke, wir brauchen keine neuen Heimatvertriebenen. Also die Millionen SED-Genossen aus der DDR, die brauchen ja auch irgendwo eine Heimat, wenn wir sie nicht irgendwo anders hinstecken wollen, und die haben sie auf alle Fälle in dieser Partei gefunden. Das andere finde ich eigentlich auch gut für die demokratische Landschaft, dass da noch etwas mehr Farbe reingekommen ist. Wir haben das ja immer gesehen: am Anfang CDU/CSU, SPD, FDP und dann kamen die Grünen dazu und haben doch wesentlich die politische Landschaft verändert. Und wenn jetzt noch die Linken dazukommen, dann ist das noch mal eine Herausforderung für die Demokratie und für die etablierten Parteien, mit diesem politischen Gegner oder dieser politischen Partei sich auseinanderzusetzen.

    Ich denke auch, diese Partei hat noch eine andere Funktion, die wichtig ist. Es gibt ja diese fatale Geschichte der Nichtwähler oder der Protestwähler in Deutschland. Und wenn sie die Protestwähler nehmen, wäre für mich die Horrorvorstellung, dass sie, um die großen Parteien abzustrafen, NPD wählen. Und ich denke, die Linken sind so ein Becken, die fangen diese Protestwählerstimmen auf. Für mich ist das auf alle Fälle eine bessere Sache, als wenn es eine rechtsextreme Partei in Deutschland wieder schafft, richtig an Macht zu gewinnen.

    Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Christian Führer. Er war vor 20 Jahren Pfarrer in der Nicolaikirche in Leipzig und wir haben mit ihm über zwei Jahrzehnte deutsche Einheit gesprochen. Vielen Dank, Pfarrer Führer, für dieses Gespräch.

    Führer: Bitte schön!