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"Wir fallen da von einem Schrecken in den anderen"

Das Netzwerk um die Zwickauer Terrorzelle war offenbar größer als bisher bekannt. Der NSU-Untersuchungsausschuss fordert Bund und Länder auf zu prüfen, ob unter den neuen Namen V-Leute sind. Hans-Christian Ströbele, Mitglied im Ausschuss, erwartet neue Erkenntnisse über das Versagen der Sicherheitsbehörden.

Christian Ströbele im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 25.03.2013
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Meldung gestern wirkte auf manch einen wie ein Schock. Die "Bild am Sonntag" machte öffentlich, es gebe eine neue geheime Liste der Sicherheitsbehörden mit den Namen des Umfelds der rechten Terrorzelle NSU, und die umfasse weit mehr Personen als bisher bekannt. 129 Namen stünden jetzt auf dieser Liste, das sind zwei Dutzend mehr als bisher. Wie ist diese Meldung einzuordnen? Ist das braune Netzwerk um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, denen neun Morde an Migranten und einer Polizistin angelastet werden, weit größer gewesen als bisher gedacht und ist es das möglicherweise noch heute? – Am Telefon begrüße ich dazu Hans-Christian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen, stellvertretendes Mitglied im NSU-Untersuchungsausschuss. Guten Morgen, Herr Ströbele.

    Hans-Christian Ströbele: Ja guten Morgen!

    Heckmann: Herr Ströbele, wie überrascht waren Sie von der Meldung der "Bild am Sonntag" gestern?

    Ströbele: Also ich war von der Meldung jetzt nicht mehr überrascht, weil wir haben ja am Donnerstag in der letzten Sitzung in dem Ausschuss schon solche Meldungen bekommen, das heißt sogar noch vor der Sitzung, und wir haben dann auch die dringende Bitte an die Ermittlungsbehörden und an die zuständigen Stellen gerichtet, uns mitzuteilen, ob unter diesen neu hinzukommenden Namen und Personen auch Leute sind, die zum Verfassungsschutz im Bund oder in Ländern Kontakte gehabt haben oder gar V-Leute gewesen sind.

    Heckmann: Das heißt, ich verstehe Sie richtig: Es gibt diese Liste und sie ist umfangreicher als bisher?

    Ströbele: Ja. Es fing ja an mit der Liste von erst zwölf, dann 30, dann 100 Personen, und jetzt sind es eben 29 mehr geworden. Nun muss man sich nicht vorstellen, dass das alles welche sind, von denen nachgewiesen ist oder belegt ist, dass die Wohnungen besorgt haben, oder eine Waffe, oder Ähnliches, sondern da sind auch eine ganze Reihe von Leuten dabei, die zum weiteren Umfeld zählen, also die mal was gehört haben, die Informationen hatten, dass jemand Kontakt zu der Gruppe gehabt haben soll, also zu dem Trio gehabt haben soll, oder dass jemand dieses Pogromoly kennt, was die gemacht haben, ein ganz fürchterliches Spiel, wo mit dem Pogrom ein Spiel organisiert werden sollte, und solche Sachen. Das haben die nicht selber gemacht, sondern davon erfahren. Also man muss da ein bisschen vorsichtig sein. Die Liste ist jetzt nicht eine Liste von aktiven Leuten nur.

    Heckmann: Herr Ströbele, Sie haben es gerade eben schon erwähnt: Der NSU-Untersuchungsausschuss hat am Donnerstag beschlossen, dass Bund und Länder die neuen Namen auf V-Leute untersuchen sollen. Richten Sie sich da noch auf neue Überraschungen ein?

    Ströbele: Ja, da muss man immer mit rechnen. Wir ermitteln ja selber oder wir hören Zeugen und erfahren da auch immer wieder ganz neue Zusammenhänge. Was man jetzt schon sagen kann – und das ergibt sich ja auch aus der großen Zahl der Personen, um die wir uns da kümmern – ist, dass dieses Trio nicht ein Trio von einsamen Wölfen gewesen ist, die faktisch unerkannt irgendwo im Land operiert haben, sondern die lebten ja in der Umgebung, in der sie auch vorher gelebt haben, nach dem Untertauchen weiter. Die hatten Kontakte, vielfältige Kontakte zu den verschiedenen Kameraden. Die hatten auch ganz konkrete Unterstützung etwa bei der Wohnungsbeschaffung. Die hatten auch Unterstützung bei der Waffenbeschaffung und es drangen auch immer wieder Meldungen – und das ist das Fürchterliche eigentlich – nach draußen, nämlich an V-Leute, die das dann weitergegeben haben an Verfassungsschutz, aber auch etwa an die Berliner Polizei, und leider ist mit diesen Informationen nicht so umgegangen worden, dass man die bekommen hat. Da sind ungeheuere Fehler gemacht worden und da ist ein ungeheueres Versagen festzustellen.

    Heckmann: Weshalb ist Ihnen denn diese Frage so wichtig, Herr Ströbele, ob unter diesen Unterstützern, den möglichen Mitwissern, V-Leute gewesen sind?

    Ströbele: Weil das noch neue zusätzliche Erkenntnisse darüber geben könnte, dass die Ermittlungsbehörden beziehungsweise die Verfassungsschutzämter noch mehr gewusst haben und noch weniger daraus gefolgert haben, und dass deshalb das Versagen immer dramatischer und immer größer wird. Wir konnten uns das kaum vorstellen am Anfang, aber wir fallen da von einem Schrecken in den anderen.

    Heckmann: Normalerweise wird ja die Arbeit eines Untersuchungsausschusses im Parlament zum Ende der Legislaturperiode beendet, mit einem Abschlussbericht üblicherweise. Die FDP, die hat jetzt gestern eine Fortsetzung oder eine Neuauflage des Untersuchungsausschusses gefordert zu den NSU-Morden. Schließen Sie sich dem an?

    Ströbele: Das muss man sehen. Wir schreiben ja auch einen Bericht. Ab Juni wird Bericht geschrieben. Im Mai werden wir voraussichtlich die letzten Zeugenvernehmungen haben. Wir werden diesen Bericht auch im Deutschen Bundestag diskutieren, auch nach der Sommerpause noch, vor den Bundestagswahlen. Und in diesem Bericht werden wir uns auch darüber äußern, ob weitere Nachforschungen, weitere Ermittlungen auch von Parlamentsseite notwendig sind. Wir müssen ja sehen: Die Ermittlungsbehörden arbeiten da ja und der neue Bundestag kann überhaupt nicht gebunden werden an irgendeine solche Forderung. Aber der neue Bundestag wird sich natürlich mit ganz anderen Abgeordneten, zum Teil jedenfalls, auch mit der Frage beschäftigen müssen, ist da noch Arbeit notwendig, ist da noch Aufklärungsarbeit notwendig und erwarten wir das von uns und die Öffentlichkeit auch von uns.

    Heckmann: Das Netzwerk der rechtsradikalen NSU war möglicherweise größer als bisher bekannt. Telefonisch war das Hans-Christian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen. Besten Dank für das Interview.

    Ströbele: Ja, auf Wiedersehen.

    Heckmann: Schönen Tag noch!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.