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"Wir haben alles auf den Prüfstand gestellt"

Nach Bekanntgabe der Ergebnisse des PISA-Bildungstests sieht Klaus Hurrelmann, Professor an der Hochschule Hertie School of Governance, die besseren Leistungen der deutschen Schüler als Folge der neuen Qualitätsstandards und Vergleichstests. Man müsse allerdings an der Situation arbeiten, dass die soziale Herkunft eines Kindes so ausschlaggebend sei wie in keinem anderen Land.

Klaus Hurrelmann im Gespräch mit Friedbert Meurer | 07.12.2010
    Friedbert Meurer: Im Jahr 2001, heute vor neun Jahren, lösten die Bildungsforscher den PISA-Schock aus. Deutsche Schülerinnen und Schüler lagen im internationalen OECD-Vergleich im unteren Drittel, und das im Land der Dichter und Denker. Aber alle drei Jahre werden jetzt wieder neue Erhebungen durchgeführt und alle drei Jahre geht es leicht bergauf. Heute lautet das Ergebnis ebenfalls, deutsche Schüler rangieren in Mathe und in den Naturwissenschaften über dem Durchschnitt, im Lesen liegen wir im oberen Mittelfeld.

    Die neue Studie wird natürlich für einige Diskussionen sorgen. Ich begrüße nun in Berlin Klaus Hurrelmann, Professor, Erziehungswissenschaftler, einer der bekanntesten Bildungsforscher. Er lehrt jetzt an der privaten Hochschule Hertie School of Governance. Guten Tag, Herr Hurrelmann.

    Klaus Hurrelmann: Schönen guten Tag.

    Meurer: Was hat dazu beigetragen, dass wir jetzt besser sind als vor neun Jahren?

    Hurrelmann: Meiner Ansicht nach die öffentliche Diskussion vor allen konkreten Schritten, die wir eingeleitet haben, denn es war, wie Sie schon gesagt haben, ein veritabler Schock. Eine politische Kulturrevolution ist daraufhin, eine pädagogische Kulturrevolution, muss man sagen, ist daraufhin ausgebrochen. Wir haben alles auf den Prüfstand gestellt. Die Lehrerinnen und Lehrer fühlten sich ja zum Teil richtig in ihrer Ehre gepackt. Ich denke, das hat sich übertragen und das hat dazu geführt, dass überhaupt erst einmal schulische Bildung, die Verfassung der Schule, die Atmosphäre in der Schule, alles das zu einem Thema geworden ist und wie wir jetzt sehen nicht zum Schaden aller Beteiligten.

    Meurer: Wenn man Eltern fragt, werden die vermutlich sagen, ich könnte jetzt nicht auf Anhieb sagen, was in den letzten neun Jahren an den Schulen besser geworden ist. Was ist denn angestoßen durch die öffentliche Debatte in den Schulen jetzt besser als vor neun Jahren?

    Hurrelmann: Ja, ich würde auf der Fährte bleiben, die ich gerade eingeschlagen habe. Es ist die Bereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer, genau hinzusehen und sorgfältig zu prüfen, ob sie alles getan haben, um die Potenziale bei einem Schüler zu wecken. Also auf dieser Ebene hat sich viel getan.

    Aber ich will nicht leugnen - das ist ja ganz wichtig bei dieser kontinuierlichen, langsamen, aber kontinuierlichen Verbesserung, die wir haben -, es sind ganz offenbar auch die Strukturschritte, die wir gemacht haben, und da scheint an erster Stelle zu wirken diese Standardsetzung, Qualitätsstandards zu setzen, immer wieder vergleichende Tests zu machen, überhaupt Tests einzuführen. Das war bis 2001 im deutschen Schulsystem äußerst verpönt. Das Lehrerurteil zählte. Heute wissen wir, wie klug und wie clever Tests sein können, wie genau sie zum Beispiel im Lesen die Dimensionen abbilden können, wie sehr man davon was ablesen kann.

    Meurer: Inwiefern sind Tests clever Ihrer Ansicht nach?

    Hurrelmann: Sie sind clever, weil sie eben auf eine ganz sachliche Weise herausarbeiten, was ist es denn genau, was am Ende das Leseergebnis beeinflusst, die Lesbarkeit, das Textverständnis, die Kombination. Alle diese Dimensionen, die kann ich mit einem Test messen. Das kann eine Lehrerin, ein Lehrer so ohne weiteres nicht, dazu braucht er, braucht sie diese Unterstützung. Das ist geschehen durch PISA, international abgestimmte Instrumente, die viele Länder jetzt auch so einsetzen.

    Meurer: Sie denke, das ist sozusagen ein Motivationsschub für die Lehrerinnen und Lehrer, diese Tests, wenn sie wissen, ich stehe im Vergleich mit anderen Klassen, mit anderen Schulen, mit anderen Einrichtungen in anderen Städten?

    Hurrelmann: Ja! Wir wissen auch aus den Untersuchungen, diese faire Wettbewerbskomponente, die macht sehr viel aus. Wenn ich weiß, ich werde beobachtet und ich werde auch dafür verantwortlich gemacht, was ich hier mit meiner Klasse und damit die ganze Schule an Leistungen für die Schüler bringt, und die Schüler machen mich vielleicht durch die Eltern auch dafür verantwortlich, dann entsteht eine neue Atmosphäre, nicht nur mehr Druck, wie viele fürchten - der kann passieren, das ist nicht zu übersehen -, sondern eben auch mehr Ehrgeiz, mehr Motivation, mehr Beachtung dessen, was da in der Schule geschieht.

    Meurer: Was sagen Sie dazu, Herr Hurrelmann, wie wir eben gehört haben, dass das Leistungsniveau der schwächeren Schüler in Deutschland sich verbessert hat?

    Hurrelmann: Na wunderbar! Das ist ja unser Pferdefuß, wir haben es eben gehört. Immer noch ist bei uns die soziale Herkunft, die familiäre Verankerung eines Kindes so ausschlaggebend wie in keinem anderen Land. Beim Lesen schlägt es immer noch durch, ganz klar, dass wir hier auch arbeiten müssen. Bei den Kindern mit einem Zuwandererhintergrund der Familie ist es auch sehr stark, hier sind die sprachlichen Schwächen unverkennbar. Wir wissen also genau, was wir jetzt zu tun haben, und das Ziel muss sein, nachdem wir in den naturwissenschaftlichen Fächern jetzt auch in Mathematik ja durchaus auch durch gezielte Förderprogramme und Lehrertrainings weitergekommen sind, dass wir das jetzt im Bereich Lesen, Muttersprache, Textverständnis auch machen, und es hat ja bereits begonnen. Ich denke auch hier, wir dürfen optimistisch sein, Leseförderung, Vorlesen in die Familien hineintragen, aber am Ende auch mehr Angebote neben den Familien für alle die Kinder, bei denen die Eltern durch die pädagogischen Aufgaben heute einfach überfordert sind.

    Meurer: Ausgelöst durch die erste PISA-Studie hieß es damals, in Finnland, die so gut abschneiden, hocken die Kinder zusammen bis zur 8. Klasse. In Deutschland wird nach Klasse 4 getrennt. Jetzt haben wir die besseren PISA-Ergebnisse. Kann man sie so deuten, Herr Hurrelmann, dass wir diese Diskussion über längeres gemeinsames Lernen zurückstellen sollten?

    Hurrelmann: Ja. Ich bin seit vielen Jahren der Auffassung, dass wir uns nicht darauf fixieren sollen. Wir sollen uns darauf fixieren, dass der Druck, nach vier Jahren eine Entscheidung oder in manchen Bundesländern nach sechs Jahren eine Entscheidung treffen zu müssen als Eltern, als Kinder, gehe ich jetzt aufs Gymnasium ja oder nein, und wenn ich nicht aufs Gymnasium komme habe ich keine Chance, so richtig gut zum Abitur zu kommen, dieser Druck muss weg. Und ich glaube, wir haben hier was getan - das ist der Vorschlag, den auch ich immer mit unterstützt habe -, die Schulen nach der Grundschule alle so auszurichten, dass sie auch den Weg zum Abitur gestatten. Das nimmt den Druck gewaltig heraus und dann können wir eines Tages darüber nachdenken, ob wir die Grundschulzeit verlängern, aber vielleicht ist das dann auch gar nicht mehr nötig. Eine Fixierung jedenfalls der Diskussion auf diese eine Frage, die ist tödlich und die irritiert die Eltern sehr, weil sie ja alle sehen, wie stark das Gymnasium heute ist und wie erfolgreich es als Schulform ist.

    Meurer: Ihre Botschaft von der Offenheit, Herr Hurrelmann, scheint noch nicht so richtig bei den Eltern angekommen zu sein. Alle haben eine Wahnsinnsangst und machen salopp gesagt einen Wahnsinnsdruck auf ihre Kinder, nach Klasse 4 musst du es schaffen aufs Gymnasium, oder mindestens auf die Realschule. Und das soll besser geworden sein, weniger Druck herrschen?

    Hurrelmann: Nein, das ist nicht besser geworden, aber immer mehr Bundesländer haben neben dem Gymnasium die Schulen zusammengefasst, Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen, zuletzt jetzt Berlin, und haben diesen neuen Schulen eine eigene Oberstufe gegeben, an der man alle Abschlüsse also zwischendurch und dann auch am Ende das Abitur erwerben kann, die auch das Gymnasium anbietet. Ich denke, das ist es! Das nimmt eine Menge Druck aus dem System und gestattet Eltern, etwas entspannter zu sagen, ja, wenn mein Kind eine praktische Orientierung hat, dann bleibt es eben an der Sekundarschule - vielleicht kann man sie auch eines Tages mal das Fachgymnasium nennen - und macht da eventuell das Abitur, ich muss nicht mein Kind zwingen, auf das theoretischer ausgerichtete Gymnasium überzugehen. Vielleicht ist das doch eine Lösung, an die sich auch die Eltern eines Tages sehr gut gewöhnen können.

    Meurer: Der Erziehungswissenschaftler Professor Klaus Hurrelmann bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk zur neuesten PISA-Studie. Herr Hurrelmann, schönen Dank und auf Wiederhören!

    Hurrelmann: Danke für Ihr Interesse. Tschüss!