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"Wir haben in Minsk blutige Szenen zu erwarten"

Auf den Aufruf der Opposition Weißrusslands zu Protestkundgebungen am Wahltag reagierte der amtierende Präsident Lukaschenko mit den Worten: "Wir werden ihnen den Hals umdrehen". Rainer Lindner von der Stiftung Wissenschaft und Politik rechnet dementsprechend mit einer blutigen Niederschlagung der Demonstrationen. Der Osteuropa-Experte warnte zugleich vor allzu großen Hoffungen auf eine mögliche Revolution nach ukrainischem Vorbild.

Moderation: Jörg-Christian Schillmöller |
    Schillmöller: "Alle, die auf die Straße gehen und versuchen, die Lage zu destabilisieren, werden als Terroristen angesehen." Das sind klare Worte. Die Botschaft stammt vom weißrussischen Geheimdienst, der übrigens KGB heißt. Adressat ist die Opposition im Land, die für heute Abend in der Hauptstadt Minsk zu einer Kundgebung aufgerufen hat. Denn in Weißrussland wird heute gewählt - auch wenn Kritiker wohl eher sagen würden, dass Alexander Lukaschenko heute wählen lässt. Der Präsident ist 51 und wird nicht nur von den USA als "letzter Diktator Europas" bezeichnet. Sein Land regiert er autoritär, bildlicher gesagt: knüppelhart. Regimegegner werden eingeschüchtert und unterdrückt. Vor allem in letzter Zeit sind die Festnahmen von Oppositionellen wieder zahlreich geworden.

    Die "Reporter ohne Grenzen" bezeichnen Lukaschenko schlicht als "Feind der Pressefreiheit". Ein Kritiker sagte einmal über den Präsidenten: 1994 habe ihn das Volk gewählt, danach sei er zum Staat geworden und am Ende zu einem kleinen Gott. Lukaschenkos Botschaft an die Teilnehmer der für heute geplanten Oppositionskundgebung hat indes mit göttlichem Feinsinn wenig zu tun. Zitat: "Wir werden ihnen den Hals umdrehen, so wie einem Entenküken." Welche Bedeutung hat eine Wahl unter diesen Bedingungen? Welche Möglichkeiten bleiben der Opposition? Und gibt es Aussichten auf eine "Jeans-Revolution" in Weißrussland? Denn das ist der immer öfter gehandelte Name in Anlehnung an die "orangefarbene Revolution" in der Ukraine und die "Rosenrevolution" in Georgien. Rainer Lindner beobachtet das Geschehen in Weißrussland. Er ist Osteuropa-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Lindner, wie bedrohlich ist die Lage in Weißrussland tatsächlich?

    Lindner: Ich glaube schon, dass im Moment die Situation sehr angespannt ist. Es liegt eine Ruhe vor dem Sturm über der Stadt Minsk. Die Truppen, die das Innenministerium zusätzlich angefordert hat auch aus den Regionen, sind bereits in Position gebracht. Manche reden von über 5000 dieser Truppen, die dort zusammengezogen worden sind. Man hat entsprechende Drohkulissen, Drohszenarien errichtet. Lukaschenko - so heißt es aus seiner Umgebung - hat völlig den Realitätsbezug verloren; er ist jedem Maßstab entrückt, der Verhältnismäßigkeit, in der Anwendung von Gewalt. Ich glaube, wir haben in Minsk blutige Szenen zu erwarten.

    Schillmöller: Wie sehr wird denn der Alltag der Menschen - abgesehen vielleicht von dem heutigen Tag - von Repression bestimmt? Wie stark werden auch die Grundrechte der Menschen in Weißrussland eingeschränkt?

    Lindner: Das Land befindet sich seit zwölf Jahren in einem Informationsvakuum. Lukaschenko hat eine Glocke der Desinformation über das Land gestülpt. Die Staatsmedien berichten zu 100 Prozent seine Botschaften. Er besetzt 90 Prozent des politischen Raumes in den Medien. Er hat den Mitkandidaten nur einmal die Chance gelassen, landesweit im Rundfunk und im Fernsehen aufzutreten. Es ist ein Land, das mit Angst regiert wird. Sie müssen sich vorstellen: Es gibt wieder die Tradition der stalinistischen Zeit, dass man beispielsweise in Schulen, in Universitäten, in Betrieben schwarze Boxen aufgehängt hat, in denen Menschen auch ihre Kollegen, ihre Kommilitonen bezichtigen können. Sozusagen die Kultur der Denunziation ist zurückgekehrt. Das Instrumentarium reicht von eingeschränkten Medien bis zur rohen Gewalt.

    Schillmöller: Das klingt alles so archaisch. Ist denn Weißrussland so was wie ein Anachronismus?

    Lindner: In der Tat, archaisch ist das richtige Wort. Das Land wird von der politischen Kultur der Sowjetzeit bestimmt. Es ist einerseits das saubere Land, in dem die U-Bahn-Stationen blitzen. Es ist das Land der Sobotniki, der freiwilligen Arbeitseinsätze. Es ist das Land, in dem etwa eine Ernte immer noch "erkämpft" und nicht ganz normal eingefahren wird. Es ist das Land, in dem Olympioniken eine feste Vorgabe an Medaillen nach Hause zu bringen haben, ansonsten, wenn sie das nicht tun, werden sie dafür bezichtigt. Also kurzum: Es besteht fort dieser politische Raum, in dem Lukaschenko groß gewachsen ist. Er gehört zur Generation der Nachkriegszeit, er ist in den 50er Jahren geboren und ist sozusagen von dem Gedanken beseelt, auch heute noch die Kultur der Sowjetunion weiter zu tragen.

    Schillmöller: Welchen Aussichten gibt es denn auf eine Revolution? Es hat ja in der Ukraine und in Georgien halbwegs funktioniert. Nun gibt es diesen Begriff der "Jeans-Revolution" für Weißrussland. Ist das ein sehr zartes Pflänzchen?

    Lindner: Das ist ein zartes Pflänzchen, in der Tat. Aber wenn wir auf den sehr kurzen Wahlkampf schauen, muss man doch sagen, dass die Opposition es vermocht hat, in den politischen Raum zurückzukehren. Daraus war sie lange Zeit, lange Jahre verdrängt, zum Teil eigenverschuldet, wegen ihrer unkonsolidierten Situation, wegen ihrer Zersplitterung. Jetzt hat sie das doch geschafft, hinter einem Kandidaten, hinter Alexander Milinkewitsch, sich zu formieren. Man hat Regionalkonferenzen mit zum Teil mehreren tausend Zuhörern, Zuschauern abhalten können. Gelegentlich wurde weiteren Menschen der Zutritt zu diesen Veranstaltungen verwehrt durch die Ordnungskräfte. Das heißt, Menschen trauen sich auch wieder, zu diesen Veranstaltungen zu gehen. Das hat es in der Vergangenheit nicht gegeben.

    Insofern, das zarte Pflänzchen ist in der Tat noch nicht groß genug, um heute vermutlich einen Umsturz herbeizuführen. Wir sollten auch zurückhaltend sein, dies von außen her zusätzlich zu befördern. Wenn überhaupt, muss es der Wille der Menschen selbst. Ich glaube, viele - vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung - sind bereit dafür, für ihre Forderungen auf die Straße zu gehen. Wie das Regime darauf reagiert, haben wir bereits gehört.

    Schillmöller: Sie sagen, man sollte sich als Ausland eher zurückhalten. Bedeutet das, Sie sind skeptisch, was Sanktionen angeht?

    Lindner: Sanktionen müssen sehr genau geprüft werden, um nicht die Menschen zu treffen. Es gibt, glaube ich, andere Möglichkeiten, die eher das Regime treffen, nämlich die Erweiterung der Liste derer, die nicht einreisen dürfen nach Schengen. Da darf es eben nicht mehr möglich sein, dass Lukaschenko zum Skifahren nach Europa fährt. Es müssten andere Möglichkeiten geschaffen werden. Es müsste für die Menschen selbst womöglich eine Erweiterung eher der Visa-Möglichkeiten bestehen. Die Einflussnahme durch Medien von außen ist wichtig, aber das reicht nicht aus. Die Menschen können eben nach zwölf Jahren Regime kaum noch wahr von falsch unterscheiden. Das heißt, nur ein Sender macht es nicht alleine. Es braucht auch die Arbeit der Zivilgesellschaft, um die Menschen überhaupt wieder aufnahmefähig für objektive Informationen zu machen. Das heißt, es braucht ein sensibilisiertes Instrumentarium, ein Spektrum an Möglichkeiten - politischen, wirtschaftlichen und medialen.

    Schillmöller: Der von Ihnen schon genannte Oppositionspolitiker Alexander Milinkewitsch sagt: "Ein antirussischer Politiker kann hier keine Wahlen gewinnen." Russland steht im Hintergrund von Weißrussland, oder?

    Lindner: In der Tat. Und Milinkewitsch ist auch ein Mann, der sowohl nach Russland wie auch nach Westeuropa, nach Deutschland, gute Kontakte hat. Russland seinerseits ist ja in einer Situation, dass es eben nicht wortreich und mit großen Gesten den Wahlkampf Lukaschenkos unterstützt hat. Es hat schon das Referendum von 2004 - was ja zu diesen Wahlen geführt hat und was schon seinerseits illegal war, weil man damals die Frage nach der Präsidentschaft erhoben hat, die die Verfassung nicht vorsieht für ein Referendum -, Russland hat sich da zurückgehalten. Und es hat sich auch diesmal, offensichtlich nicht zuletzt als Vorsitzender der G8 und jetzt ab Mai als Vorsitzender des Europarates, vor einer großen Geste gegenüber Lukaschenko enthalten. Ich glaube, das ist ein erstes Signal, dass Russland seine Position gegenüber diesem Land überdenkt.

    Ich erwarte auch eine Erhöhung des Gaspreises. Gegenwärtig bezieht Belarus Gas zu 47 Dollar pro 1000 Kubik. Das ist zum Teil unter dem Preis, den russische Regionen bezahlen müssen. Hier wird also eine Verschlechterung der Beziehung zu erwarten sein. Welches Ausmaß das erreicht, ist derzeit noch nicht abzusehen.

    Schillmöller: Greifen wir noch mal ein Beispiel aus dem Alltag in Weißrussland heraus. Die Presse zum Beispiel. Aus fast 20 Oppositionszeitungen sind mittlerweile gerade einmal drei geworden. Der Vertrieb wird sabotiert und die Zeitungen dürfen nicht mehr über das staatliche Monopol, den staatlichen Monopolisten ausgeliefert werden. Welche Aussichten hat die Presse denn in diesem Land in Zukunft? Also das ist ja eher eine Verschlechterung der Lage und keine Aussicht auf Besserung.

    Lindner: In der Tat. Die Presse ist in dem Sinne als freie Presse nicht existent. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass vor 100 Jahren, als die erste weißrussischsprachige Zeitung erschienen ist, Naša Niva - die gibt es heute immer noch oder beziehungsweise gibt es heute wieder -, ebenfalls schon verfolgt wurde, ebenfalls schon Ausgaben eingestampft wurden. 100 Jahre später agiert Lukaschenko mit den gleichen Methoden gegen die gleiche Zeitung. Das ist schon eine archaische, in der Tat archaische Situation. Nein, die Medien sind in einer ganz schlechten Situation. Objektive Informationen oder einigermaßen angemessene Informationen gelangen im Wesentlichen über russische Medien, vor allen Dingen aber auch aus dem westlichen Ausland in das Land, über das Internet - das Internet ist eine zentrale Informationsquelle.

    Aber wenn wir uns auf den heutigen Tag orientieren und die Rolle der Medien betrachten - wir wissen ja, dass in der Ukraine beispielsweise die "SMS-Revolution", die "Handy-Revolution", zum Teil auch stattgefunden hat. In Belarus, in Weißrussland ist das so, dass jetzt die Menschen per SMS von dem größten Anbieter, Belcom, eine SMS erhalten haben gegen die Provokateure. Und die Provokateure würden Blutvergießen sozusagen planen. Das sind die Unterschiede zur Ukraine. Während dort sich private Unternehmen sozusagen als Handy-Anbieter als nützlich erwiesen haben in dieser Revolution, ist bereits dieses Medium für die Revolution in Belarus ausgeschlossen. Das heißt, womöglich werden diese Anbieter auch abgeschaltet, werden Internet-Provider heute Abend heruntergefahren. Das heißt, das Regime hat sich auf diesen Tag X offensichtlich vorbereitet.

    Schillmöller: Wie viel Zeit geben Sie Alexander Lukaschenko noch? Sitzt er so fest im Sattel? Er hat ja auch die Verfassung ändern lassen, um immer wieder gewählt werden zu können als Präsident. Kann das einfach noch viele Jahre so weiter gehen?

    Lindner: Das glaube ich nicht. Ich glaube, er ist die längste Zeit Präsident gewesen. Denn, wie ich schon sagte, der Druck von außen, nicht jetzt von Russland, wird zunehmen. Spätestens dann, wenn das Wirtschaftsmodell Weißrusslands zusammenbricht, wenn eben nicht mehr vom "Wunder Belarus" die Rede ist, wenn eben in der Tat der Gaspreis angehoben werden wird - und das wird sich massiv auf die Lage der Bevölkerung durchschlagen. Aber eben auch der Druck von innen wird zunehmen. Die Opposition wird unvermindert auch nach diesem Tag heute fortfahren, ihre Positionen in die Regionen zu tragen. Ich glaube, dass auch unsere EU dazu aufgefordert ist, stärker als bisher eine Politik zu formulieren, eine Politik, die eben nicht nur sagt: Wir können nichts tun, dort ist das Land, ein Regime, wir haben keine Mittel. Nein, es gibt Mittel. Einige davon hatte ich genannt.