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"Wir haben jetzt so viele Einzugsstellen, wie wir Krankenkassen haben"

Die Gesundheitsexpertin der Bertelsmann-Stiftung, Sophia Schlette, hat sich positiv über die von der Koalition beschlossene Gesundheitsreform geäußert. Das "Schreckgespenst" der zentralen Einzugsstelle werde den bürokratischen Aufwand nicht erhöhen. Die Erfahrung zeige, dass Länder, die solche Einzugsstellen hätten, auf der Ausgabenseite besser dastünden als Deutschland, so Schlette weiter.

Moderation: Christine Heuer |
    Christine Heuer: Mit der Gesundheitsreform, findet Angela Merkel, habe ihre Regierung "Unglaubliches geleistet". Viele Bürger finden das auch und danken es Schwarz-Rot mit drastischen Einbrüchen in den Wählergunstumfragen. Die Kassen planen bekanntlich eine Protest- und Aufklärungskampagne, die die Gesundheitsministerin am liebsten verbieten würde, und aus den Regierungsfraktionen sind die ersten Abgeordneten zu vernehmen, die ankündigen, dass sie dem Gesetz der großen Koalition jedenfalls nicht zustimmen werden. Geht es dennoch anders, als SPD und Union sich das ausgedacht haben, und wenn ja, wie ginge es anders? Das möchte ich jetzt mit Sophia Schlette besprechen, Gesundheitsexpertin bei der Bertelsmann-Stiftung ist sie. Guten Morgen Frau Schlette!

    Sophia Schlette: Guten Morgen Frau Heuer!

    Heuer: Angela Merkel hat auch gesagt, die Gesundheitsreform verspreche Versicherten Sicherheit und den Beitragszahlern konstante Kosten. Frau Schlette, ist das nicht schlicht gelogen?

    Schlette: Das würde ich so auf gar keinen Fall stehen lassen. Man wird natürlich abwarten müssen, was tatsächlich dann im Gesetz steht, und wir haben ja jetzt erst mal die Eckpunkte seit Anfang Juli, und eins ist bestimmt sicher: Das System muss für die Patienten mehr Sicherheit bieten, und wenn ich Sicherheit sage, dann spreche ich von Qualität vor allen Dingen, und da wissen wir doch seit Jahren, spätestens seit der Sachverständigenratsgutachten von Anfang 2000/2001, dass es in Deutschland massive Qualitätsprobleme gibt, zwar auf hohem Niveau, aber es gibt sie. Der Spruch von der Fehl-, Unter- und Überversorgung ist ja nicht so dahin gesagt. Da gibt es also Defizite, und ich denke, dass die Reform da schon in die richtige Richtung geht.

    Heuer: Gut, also Sicherheit für die Versicherten haben wir schon mal nicht. Haben wir denn konstante Beiträge? Man hat ja den Eindruck gewonnen, dass die Beiträge steigen.

    Schlette: Ja, das ist das Kuriosum an dieser Vereinbarung, die da spät nachts oder am frühen Morgen geschmiedet wurde. Das ist allerdings nicht das, was meines Wissens nach sehr viele Beamte und auch gesundheitspolitische Experten im Vorfeld und im Umfeld so sich ausgedacht hatten. Ich denke, da wurden in letzter Minute einfach wegen der Interessengruppen und wegen des Vorstoßes vieler Interessengruppen in Richtung Besitzstandwahrung wurden Kompromisse gemacht, die sehr faule Kompromisse sind. Aber auch da denke ich, wird sind noch bei den Eckpunkten, wir haben noch keinen Referentenentwurf, wir haben noch keinen Gesetzentwurf vorliegen.

    Heuer: Sie haben die Lobbyinteressen jetzt gerade erwähnt. Ist denn eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems in Deutschland, die man ja immer wollte und vor der seit vielen Jahren und Jahrzehnten inzwischen die Rede ist, eine solche grundlegende Reform überhaupt möglich?

    Schlette: Da ist natürlich die erste Frage, was heißt grundlegende Reform. Wenn wir Länder miteinander vergleichen oder andere europäische Länder mit Deutschland vergleichen, dann wissen wir aus Beobachtung, es gibt keine wirklichen Big-Bang-Reformen. Sie können nicht von einem Tag auf den anderen ein ganzes System umstellen. Das ist ja schon etwas aufwändiger als wie wenn Schweden Anfang der 70er Jahre vom Linksverkehr auf den Rechtsverkehr umstellt. So einfach geht das im Gesundheitsbereich nicht. Wir haben ein zweites Problem, wir sind ein sehr, sehr großes Land, und ein großes Land wie ein großes Schiff oder ein schweres Schiff, da ist der Richtungswechsel auch einfach nicht so leicht wie bei kleinen Ländern. Also Sie können nach Österreich gucken oder in die Niederlande oder nach Estland, und da finden Sie, dass dort sehr viel reformfreudiger, sehr viel offener und, denke ich, schon in einem Klima von größerem Vertrauen miteinander verhandelt wird, und das ist bei 80 Millionen Einwohnern mit so und so und so vielen Bundesländern einfach schwer.

    Heuer: Lassen Sie uns über die Kosten sprechen. Sie erwähnen immer, dass die Bertelsmann-Stiftung internationale Vergleiche anstellt. Wer macht es denn bei den Kosten zum Beispiel besser als die Deutschen?

    Schlette: Reden wir jetzt über die Einnahmeseite oder über die Ausgabeseite?

    Heuer: Fangen wir mal bei der Ausgabeseite an, denn das ist ja der stete Einwand der Kritiker, dass an der Ausgabenseite nicht genug getan wird in Deutschland.

    Schlette: Finde ich auch, weil die Einnahmeseite doch sehr stark auch eine politische Entscheidung ist, und da kann man auch schneller etwas daran drehen. Ich denke, ohne Budgets geht so etwas nicht. Wir haben ja als Kuriosum auf dem Gesundheitsmarkt, dass, wenn mehr verkauft wird, dadurch der Preis für die Einzel-Leistungen nicht wirklich sinkt, also das Phänomen Economies of Scale oder eben Menge- und dann Preissenkung, das funktioniert ja so nicht. Wir haben dadurch, dass wir sehr viele Versorger haben, sehr viele Ärzte haben, natürlich auch eine angebotsinduzierte Nachfrage, und ganz klar steuert der Arzt und steuern die Pharmareferenten, steuern Apotheker natürlich auch den Konsum mit, und da muss man etwas dagegen tun als, sage ich mal, Systemmanager, als Gesundheitspolitiker, als gemeinsamer Bundesausschuss auch, wenn man das System für alle zugänglich und finanzierbar gestalten möchte und bewahren möchte.

    Heuer: Wer macht es besser?

    Schlette: Zum Beispiel die Engländer, die in den nächsten zehn Jahren Gelder aus der stationären Versorgung umschichten ganz bewusst in Richtung Primärversorgung, das ist also der, wenn man so will, niedergelassene oder ambulante Bereich, und dort findet dann eben auch die vernünftige und personenbezogene Betreuung und auch nachgehende Betreuung von chronisch Erkrankten statt.

    Heuer: Frau Schlette, die Einnahmeseite, da hat die große Koalition ein neues Instrument erfunden, den Gesundheitsfonds, und die Kritiker sagen, das sei einfach nur eine Zunahme an Bürokratie. Richtiger Einwand, und auch hier die Frage, gibt es ein Land, das Ihnen einfällt, das es besser macht?

    Schlette: Zunächst einmal denke ich nicht, dass der bürokratische Aufwand durch eine zentrale Einzugsstelle erhöht wird. Wir haben jetzt so viele Einzugsstellen, wie wir Krankenkassen haben, also ich denke, dass das erst mal kein wirklicher Einwand ist. Die Länder, die das besser machen, wenn wir jetzt die Ausgaben und den Gesundheitsstatus oder Gesundheitsindikatoren betrachten, sind interessanterweise schon alle die Länder, die das haben, was hier als Schreckgespenst des Einheitssystems oder des Staatssystems herumgeistert, denn die Länder, die ähnlich wie wir korporatistisch organisiert sind und mit Sozialversicherungssystemen operieren, sind alle entweder fast genau so teuer wie Deutschland, also Frankreich zum Beispiel, oder sehr viel teurer, in der Schweiz, wo es nur private Versicherungen gibt, ist das der Fall. Also da muss man dann schon gucken, wo gibt es sehr gute Versorgung zu einem günstigeren Preis, ich sage da mal Finnland, auch Spanien, und da kann man sich einiges abschneiden, das kann man aber jetzt in der Kürze der Zeit nicht alles im Detail erklären.

    Heuer: Ich habe gelernt, Frau Schlette, dass die Bertelsmann-Stiftung in ihren halbjährlichen Befragungen unter anderem bei Versicherten herausgefunden hat, dass die deutschen Patienten durchaus einverstanden wären mit einer Grundversorgung durch das Gesundheitssystem und dann bereit wären, Zusatzversicherungen abzuschließen. Das würde die Kosten etwas senken, das würde das System etwas vereinfachen. Wenn die Bürger dafür sind, warum macht die Politik das nicht?

    Schlette: Das macht sie doch. Wir haben doch jetzt schon beschlossen, dass bestimmte Leistungen, die krankenvesicherungsfremd sind wie Krankentagegelder und so weiter aus Steuern zu finanzieren sind. Da werden schon Eingriffe gemacht. Es gibt allerdings einen Konsens in der Gesellschaft und auch in der Politik, dass es das medizinisch Notwendige für alle Beteiligten geben wird und auch geben muss. Das können Sie auch mit Grundversorgung übersetzen, nichts anderes steht im Sozialgesetzbuch drin, und wenn man dann weitere Einschnitte vornehmen will oder sagt, dass man das sollte, dann muss man schon sagen, wer das machen sollte und wer entscheiden soll, dass ein Skiunfall oder diese bekannten Beispiele, ein Lungenkrebs oder was auch immer selbstverschuldet sind. Krankheiten sind irgendwie immer Unfälle, und das sind Unvorhersehbarkeiten, und genau dafür braucht man eine Krankenversicherung. Also ich halte es für sehr schwierig und auch ethisch sehr problematisch, da von den medizinisch notwendigen Leistungen herunterzugehen. Eine andere Sache ist, ob man jedes neue Gerät einsetzen muss, ob jedes neue Präparat besser ist als das, was eben auch schon erprobtermaßen und erwiesenermaßen sehr wirksam in den Behandlungen funktioniert.

    Heuer: Also unterm Strich, Frau Schlette, so schlecht, wie die Gesundheitsreform betrachtet wird, so negativ, wie sie betrachtet wird von den Kritikern und auch von vielen Bürgern, ist sie gar nicht?

    Schlette: Das stimmt, das würde ich auf jeden Fall so sagen, und immer nochmal mit dem dicken Vorbehalt, noch ist nicht aller Tage Abend, und es gibt eine Vereinbarung. Es ist auch klar, welche Seite für welche Positionen steht, und was auszuhandeln war, ist ausgehandelt worden. Trotzdem haben wir immer noch eben keinen abschließenden Gesetzentwurf vorliegen, und da wird man sehen, was sich im Sommer vielleicht noch hinter verschlossener Tür so tut. Insgesamt bin ich aber zuversichtlich, dass das schon der richtige Weg ist.