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"Wir haben offen mit unserem Gegenüber gesprochen"

Die DDR der 80er-Jahre hat Hans Otto Bräutigam auf der politischen und diplomatischen Ebene genau mitverfolgt: Von 1982 bis 88 war er Chefdiplomat der Bundesrepublik im anderen Deutschland. Die Ständige Vertretung sei ein Ort der Begegnung gewesen, so Bräutigam. Sein Bild der DDR habe sich im Laufe der Zeit verändert, besonders das Kulturleben habe in einigen Bereichen ein sehr hohes Niveau gehabt.

Hans Otto Bräutigam im Gespräch mit Dirk Müller | 19.03.2009
    O-Ton Erich Honecker: Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben.

    O-Ton Egon Krenz: Und der Schulterschluss mit der Sowjetunion, die Einheit im Denken und Handeln mit unseren sowjetischen Freunden, sie macht uns stark.

    O-Ton Günter Schabowski: Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.

    Dirk Müller: Erich Honecker, Egon Krenz, Günter Schabowski in der DDR der 80er-Jahre. Hautnah miterlebt auf der politischen, diplomatischen Ebene hat die DDR Hans Otto Bräutigam, von 1982 bis 88 Chefdiplomat der Bundesrepublik im anderen Deutschland. In seinem neuen Buch "Ständige Vertretung - Meine Jahre in Ost-Berlin" blickt Hans Otto Bräutigam zurück auf die Zeit der Biermann-Ausbürgerung, auf seine Begegnungen mit den DDR-Bürgern, auf die sensiblen politischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden deutschen Staaten, der Blick auf die Ständige Vertretung als einen seltsamen, nahezu sagenhaften Ort, wo sich die Schwierigkeiten der deutsch-deutschen Verhältnisse spiegelten. Guten Morgen, Herr Bräutigam.

    Hans Otto Bräutigam: Guten Morgen.

    Müller: Mit wem haben Sie in Ost-Berlin denn am liebsten gesprochen?

    Bräutigam: Mit den ganz normalen einfachen DDR-Bürgern, die nicht prominent oder bekannt waren. Wir haben nicht nur mit den SED-Funktionären und den Staatsfunktionären gesprochen, das allerdings auch und das war für die Politik natürlich ganz unverzichtbar, aber wir interessierten uns für die Menschen im Lande und die haben wir häufig im Rahmen der Kirche getroffen. Da war jeder gleich.

    Müller: Wie lief denn die Kommunikation mit den Politgrößen?

    Bräutigam: Im Laufe der Jahre wurde das offener und es war uns möglich, auch Gespräche (zum Teil unter vier Augen) mit Politbüro-Mitgliedern zu führen. Die kamen zum Beispiel zu dem Verfassungstag der Bundesrepublik im Mai und dort trafen sie mit ganz normalen DDR-Bürgern zusammen, die ihre Führung aus der Nähe so nirgendwo anders trafen.

    Müller: Und die dann auch reinen Wein eingeschenkt haben in der Ständigen Vertretung?

    Bräutigam: Das würde ich nicht sagen, so waren die Verhältnisse nicht. Aber es war auch ein Ort der Begegnung zwischen West und Ost, was damals wichtig war.

    Müller: Wie hat sich denn Ihr DDR-Bild verändert in den Jahren der politischen Tätigkeit dort?

    Bräutigam: Ich kam mit sozusagen einigen theoretischen Kenntnissen 1974 in die DDR. Eine konkrete Vorstellung von dem Leben dort hatte ich nicht. Im Laufe der Jahre habe ich ein sehr viel differenziertes Bild bekommen, wenn ich zum Beispiel an das Kulturleben denke, das in manchen Bereichen wirklich ein sehr hohes Niveau hatte, für mich spannend und interessant, dies kennen zu lernen, oder wenn ich zum Beispiel denke an das Gemeinschaftsgefühl in den Kirchengemeinden, aber auch eine Solidarität in der Gesellschaft, in den kleinen Gruppen, wie wir das im Westen gar nicht kannten - eine Solidarität deshalb, weil die Menschen auf gegenseitige Unterstützung angewiesen waren.

    Müller: Wussten Sie denn von Beginn an, dass jedes Gespräch, was Sie tätigten, jedes Gespräch, was Sie persönlich auch geführt haben in der Ständigen Vertretung, direkt aufgezeichnet wird, abgehört wird, dass es weiterverwendet wird?

    Bräutigam: Davon sind wir ausgegangen. Wir wussten, dass das so war, und haben uns trotzdem nicht irritieren lassen. Wir haben offen mit unserem Gegenüber gesprochen, sei es auf der politischen Ebene oder auch gegenüber den vielen Besuchern, die in die Ständige Vertretung kamen. Übrigens in den fast 16 Jahren waren es nach meiner Schätzung über 100.000, die in die Vertretung gekommen sind, die meisten, um um Unterstützung ihrer Ausreiseanträge zu bitten.

    Müller: Sie haben eben auf die Frage geantwortet, Sie wussten von Beginn an, dass Sie abgehört werden. Jetzt liest man in Ihrem Buch von den Begegnungen auf dem Dorotheen-Friedhof. Da hat es beispielsweise ein zufälliges Treffen mit Biermann gegeben. Was konnten Sie mit ihm sprechen?

    Bräutigam: Dies war nur eine kurze Begegnung. Gaus, damals der Leiter der Vertretung, kannte ihn besser als ich. Er saß auf einer Bank gegenüber dem berühmten Luther-Denkmal auf dem städtischen Dorotheen-Friedhof. Gaus und ich wollten ein paar Dinge besprechen, wo wir unter uns sein wollten, und da glaubten wir, dass das auf dem Friedhof jedenfalls am besten möglich ist. Biermann erkannte uns. Er stand auf, breitete seine Arme aus und rief, "der Klassenfeind", in einem Ton, dass wir verstanden, ihr seid uns willkommen.

    Müller: Dezember 1981, das war das Treffen zwischen Helmut Schmidt und Erich Honecker. Hatten Sie da im Vorfeld, in den Tagen, in den Wochen zuvor mächtige Bauchschmerzen gehabt?

    Bräutigam: Wir hatten eine große Sorge: das war das Polen-Problem - das heißt, es war die Solidarnosc-Krise - und es drohte eine sowjetische Intervention und wir merkten, dass die DDR außerordentlich nervös war, dass sie in diesen Konflikt mit Polen hereingezogen würde. Sie hatte keinerlei Sympathien für die Solidarnosc und sie fürchtete, dass eben sozusagen diese Streikbewegung auf Ost-Deutschland, auf das eigene Land, die DDR übergreifen könnte, und das auch noch zu einem Zeitpunkt, wo der Bundeskanzler möglicherweise in der DDR war. Und tatsächlich ist ja an dem dritten Tag des Treffens am Werbellinsee in Warschau das Kriegsrecht verkündet worden, ein Ausnahmezustand, und die Führer der Solidarnosc wurden in Lager gebracht. In dem Augenblick dachten wir, oh Gott. Die Weichen waren in den vorangehenden Tagen gestellt worden, große Fortschritte gab es nicht, es war schon viel, dass wir von Kontinuität in den Beziehungen ausgehen konnten, und da passierte dieser Ausnahmezustand.

    Müller: Der Diplomat muss ja, Herr Bräutigam, auf alles achten, also nicht nur auf die große Politik, auf die internationale Politik, sondern auch auf die Kleinigkeiten, auf das Protokoll, auf die Kleidung. Bei Ihnen im Buch ist jetzt zu lesen, Honecker trug bei diesem Treffen damals, Dezember 81, die Pelzmütze und der Bundeskanzler, Helmut Schmidt, trug die Hamburger Prinz-Heinrich-Mütze. Inwieweit hat Sie das erleichtert?

    Bräutigam: Ich muss gestehen, dass ich damals darüber gelacht habe. Etwas später habe ich erfahren, dass die DDR den allergrößten Wert darauf legte, dass Honecker nicht einen normalen Hut trug, den man dann üblicherweise zieht, wenn ein Gast kommt. Diese Geste wollte man vermeiden und deswegen trug er die Pelzmütze und nach dem Protokoll im Osten Europas wurden Pelzmützen nicht zum Gruß abgezogen, sondern man behielt sie auf. Das wussten wir nicht, aber ich dachte, als ich das Bild sah, Honecker mit der Pelzmütze, Helmut Schmidt mit der Prinz-Heinrich-Mütze, die früher sozusagen auch in der kaiserlichen Marine getragen worden war, ich fand das einen Grat von Informalität, der mich eigentlich amüsiert hat und den ich als ein ganz gutes Omen empfunden habe.

    Müller: Niemand wie Sie, Herr Bräutigam, kannte ja die DDR aus der westlichen Perspektive so gut, so hautnah. Dann sind Sie 1988, 1989, also kurz vor dem Mauerfall, gegangen. Sie haben Ost-Berlin verlassen, Sie sind Botschafter in New York geworden. Hat Sie das geärgert, geschmerzt in irgendeiner Form, dann bei der Umbruchphase nicht dabei zu sein?

    Bräutigam: Ja, das hat es sehr. Aber die Initiative zu dieser Veränderung ging ursprünglich von mir aus, Anfang der 80er-Jahre. Ich hatte das Gefühl, es ist Zeit, mal etwas anderes zu machen. Aber als der Zeitpunkt näher rückte, Ende 88, da wurde mir klar, die DDR rutscht in eine Krise und diese Krise kann sehr, sehr gefährlich werden und kann auch wieder zu größeren Schwierigkeiten zwischen den beiden deutschen Staaten führen, und ich dachte mir, das ist nicht der Zeitpunkt, wo du dich verabschieden solltest. Aber es war entschieden. Als ich dann aber die friedliche Revolution oder den Ausbruch der friedlichen Revolution in New York erlebte, war ich einerseits unglaublich beeindruckt. Ich hatte mir das so gar nicht vorstellen können. Ich war ein bisschen traurig, dass ich das nicht aus der Nähe erleben konnte.

    Müller: Hans Otto Bräutigam bei uns im Deutschlandfunk, von 1982 bis 88 Chefdiplomat der Bundesrepublik in Ost-Berlin.